Luzernerin erzählt von ihrem Alltag

Die blinde Melanie Lötscher: «Ich träume in Bildern»

«Wenn ich das Haus verlasse, ist das mit einer enormen Konzentration verbunden, die ich aufbringen muss», sagt uns Melanie Lötscher. (Bild: Marjana Ensmenger)

Die 29-jährige Luzernerin ist von Geburt an fast komplett blind – trotzdem geht sie einem mehr oder weniger normalen Leben nach. Melanie Lötscher arbeitet, kocht und bastelt. Damit sie ihren Alltag möglichst unabhängig bewältigen kann, setzt sie unter anderem auf ein modernes Hilfsmittel.

Es gibt sicher dunklere Zuhause in Luzern als die Zweizimmerwohnung von Melanie Lötscher. Die 29-jährige Luzernerin bewegt sich mit der Intuition einer Fledermaus in der Luft durch ihre eigene Wohnung. Auf der linken Seite: die Küche mit einem kleinen Esstisch. Dann kommt das Wohnzimmer mit einem Sofa und drei grossen Wanduhren. Rechts geht’s ins Bad und ins Schlafzimmer.

In der Wohnung eines blinden Menschen haben die Dinge einen doppelten Sinn. Einerseits sind sie zum Benutzen da, das Sofa zum Sitzen, die Küche zum Kochen. Aber sie sind eben auch Vektoren eines unsichtbaren Koordinatensystems. Melanie Lötscher weiss nämlich genau, was wo in dieser Wohnung steht.

«Was ich nicht sehe, versuche ich zu ertasten oder zu hören – ähnlich wie es Fledermäuse mit ihrem Sonar tun.»

Melanie Lötscher

Die Luzernerin wohnt seit knapp drei Jahren in der Zweizimmerwohnung in der Nähe des Luzerner Kantonsspitals. Davor hat sie lange Zeit im Blindenheim in Horw gelebt, wo man ihr unter anderem beibrachte, zu kochen oder wie Karotten geschnitten werden. Irgendwann war für Lötscher jedoch klar, dass sie möglichst ohne Begleitung leben möchte. Und obwohl sie sich bewusst für ein selbstständigeres Leben entschieden hat, gleichen ihre Tage teilweise einem riesigen Abenteuer.

Die moderne Technik hilft ihr enorm

Melanie Lötscher arbeitet an fünf Tagen pro Woche in der Buchhaltungsabteilung der Stiftung Rodtegg in einem 70-Prozent-Pensum. Jeweils einmal in der Woche erhält sie Unterstützung von einer sogenannten Assistentin, die ihr beim Ausfüllen von Formularen, dem Einkauf oder beim Staubsaugen hilft. An den restlichen Tagen ist Lötscher auf sich alleine gestellt. Heisst: Sie geht mit dem Blindenstock selbstständig zur Arbeit, trifft sich mit Freunden oder setzt sich auf den Balkon und lauscht den Vögeln des angrenzenden Waldes.

Bei der Luzernerin wurde bereits als Kind eine Sehbehinderung festgestellt, die irreparabel war. Bis heute kann sie nur rund 1 Prozent hell/dunkel sehen. Das Sehvermögen ist aber zu wenig, um dieses als Sehen zu bezeichnen. Deshalb gehört sie zur Blindenwelt und nicht mehr zu den Sehbehinderten. «Was ich nicht sehe, versuche ich zu ertasten oder zu hören – ähnlich wie es Fledermäuse mit ihrem Sonar tun», erklärt sie.

Die blinde Melanie Lötscher: «Ich träume in Bildern»
Melanie Lötscher liest mithilfe einer Kamera die Texte auf den Verpackungen. (Bild: Marjana Ensmenger) (Bild: Marjana Ensmenger)

Neben dem Tast- und Hörsinn setzt Melanie Lötscher auch auf eine fingergrosse Kamera des israelischen Techunternehmens OrCam. Diese erkennt mit Hilfe von künstlicher Intelligenz unter anderem Texte und liest diese vor. Eine Funktion, die die 29-Jährige regelmässig nutzt: «Ich habe kürzlich eine falsche Lebensmittellieferung erhalten. Mit der OrCam konnte ich die korrekte Empfängerin ermitteln.»

Der Traum, mehr Sport machen zu können

Es wäre falsch, zu glauben, die Sehbehinderung hätte ihr nicht im Weg gestanden, «in der Vergangenheit habe ich oft schlechte Erfahrungen gemacht, was beispielsweise sportliche Aktivitäten mit anderen Menschen betrifft». Das führte dann auch dazu, dass sie sich teilweise ausgeschlossen fühlte. Lötscher hat einen Bruder, der nicht sehbehindert ist. Als ihr Bruder im Teenageralter in die Badi ging, haben ihre Eltern zu Hause einen kleinen Pool aufgestellt, damit ihre Tochter darin baden konnte. Das habe dazu geführt, dass sie sich heute nicht immer getraut, nach Hilfe zu fragen.

«Manche Menschen nehmen es mit Humor, wenn wir zusammenprallen, andere haben mir gegenüber aber auch schon ihren Missmut kundgetan und mich angeschnauzt.»

Melanie Lötscher

Anders als Sehende ist Lötscher stark davon abhängig, wo sie ihre Begleitung hinführt und wie stark das Vertrauen zwischen den beiden ist. Auch wenn ihre heutige Assistentin nichts dafürkann, zögert Lötscher aufgrund von negativen Erfahrungen bis heute damit, Sport zu machen. Die Joggingschuhe zu packen und einfach drauflos zu rennen, das wünschte sie sich an manchen Tagen. Denn, wenn sie das Haus verlässt, ist das mit einem grossen Aufwand verbunden. «Die Menschen dürfen wissen, wie anstrengend es ist, das Haus zu verlassen. Ich muss dann praktisch immer jemanden mitnehmen.»

Ab und zu reagieren Passanten mit Missmut

Immer mit dabei ist auch ihr Blindenstock. «Wenn immer ich das Haus verlasse, ist das mit einer enormen Konzentration verbunden, die ich aufbringen muss.» Ab und zu kam es aber auch schon vor, dass die Konzentration nicht ausreichte und Lötscher in Passanten hineingelaufen ist. «Manche Menschen nehmen es mit Humor, wenn wir zusammenprallen, andere haben mir gegenüber aber auch schon ihren Missmut kundgetan und mich angeschnauzt», sagt sie.

Dieses Gefühl nach Sicherheit und einem selbstständigen Leben hat vor sechs Jahren dazu geführt, dass sie sich bewusst auf eine sichere Anstellung in der Stiftung Rodtegg beworben hat. Denn obwohl viele Menschen Verständnis hätten für Lötschers Blindheit, gibt es bis heute dennoch zu wenig Arbeitsplätze, die die richtigen Programme für Blinde besitzen, die ihr eine normale Arbeit ermöglichen würden.

Krisen und andere Herausforderungen

Dass sie offenbar anders zu sein schien als ihre gleichaltrigen Kollegen, hatte sie im Jahr 2011 während ihres Vorbereitungsjahrs für die normale Handelsschule in eine tiefere Krise gestürzt. «Einerseits habe ich mir selber Druck gemacht, die Schule zu bestehen, andererseits kam der Druck aber auch von den Lehrpersonen, weil sie nicht darauf ausgebildet waren, eine Blinde nach ihren Möglichkeiten zu unterrichten. Allen Krisen zum Trotz hat Lötscher die Handelsschule dann im Jahr 2015 erfolgreich abgeschlossen. 

Seit dieser Krise im Jahr 2011 besucht sie regelmässig einen Psychologen, der ihr dabei hilft, das Leben zu meistern. Genauso wichtig sind ihr aber bis heute ihre Eltern oder die sehbehinderten oder blinden Freunde. Normal sehende Freunde hat Lötscher keine. Auch das hat seinen Grund. «Wenn ich normal sehende Freunde hätte, würde ich viel mehr Energie benötigen, um diese Freundschaft aufrechtzuhalten. Das dürfen Sie ruhig protokollieren», sagt Lötscher.

Am wohlsten fühlt sich Lötscher im Haus der Eltern, weil sie dort so richtig abschalten und Energie für die kommende Woche tanken kann. Und weil es dort so herrlich ruhig ist, anders als in ihrer Wohnung. In ihrem Elternhaus kommt es dann auch oft vor, dass sie auf am Laptop Autorennen fährt – mit einer speziell angefertigten Kamera. Und ihren Freunden erzählt die Luzernerin dann auch oft von ihren nächtlichen Träumen, denn diese sieht Lötscher trotz ihrer Sehbehinderung in Bildern sehr deutlich. «Dann müssen meine Freunde auch mal eine halbe Stunde zuhören, weil ich ihnen sehr detailliert von meinem Traum erzähle», sagt Lötscher. Und solche Träume hat Lötscher viele – auch wenn sie nicht sehen kann.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Melanie Lötscher in Horw
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