Nicht immer geht es beim Friedensrichter um Geld

Der Luzerner Richter, dem egal ist, wer Recht hat

Hanspeter Herger im «schönen Saal», in dem er grössere Friedensverhandlungen führt.

(Bild: jal)

Erbschaftsstreit oder eine unbezahlte Rechnung: Wer in Luzern auf dem Gerichtsweg Geld einfordert, kommt nicht an Hanspeter Herger vorbei. Der Friedensrichter versucht, Kompromisse zu finden und so Prozesse zu vermeiden. Wer Recht hat, spielt dabei keine Rolle. Oft staunt er selbst, worüber Menschen streiten.

Eine Frau mit Aktentasche nimmt schwer atmend auf einem Stuhl im zweiten Stock des Luzerner Bezirkgsgerichtsgebäudes Platz und packt ein dickes Bündel Papier aus. Ihr gegenüber setzt sich ein Mann, um die 50, und legt ein Mäppli und sein Handy auf den Tisch. Die beiden schauen hinüber zu Hanspeter Herger, der durch seine Brille einen kurzen Blick auf den Computermonitor wirft und dann sagt: «Willkommen zur Schlichtungsverhandlung.»

Hanspeter Herger ist Friedensrichter in Luzern. An diesem Tag begrüsst er die Vertreterin eines Inkassobüros und einen Luzerner, der seine Kreditkartenrechnung nicht zahlte. Bevor sie vor Gericht gehen können, müssen sie bei Herger antraben. Er probiert, beide Seiten zu einem Kompromiss zu bringen – falls ein solcher scheitert, erteilt er die Bewilligung, vor dem Gericht Klage zu erheben (siehe Box).

Früher hatte jede Gemeinde ihre eigene Schlichtungsstelle, seit 2011 gibt es im Kanton Luzern noch zwei Friedensrichter und zwei Friedensrichterinnen. Bei Herger, für die Stadt Luzern zuständig, landen jährlich rund 320 Fälle. Fast immer geht es um Geld – von 33 Franken bis zu 540 Millionen Franken hatte er schon alles.

Zwischen Tränen und Kränkungen

Auch an diesem Tag dreht sich der Streit um eine offene Rechnung von 8’069 Franken, wie die Vertreterin des Inkassobüros gespickt mit Fachbegriffen erläutert. Der Beschuldigte beteuert hingegen, dass er nicht alles gekauft habe, was ihm verrechnet wurde – etwa ein Flug nach Brasilien. «Da war ich ja in der Schweiz», sagt er.

Weil die Kreditkartenfirma die Hintergründe abklären musste, habe er den offenen Betrag nicht beglichen. Doch die Inkasso-Frau glaubt ihm nicht, es fehle an Beweisen. Beide Seiten können ihren Standpunkt erläutern. Herger hört zu, lässt ausreden und schreitet ein, wenn die Gegenseite dazwischenfunkt.

Der Beschuldigte nestelt in den Blättern vor ihm, provozieren aber lässt er sich nicht. Die Situation ist ruhig. Beim Friedensrichter kann es aber auch mal laut und emotional werden. Tränen fliessen, oder es haut mal einer auf den Tisch – zweimal musste Herger in seinen sechs Jahren als Friedensrichter eine Verhandlung deswegen abbrechen.

Auch gegenseitige Kränkungen bekommt er oft zu hören, denen gibt er aber möglichst wenig Raum. «Die bringen wenig im Hinblick auf eine pragmatische Lösung.» Ausnahme: Erbschafts- und Nachbarschaftsstreitigkeiten, wo sich die Kontrahenten immer wieder begegnen. «Dann kann es zielführend sein, wenn Emotionen und Verletzungen mal raus sind und geklärt werden.»

«Es ist manchmal wie auf einem Bazar, und genau das gefällt mir.»

Hanspeter Herger, Friedensrichter Luzern

Der 61-jährige Luzerner führt im Durchschnitt drei Verhandlungen pro Tag. Nur ein Viertel davon gelangt später tatsächlich vor Gericht. Herger und seine drei Amtskollegen ersparen den Richtern damit viel Arbeit und den Beteiligten teure Prozesse.

Der letzte Gang vor dem Gericht

Im Kanton Luzern sind vier Friedensrichter tätig – in Luzern, Kriens, Hochdorf und Willisau. Dazu kommt eine Schlichtungsbehörde Miete und Pacht, die sich nur um jene Themen kümmert. Zum Friedensrichter kommt, wer in einen zivilgerichtlichen Streit verwickelt ist – das reicht von Geldforderungen über Werkverträge bis hin zu Erbschafts- und Nachbarschaftsstreitigkeiten. Juristisch gesehen handelt es sich oft um Bagatellfälle, in der Regel geht es um einen Streitwert von ein paar hundert bis ein paar tausend Franken. Ab 100'000 Franken Streitwert können die Parteien auf eine Schlichtung verzichten. Oft wird trotzdem der letzte, noch aussergerichtliche Versuch über den Friedensrichter verlangt.

Bis 2000 Franken kann der Friedensrichter selbst entscheiden, bis 5000 Franken kann er einen Urteilsvorschlag machen. Alles darüber hinaus wird von den Parteien verhandelt und endet entweder in einer Einigung oder einer Klagebewilligung. Nur knapp ein Viertel aller Fälle landet letztlich beim Gericht. 2017 fanden die Beteiligten in 75,7 Prozent aller Fälle einen Kompromiss, liessen ihr Anliegen fallen oder bereinigten es anderweitig. Eine Verhandlung vor dem Friedensrichter kostet zwischen 200 und 2000 Franken, abhängig vom Streitwert, und wird in der Regel innert zwei Monaten erledigt.

Nach einer halben Stunde hat er genug gehört und fasst die Geschichte zusammen. Und fragt die Frau vom Inkassobüro: «Welchen Vorschlag machen Sie?» Sie besteht auf einem weiterlaufenden Zins von zwölf Prozent. Der Beschuldigte schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen. Er lebe am Existenzminimum, verdiene rund 3000 Franken monatlich und könne höchstens 100 Franken pro Monat in Raten zahlen, da er noch weitere Schulden abstottern muss. Herger erklärt der Frau, dass sie mit dem geforderten Zins vor Gericht nicht durchkomme. Er ist zwar nicht Jurist, doch inzwischen kennt er die nötigen Paragrafen und wegweisenden Gerichtsurteile.

«Ich schaue manchmal, wer in der Verhandlung der Schwächere ist, und sorge dafür, dass dieser nicht unfair behandelt wird», wird er nachher sagen. «Aber das hat nichts mit Politik zu tun, sondern das ist einfach meine Art.» Herger sass zwölf Jahre für die SP im Emmer Einwohnerrat und war Parteipräsident. Wie in der Justiz üblich, kommt man ohne Partei im Rücken kaum auf den Friedensrichterposten. Seine politische Haltung habe jedoch keinen Einfluss auf seine Arbeit, versichert Herger. 

Nur noch leise schimpfen

Der zweifache Familienvater blickt in die beiden Gesichter, wartet kurz und sagt: «Ich schlage vor, wir einigen uns auf 7000 Franken.» Stille, die beiden Kontrahenten scheinen zu überlegen.

«Es ist manchmal wie auf einem Bazar, und genau das gefällt mir», sagt Hanspeter Herger. Obwohl er Teil der Justiz ist, geht es beim Friedensrichteramt nicht darum, wer Recht hat. Sondern um die Frage, wie viel Energie, Geld und Risiko man für ein Verfahren aufwenden will. Gerichtsgebühren, Anwaltskosten – das summiert sich schnell mal auf ein paar tausend Franken. «Das ist oft mehr, als man bei einem Kompromiss abschreiben muss.»

Hier wird gefeilscht: Das Zimmer für Schlichtungsverhandlungen am Bezirksgericht in der Luzerner Altstadt.

Hier wird gefeilscht: Das Zimmer für Schlichtungsverhandlungen am Bezirksgericht in der Luzerner Altstadt.

(Bild: jal)

Das sehen auch die Beteiligten im vorliegenden Fall ein. Am Ende einigen sie sich auf 7200 Franken und fünf Prozent Zins, der Beschuldigte bekommt noch die Schlichtungskosten von 280 Franken aufgebrummt. Wie viel er letztlich abstottern muss, entscheidet nun das Betreibungsamt, denn es wird ein Verlustschein ausgestellt. «Vielleicht gewinne ich ja im Euromillions», sagt er. Herger tippt auf seiner Tastatur, holt den Ausdruck und lässt beide unterschreiben. Erledigt.

Ein fairer Deal? Herger schmunzelt. «Hier ist meine Meinung nicht gefragt.» Die Einigung werde von den Parteien ausgehandelt. Er sei nur der Dompteur, darum bemüht, dass die Streithähne aufeinander zugingen. «Als Friedensrichter steigt man in eine Rolle.» Was am Ende herauskomme, müsse ihm nicht gefallen. Herger hatte zum Beispiel mal zwei Nachbarn, die sich entschieden, dass die Hecke zwischen ihren Grundstücken auf eine Seite hin kahlgeschoren wird. «Das ist doch wüst anzusehen!», sagt er. «Doch es war ihre Lösung.»

Ein anderes Mal verlangte eine Frau eine Genugtuung, weil eine andere sie in den Rücken gestossen hat. «Rechtlich hätte sie damit keine Chance, doch die Beschuldigte zahlte lieber 500 Franken, als vor Gericht zu gehen.» Herger schmunzelt; es sind oft die kauzigen Angelegenheiten, die ihm in Erinnerung bleiben. Wie jene des psychisch verwirrten Mannes, der im Bus regelmässig und lauthals eine Frau beschimpfte – am Ende einigten sie sich darauf, dass er das in Zukunft nur noch leise macht.

Der Kern eines Kompromisses

Bereits ist der nächste Fall an der Reihe: Ein Luzerner Restaurant hat für 3’000 Franken Rehrücken, Steinpilze und weitere Waren bestellt, aber nicht bezahlt. Sich gross in die Akten einlesen tut Herger nicht. «Beim Zuhören merke ich jeweils schnell, wo der Schuh drückt.» In diesem Fall steht die Gastro-GmbH kurz vor dem Konkurs. Ihr Vertreter entschuldigt sich für die offene Rechnung, doch habe er das Restaurant nicht selber geführt, sondern nur im Hintergrund agiert. «Der Betreiber hat mir einen Schuldenberg hinterlassen. Wir haben schlicht kein Geld, um zu zahlen.» Die Buchhalterin des Lieferanten schüttelt den Kopf und kritisiert, dass er ihr das auch mal am Telefon hätte mitteilen können.

«Ob die Geschichte stimmt, ist nicht von Belang.»

«Man muss zuhören und eine Lösung vorantreiben. Ob die Geschichte stimmt, ist nicht von Belang», sagt Herger. Als Vermittler staunt er oft, worüber Menschen streiten können. Sein Alltag: ein Kaleidoskop des menschlichen Zusammenlebens. Dabei beobachte er, dass viele Menschen Probleme vor sich herschöben statt einen eigenen Fehler einzugestehen. Wenn er denn einen Tipp geben müsste, wie man gut streitet, wäre es dieser: die eigene Position mal hinterfragen und sich in das Gegenüber hineinversetzen.

Der Gastrounternehmer ist derweil bereit, 400 Franken zu bezahlen, als Friedensangebot. Es ist ein Bruchteil des geschuldeten Betrags, doch den hat die Lieferantin offenbar bereits abgeschrieben. Herger schlägt als Kompromiss 760 Franken vor. «Ich muss das aus dem eigenen Sack bezahlen», moniert der Restaurantbesitzer. Nach einigem Hin und Her einigen sich die beiden Seiten auf 530 Franken. Glücklich ist niemand.

Ausser Hanspeter Herger, der einen Fall mehr erledigt hat. Und mit einem Lachen im Gesicht sagt: «Wenn beide Seiten unzufrieden sind, hat man einen guten Kompromiss.»

Die Verhandlung fand am Montag vor dem Bezirksgericht Luzern statt.

Die Verhandlungen des Luzerner Friedensrichters finden beim Bezirksgericht an der Grabenstrasse statt.

(Bild: giw)

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