«Kuhgnadenhof» in der Zentralschweiz

Dem Schlachthof entwischt

Pascale Pineroli, auf dem Bild mit Schützling Merlo, hat mit der Nidwaldner Landwirtin Madeleine Zimmermann den Kuhgnadenhof ins Leben gerufen. (Bild: ben.)

Seit vier Jahren finden Kühe in Ennetmoos bei Stans ihr Gnadenasyl. In der Regel haben die Tiere eine längere Odyssee hinter sich oder sind aus dem Schlachthof ausgebüxt. Mittlerweile leben 35 Tiere auf dem Hof Kappellhostatt. Ein Augenschein auf einem Bauernhof, der bei vielen Landwirten immer noch für Kopfschütteln sorgt, aber bei Städtern und Kindern sehr beliebt ist.

«Entschuldigen Sie die Verspätung, aber wir mussten gerade ein Tier retten», sagt Pascale Pineroli am Bahnhof Stans zur Begrüssung. Eine Kuh sei auf dem Weg zum Schlachthof ausgerissen. Da der «Kuhgnadenhof» bereits voll belegt sei, werde das Tier ein anderes Zuhause erhalten. «Immerhin konnten wir schon einen Paten für das Tier finden», erklärt die ausgebildete Tierpflegerin und Tierschützerin. Mit ihrem Lieferwagen, der mit «Haustierdienst mit Herz» angeschrieben ist, gehts in Richtung Ennetmoos.

Der Hof Kappellhostatt liegt an der Strasse, unweit der Grenze zwischen Ob- und Nidwalden. Auf den ersten Blick ein gewöhnlicher Bauernhof, wäre da nicht die auffallende Vielfalt der Tiere. Der so genannte Kuhgnadenhof ist «multikulti», wenn man ihn in menschlichen Massstäben beschreibt. Dicke, dünne, zottige und glatthäutige Tiere, rote, braune, braun-weiss Gescheckte leben hier friedlich zusammen. Verschiedene Rassen wie Braunvieh, Rotfleckvieh, Simmentaler, zwei kleine weisse Yaks und schottische Hochlandrinder, bunt gemischt.

Früher betrieb die Familie Zimmermann auf ihrem Hof Mutterkuhhaltung. Heute ist es ein Ort, wo Kühe um ihrer selbst willen weiterleben können, heisst es im Prospekt. «Nicht aus wirtschaftlichen Überlegungen, auch nicht um die Leute zum Vegetarismus zu bekehren, sondern lediglich, um der individuellen Kuh einen Lebensabend zu schenken.»

Nena den Besitzern abgekauft

Pineroli drückt dem Reporter ein paar Gummistiefel in die Hand. Dann gehts auf Stalltour. Die Zürcherin erzählt von ihrem Schlüsselerlebnis: «Ich habe mich vor fünf Jahren in eine Kuh verliebt…» Nena gab viele Jahre lang brav Milch, gebar viel Kälbchen – und war dabei immer an einer Eisenkette angebunden. «Die Besitzer liessen sie nicht einmal beim Gebären von der Kette», erklärt die Tierpflegerin. Sie beschloss spontan, dem Bauern das Tier abzukaufen.

Das war vor vier Jahren. Nena war eine der ersten Pensionärinnen auf dem Kuhgnadenhof. Pascale Pineroli, die ebenfalls Tierfilme mit Susy Utzinger produziert, hat Nenas letzten Lebensabschnitt dokumentiert und führte einen Blog über ihre Lieblingskuh. Sie ist inzwischen gestorben, doch die Söhne Nico und Nando leben noch auf dem Kuhgnadenhof. Die Ochsen, so nennt man Stiere, wenn sie kastriert sind, leben friedlich mit Kühen zusammen, was nicht üblich sei in der Landwirtschaft.

«Für viele Bauern der Umgebung ist unser Hof immer noch wie ein Ufo, das gelandet ist. Etwas Exotisches», sagt Pascale Pineroli. Ein Bauernhof, auf dem nichts produziert wird, das verstehen Landwirte nicht. Eine Kuh gibt Milch oder aber Fleisch. «Viele können sich auch nicht vorstellen, dass jemand monatlich für ein Tier Geld zahlen kann, ohne einen direkten Nutzen davon zu haben.» Manch ein Bauer, dem es weh ums Herz wird, wenn er seine alte Lieblingskuh zur Schlachtbank führen muss, fragt mittlerweile auch mal im Kuhgnadenhof an, ob er sein Tier in Pension geben kann. Doch der Platz ist begrenzt und kostenlos ist die Dienstleistung ebenfalls nicht.

Finanzierung durch Patenschaften

Finanziert wird der Hof durch Gönner. Für monatlich 200 Franken kann man Pate eines Tiers werden. Das Geld decke die Kosten für Futter und Pflege, erklärt Pineroli, ihr Engagement sei aber ehrenamtlich.

Jedes Tier hat seine Geschichte und sein Schicksal. Marlo, ein schottisches Hochlandrind, war einst ein Zuchtbulle. Der Bulle mit dem zottigen rot-braunen Fell und den Fransen vor den Augen flösst mit seiner Grösse und seinen breiten geschwungenen Hörnern Besuchern Respekt ein. «Ich hatte am Anfang auch Angst», sagt Pineroli. Ab einem gewissen Alter würden Bullen aggressiv, man habe deshalb nicht gewusst, wie er mit der Herde harmoniere. Doch der mittlerweile entmannte Merlo ist friedlich. «Er hat gemerkt, dass hier alle lieb sind zu ihm», sagt Pineroli.

Angefangen hat die Geschichte des Kuhgnadenhofs  im Walliser Ort Gampel. An Weihnachten 2009 geriet ein Kalb im Schlachthof in solch grosse Panik, dass es eine 1,80 Meter hohe Mauer überwand und das Weite suchte. Zwei Wochen war das Kalb, dem seine Retter später den Namen Noël (Weihnachten) gaben, einfach verschwunden, bis es auf einer Pferdeweide wieder gefunden wurde.

Ein «Sans-Papier» der Tierwelt

Der Fall erregte international Aufsehen. Das Gut Aiderbichl, ein «Gnadenhof» in Süddeutschland, auf dem über 1000 Tiere verschiedener Arten leben, wollte das Kalb gemäss der «Neuen Zürcher Zeitung» aufnehmen. Doch dabei gab es Schwierigkeiten. Der Bauer, dem Noël entwischt war, hatte es aus der Tierdatenbank gelöscht, es als geschlachtet angegeben und seine Papiere vernichtet. Seither ist das Tier ein «Sans-Papier» der Tierwelt und darf die Schweiz nicht verlassen.

Heute lebt Noël auf dem Kuhgnadenhof und hat sich von seinem Abenteuer erholt. «Am Anfang konnte man ihn nicht anfassen, das ging zwei Jahre lang», sagt Pineroli. Heute geniesst das mittlerweile zum Rind ausgewachsene Tier seine Streicheleinheiten. Denn jedes Tier wird mit Bürsten massiert. «Ich bin für sie die Strählitante», sagt Pineroli und zeigt ihr spezielles Gerät, mit dem sie die Kühe verwöhnt.

Oft sind Kinder die Retter eines Tiers. Die geretteten Tiere gehören ihren Rettern, welche sie den Bauern abkauften, hierher brachten und diese unterhalten. Die Hälfte der Herde ist auf dem Hof geboren und wird über Patenschaften unterhalten.

Kuhgnadenhof ausgebucht

Der Hof ist voll. Platz für weitere Tiere hat es momentan nicht, auch wenn die Nachfrage gross sei. Die Finanzierung ist momentan gesichert: «Für alle Tiere konnten inzwischen Paten gefunden werden, das ist wunderschön», sagt Pacale Pineroli.

Nun können sich die Betreiberinnen des Kuhgnadenhofs an ihr nächstes Projekt machen. Sie möchten eine «Begegnungsstätte» schaffen, den Hof mehr für Besichtigungen öffnen und baulich herrichten. Das Ziel: «Wir möchten die Kuh dem Menschen näher bringen. Denn obwohl die Schweiz ein Land mit vielen Kühen ist, kennt man diese Gattung doch nicht so genau.»

Verhaltensforschung

Auf dem Kuhgnadenhof wird quasi Verhaltensforschung betrieben. Dass Kühe mit Ochsen zusammen leben, wie Tiere verschiedenen Rassen miteinander harmonieren und ob sie sich vertragen, ist bisher wenig erforscht. Auch gibt es laut Pineroli wenig Erfahrungswerte über das maximale Alter, welches Kühe abseits der klassischen Nutztierhaltung erreichen können.

Pineroli, die eine Ausbildung beim bekannten Tierforscher Dennis Turner im Hirzel absolviert hat, illustriert die Auswirkungen der Massentierhaltung eindrücklich: «Eine Hochleistungskuh bringt es heute auf bis zu 15’000 Liter Milch pro Jahr. Das ist dreimal mehr als noch vor 60 Jahren. Diese Leistung geht dem Tier an die Substanz, denn um täglich 50 Liter Milch im Euter zu sammeln, pumpt sie täglich umgerechnet einen Tanklastzug voll Blut – 30’000 Liter – durch ihren Organismus. Solche Kühe werden statt eines Vierteljahrhunderts durchschnittlich gerade mal fünf Jahre alt.»

Tiere blühen auf

Auf dem Kuhgnadenhof dürfen die friedlichen Wiederkäuer leben, ohne zu leisten. Oft blühten die Tiere richtig auf in ihrem letzten Lebensabschnitt. Und sie geben dem Menschen auch etwas zurück. Pascale Pineroli: «Ich fühle mich gut, wenn ich bei den Kühen war. Eine Kuh ist gemütlich, gibt viel Liebe und ist von Natur aus bescheiden. Ausser Gras respektive Heu, Wasser und ein wenig Mineralsalze braucht sie nichts.»
Zuneigung könnte man noch aufzählen, diese erhalten die Tiere zur Genüge auf dem Kuhgnadenhof. Madeleine Zimmermann als Hofbesitzerin, ihre Tochter Tamara und Mitarbeiter Roman Schön kümmern sich rund um die Uhr um die Tiere.

Momentan bietet der Kuhgnadenhof ausnahmsweise auch zwei Pferden Asyl. «Unsere Exoten», sagt Pascale Pineroli. Sie sind auf einer Weide unweit des Hofs und freuen sich an ihrem freien neuen Leben. Die Stute Gulfia gehört einer speziellen Rasse aus Russland an. Sie ist ein russisches Traktorenpferd, auf russisch Valdimirskaja, und wurde früher von ihren Besitzer als «Gebärmaschine» gehalten. Als sie nicht mehr taugte, wollte man sie abtun. Moritz hingegen versah Jahre lang als Kutschenpferdtreu treu seinen Dienst, bis sein Halter krank wurde und nicht mehr für das Tier sorgen konnte. Die Familie Zimmermann rettete das Pferd, auf dem Madeleine Zimmermann Kutschenfahren gelernt hatte, vor dem Schlachthof. Für Moritz und Gulfia werden noch Paten gesucht.

www.kuhgnadenhof.ch

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