Depression der Jugend – Symptom eines kranken Systems
Die Schweiz, eine kränkelnde Nation. Besonders die Jugend ist betroffen von steigendem Unwohlsein und psychischen Problemen. Wir haben mit einem Experten der Hochschule Luzern darüber gesprochen – und sind beim Umsturz des Kapitalismus gelandet.
Dass die Jugend immer stärker mit psychischen Problemen kämpft, ist ein viel diskutiertes Thema. Der Soziologe Martin Hafen beschäftigt sich in seiner Arbeit sowohl mit der Jugend als auch mit der soziologischen Systemtheorie. Er wehrt sich dagegen, die Jugend als Problem zu begreifen, sondern sieht diese als Spiegel unserer Zeit und ihrer Probleme (zentralplus berichtete).
zentralplus: Eine aktuelle Studie der CSS zeichnet das Bild einer kränkelnden Nation (zentralplus berichtete). Besonders bei jungen Erwachsenen sind Krankheiten und Unwohlsein in psychischer Hinsicht stark gestiegen. Wie kommt das?
Martin Hafen: Natürlich hat die Pandemie einen Einfluss darauf gehabt. Die Angst vor ständiger Ansteckung schlägt auf die Psyche. Auch Isolation tut den Menschen nicht gut. Das ist kein Plädoyer gegen den Lockdown, es gibt gute Argumente dafür. Fakt ist, dass die Psyche der Menschen unter sozialer Abgeschnittenheit leidet.
zentralplus: Welche anderen Entwicklungen führen bei der Jugend zu psychischen Problemen?
Hafen: Vielfältige. Der Schlüsselmechanismus jedoch ist Stress. Wenn Stress chronisch auftritt, kann er Depressionen, Aggressionen, eine ganze Reihe psychischer Krankheiten auslösen. Also müssen wir uns anschauen, was die chronischen Stressauslöser unserer Zeit sind.
«Die junge Generation heute ist die erste, die nicht damit rechnen kann, es besser zu haben als ihre Eltern.»
zentralplus: 32 Prozent der jungen Erwachsenen nennen «fehlende Perspektiven» als Grund für Stress. Wie kann das sein?
Hafen: Die Perspektiven unserer Welt sind nicht rosig. Uns bedrohen der Klimawandel, Kriege, Pandemien, bröckelnde Demokratien, die zunehmende soziale Ungleichheit. Das alles ergibt ein defizitäres Zukunftsbild. Und dann werden wir ständig von den Massenmedien mit Horrormeldungen berieselt. Logisch stresst das. Man sagt, dass heute ganze 36 Prozent der Jugendlichen psychische Probleme haben. 36 Prozent!
zentralplus: Dabei hat die heutige Jugend doch alles! Immer von allem zu essen, Autos, Handys, Bildungsmöglichkeiten; Jugendliche können reisen, überall studieren. Alles steht ihnen offen. So argumentieren ältere Generationen oft. Stimmt das nicht?
Hafen: Faktisch ist es nicht ganz richtig. Die junge Generation heute ist die erste, die nicht damit rechnen kann, es einst besser zu haben als ihre Eltern. Bei mir war als Jugendlicher klar, dass wir uns einmal mehr leisten können als die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen. Dass wir mehr Möglichkeiten haben würden. Heute ist das nicht mehr der Fall. Und eine Multioptionsgesellschaft bietet vieles, aber keine Stressreduktion.
zentralplus: Inwiefern?
Hafen: Erstens sind da tausende Optionen, die eben nicht allen offenstehen. Sei das aufgrund von finanziellen Möglichkeiten oder Ausbildung oder eigenen Ressourcen. Dazu kommen all die Verlockungen, all die Erfolge, die tollen Ferien, neuen Jobs und Dinge, die sich andere leisten. Noch verschärft wird das Ganze durch die sozialen Medien, in welchen wir im Sekundentakt sehen, wie erfolgreich, reich und schön man sein könnte. Dies alles an sich abprallen zu lassen ist nicht einfach (zentralplus berichtete). Ganz abgesehen von der ständigen Beschleunigung und dem Leistungsdruck.
«Wir suchen die Probleme beim Individuum, anstatt das System zu hinterfragen.»
zentralplus: Leistungsdruck ist aber nichts Neues (zentralplus berichtete). Ich höre oft den Vorwurf, die Generationen Y und Z hätten einfach zu viel Aufmerksamkeit und Wertschätzung von ihren Eltern erhalten. Werden sie dann im Job nicht verhätschelt, brechen sie unter dem Druck zusammen.
Hafen: Genau. Die «Generation Schneeflocke». Das kann man so sehen. Es stellt sich dabei aber die Frage, was für ein Bild des Zusammenlebens hinter dieser abschätzigen Haltung steckt: nämlich eines, in welchem Konkurrenz Normalität ist – und es einer Schwäche gleich kommt, darunter zu leiden.
zentralplus: Genau so ist es in unserer Welt heute. Nicht?
Hafen: In der aktuellen Gesellschaft, ja. Schaut man sich den Menschen und seine Evolutionsentwicklung an, zeigt sich jedoch, dass sich die Gesellschaft in letzten 2'000 Jahren langsam und in den vergangenen 200 Jahren sehr schnell in diese Richtung entwickelt hat. Durch den Kapitalismus.
zentralplus: Und davor?
Hafen: Die zwei Millionen Jahre vorher funktionierten Menschen unter ganz anderen Bedingungen. Man lebte in Clans und Grossfamilien, war für das Überleben aufeinander angewiesen. Die Gemeinschaft baute damals auf Gegenseitigkeit, auf Unterstützung, Kooperation und Einfühlung auf. Da kann man natürlich sagen: Das waren alles Schneeflocken. Aber dafür ist der Mensch eigentlich gemacht.
zentralplus: Oft wird argumentiert, dass wir unter dem Tempo leiden, für das wir evolutionär gesehen nicht geschaffen sind.
Hafen: Das ist so. Das Karussell dreht sich immer schneller. Alles muss besser, schneller, grösser, mehr sein. Der Wettbewerbsgedanke ist im Kapitalismus zentral. Und darin muss man sich durchsetzen – als Ich-AG auf dem Arbeitsmarkt, sogar auf dem Markt der Beziehungen. Ständig werden die Menschen bewertet – und das hauptsächlich nach ihrer Fähigkeit, möglichst viel Erwerbsarbeit zu leisten. Das ist eine Katastrophe. 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen fühlen sich schon in der Schule gestresst, die nicht auf Bildung, sondern auf Leistungsmessung basiert. Doch wir suchen die Probleme beim Individuum, anstatt das System zu hinterfragen.
zentralplus: Und doch hinterfragen es aktuell wieder mehr Mesnchern – gerade junge. Oder nehmen wir das nur so wahr?
Hafen: Nein, das stimmt. Tatsächlich wollen Jugendliche heute oft nicht mehr 100 Prozent in den Beruf einsteigen. Wofür sie oft massive Kritik ernten, die ich absolut unverständlich finde. Es ist eine Bewegung, sich vom kapitalistischen Ideal und der Leistungsgesellschaft abzukehren. Ganz so, wie es schon Versuche in den 68ern gab – doch dann kam die Versuchung.
zentralplus: Können wir der Versuchung nicht widerstehen? Es wird doch gerade aktuell so oft an die Verantwortung des Einzelnen appelliert.
Hafen: Das ist eine zu grosse Verantwortung. Es ist eine riesige Herausforderung für dieses affenähnliche Wesen, abzulehnen, wenn man ihm eine Flugreise auf die Kanaren für 200 Franken anbietet. Man muss endlich dafür sorgen, dass die Reise so viel kostet, wie sie an Ressourcen tatsächlich verbraucht.
zentralplus: Aber dann können sie sich nur noch die Reichen leisten, wäre das Gegenargument.
Hafen: Ja, das kann sein. Doch es ist kein Menschenrecht, auf die Kanaren zu fliegen. Und soziale Ungleichheit bekämpfen wir nicht, indem sich alle alles leisten können. Und noch mehr arbeiten, um mehr zu verdienen, um sich mehr leisten zu können, das geht irgendwann nicht mehr weiter. Unsere Arbeitswelt muss und wird sich verändern.
«Es wird alles Mögliche an Schrott produziert – nur damit die Leute eine Erwerbsarbeit haben.»
zentralplus: Durch die Technik tut sie das ja auch.
Hafen: Tatsächlich wird unser System durch all die Maschinen grundsätzlich immer effizienter. Der Ökonom John Maynard Keynes prognostizierte in den 1920er-Jahren deshalb für das Jahr 2000 eine Wochenarbeitszeit von nur noch 15 Stunden pro Person.
zentralplus: Doch so kam es nicht. Weshalb arbeiten wir trotz der höheren Effizienz nicht viel weniger?
Hafen: Weil wir immer noch finden, jeder und jede müsse einer Erwerbsarbeit nachgehen. Und so wird alles Mögliche an Schrott produziert – nur damit die Leute eine Erwerbsarbeit haben. Dafür wird der Schrott vermarktet, produziert, verkauft und weggeschmissen. Wenn die Nachfrage nicht da ist, dann schafft der Markt ein neues Angebot und wirbt um Nachfrage. Das führt die Gesellschaft und den Planeten zum Kollaps. Langfristig müssen wir aus diesem System aussteigen und neue Formen entwickeln.
«Wir leben ja nicht nur auf Kosten anderer Kontinente, was an sich schon schlimm genug ist, sondern auch auf Kosten der zukünftigen Generationen.»
zentralplus: Welchen Weg glauben Sie, wird die Gesellschaft einschlagen?
Hafen: Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte diese Entwicklung stoppen. Wir würden nicht mehr arbeiten müssen, sondern wollen. Arbeitsbedingungen und Löhne würden sich für die Jobs verbessern, die wir wirklich brauchen. Die anderen Jobs würden aussterben, weil sie zu den Bedingungen niemand mehr machen würde.
zentralplus: Das hört sich nach Zukunftsmusik an.
Hafen: Das glaube ich nicht. Wir wissen, was in den kommenden Jahrzehnten an Temperaturentwicklung, an Flüchtlingsströmen und Pandemien auf uns zukommt. Wir leben ja nicht nur auf Kosten anderer Kontinente, was an sich schon schlimm genug ist, sondern auch auf Kosten der zukünftigen Generationen. Uns gehen die Rohstoffe aus, doch wir sprechen wieder über die Nutzung von Atomkraft, um bloss nicht das System infrage stellen zu müssen. Und ja, in meinem Alter ist es absehbar, dass man das nicht mehr erleben wird. Doch schaut man sich die Kinder und Enkel an, wird es einem flau im Magen.
zentralplus: Das hört sich wirklich deprimierend an.
Hafen: Es braucht fundamentale Umwälzungen und die werden kommen. Die Frage ist nur, wie schmerzhaft sie werden.
- CSS Gesundheitsstudie 2022
- Persönliches Interview mit Martin Hafen