Aus Stromzähler werden Kulturgüter

Das Theilerhaus erwacht aus dem Koma

Das Theilerhaus an der Hofstrasse 13 in Zug, um 1918.*

(Bild: Firmenarchiv Landis+Gyr)

Beinahe wurde es wegen einem Veloständer in die Luft gesprengt. Es war Hort wilder Partys und Zuhause für italienische Gastarbeiter. Und ganz nebenbei hat das Theilerhaus in Zug auch noch Industriegeschichte geschrieben. Nun ist es höchste Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Es ist kalt an diesem Februartag. Draussen geht ein eisiger Wind. Innerhalb der Gemäuer des alten Backsteingebäudes an der Hofstrasse 13 in Zug ist man davor zwar geschützt. Aber in den alten Holzöfen lodert schon lange kein Feuer mehr. Die Jacken bleiben an. Strom gibts hier übrigens auch keinen – es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade hier, im Theilerhaus, in dem vor gut 120 Jahren Stromzähler hergestellt wurden, nun Dunkelheit herrscht. Ganz im Gegensatz zur hell erleuchteten Gründungszeit. Denn in diesem Backsteingebäude nahm ein Weltimperium seinen Anfang.

Am 30. Juni 1896 gründeten Richard Theiler und der Kaufmann Adelrich Gyr-Wickart das «Electrotechnische Institut Theiler & Co». Die beiden kannten sich aus Schultagen. Zweck der Unternehmensgründung war die Herstellung des von Richard Theiler entwickelten und patentierten Wechselstromzählers. Der Bieler Architekt Venerand Dicht erstellte noch im selben Jahr für Theilers Manufaktur ein zweigeschossiges Gebäude – bereits im November 1896 war dieses bezugsbereit.

Ein Zeitzeuge mit umfassender Geschichte

Hier stehen wir nun, im Erdgeschoss des Gebäudes, dem ehemaligen «Arbeit-Saal». In Ermangelung jeglicher Stromquelle nutzen wir Taschenlampen, um uns wenigstens grob durch die kalten Zimmer manövrieren zu können. Ausserdem ist ein trittsicherer Führer an unserer Seite: Aldo Caviezel, der Leiter des Amts für Kultur im Kanton Zug, ist nicht das erste Mal hier. Einem Museumsführer gleich lotst er uns durch das geschichtsträchtige Haus.

Das Theilerhaus nach der ersten Aufstockung, rechts die Shedhallen, um 1914. (Firmenarchiv Landis & Gyr)

Das Theilerhaus nach der ersten Aufstockung, rechts die Shedhallen, um 1914. (Firmenarchiv Landis & Gyr)

Treppenaufgänge wurden damals relativ eng gebaut. (Bild: Aldo Caviezel)

Treppenaufgänge wurden damals relativ eng gebaut. (Bild: Aldo Caviezel)

Viel ist vom ehemaligen Glanz nicht mehr übrig. «Hier wurde nicht nur gearbeitet, sondern gelebt», sagt Caviezel und zeigt auf stark abgewetzte Böden. Die Räumlichkeiten sind durchzogen von Spinnweben. Hie und da zeigen sich von Schimmel zerfressene Wände. Entlang der engen Treppe in den ersten Stock hängt eine stuckartige Tapete. Es werde nicht ganz einfach sein, das alte Haus zu renovieren, meint Caviezel mit Verweis auf den Denkmalschutz, unter welchem das Theilerhaus seit 2006 steht.

Graffiti-Sprühereien und zerbrochene Fensterscheiben zeugen von der illegalen Party, zu welcher der «Freundeskreis Trümmertango» vor gut acht Jahren geladen hatte. Am späten Pfingstsonntag des Jahres 2008 befanden sich rund 40 Personen auf dem Gerüst des Theilerhauses und stiegen über ein Fenster in das Haus ein. «In den folgenden Stunden drangen rund 300 Personen in das verbarrikadierte Gebäude ein und feierten eine laute Party», heisst es im entsprechenden Polizeibericht. Die Gruppe forderte mehr Kulturraum in der Stadt.

In der Zentrale eines Weltimperiums

Die Räumlichkeiten der ersten Etage wurden 1984 zu Wohnungen umgebaut. «Diese waren von italienischen Gastarbeitern bewohnt», erklärt Aldo Caviezel und weist hin auf ein paar Überbleibsel aus dieser Zeit. In diversen Räumen hängen noch Teile von stilistisch interessanten Tapeten an den Wänden. Gut erhaltene Badewannen schmücken hie und da ehemalige Nasszellen. Und an einer Wand findet sich ein SBB-Fahrplan, datiert auf das Jahr 1988.

Tapete in einer Arbeiterwohnung. (Bild: Aldo Caviezel)

Tapete in einer Arbeiterwohnung. (Bild: Aldo Caviezel)

Eine gut erhaltene Badewanne. (Bild: Aldo Caviezel)

Eine gut erhaltene Badewanne. (Bild: Aldo Caviezel)

Von all dem ahnten die Gründerväter zu Beginn des 20. Jahrhunderts natürlich nichts. Die Zählerfabrikation florierte. Rasch erkannten die beiden Teilhaber, dass der bisherige Werkstattbetrieb für eine Massenproduktion nicht genügte. Das Unternehmen brauchte dringend mehr Platz. Theiler und Gyr-Wickart sahen sich allerdings aufgrund ihres Alters nicht in der Lage, eine solche Erweiterung durchzuführen. Und weil ihre Söhne kein Interesse zeigten, suchten die beiden nach einem finanzkräftigen Käufer. Hier kommen Heinrich Landis und Karl Heinrich Gyr ins Spiel.

Der junge Elektroingenieur Landis kaufte die Firma 1904. Ein Jahr später kam Karl Heinrich Gyr dazu. Die Firma wurde daraufhin zur Kollektivgesellschaft «Landis & Gyr, vormals Theiler & Co». Bis zu diesem Zeitpunkt waren von Theiler und Gyr-Wickart rund 10’000 Zähler abgesetzt worden, zunehmend auch ins Ausland. Die Auftragsbücher waren voll. Gleichzeitig liefen die Expansionsbemühungen auf Hochtouren. Die Shedhalle entsteht und das Theilerhaus wird um ein Geschoss erhöht.

Im Sitzungszimmer. (Bild: Aldo Caviezel)

Im Sitzungszimmer. (Bild: Aldo Caviezel)

Jetzt wird es so richtig museal. Im neuen Geschoss richtete sich die Direktionsleitung ein. Das grosse Sitzungszimmer, wie auch das Büro von Geschäftsleiter Karl Heinrich Gyr sind noch heute gut erkennbar. «Von hier aus regierte Herr Gyr sein Weltimperium», sagt Caviezel und stemmt die dicke Schallschutztür zwischen den beiden Zimmern auf. Der Pioniergeist wurde durch das Gemäuer regelrecht konserviert.

Der Anfang vom Ende

1914 wurde Landis & Gyr in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Der wachsenden Konkurrenz, namentlich von den deutschen Grosskonzernen «AEG» und «Siemens-Schuckert», begegnete das Zuger Unternehmen mit einer Vorwärtsstrategie. Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie Rationalisierung der Fabrikation waren die Folge.

1917 stockten die Bieler Architekten Moser, Schürch und von Gunten das Theilerhaus ein zweites Mal zum heute bestehenden Gebäude auf. Im obersten Stock wurde das Konstruktionsbüro untergebracht. Ein Arbeitsort, von dem man heute kaum zu träumen wagt: Dachschrägen bei einer Raumhöhe von über drei Metern, eine von Sonnenlicht durchflutete Arbeitsstätte. «Leider hat man die Oberlichter in den Dachschrägen vor einiger Zeit abgedichtet», erzählt Caviezel. «Das müsste man dringend rückgängig machen», konstatiert er.

Die Erfolgsgeschichte von Landis & Gyr nahm ihren Lauf. 1929 wurde der Direktionssitz vom Theilerhaus in die neu errichteten Gebäude beim Bahnhof verlegt. Die Produktion an der Hofstrasse wurde bis in die 80er-Jahre fortgeführt. Der «Industriekapitän» Karl Heinrich Gyr verstarb 1946. Unter seiner Führung hat sich das Unternehmen von einem Handwerksbetrieb mit 24 Angestellten (im Jahr 1901) zu einem weltweit tätigen Grosskonzern mit 4200 Angestellten entwickelt.

Karl Heinrich Gyr in seinem Büro im Theilerhaus. Hinten das Sitzungszimmer, 1943. (Familienarchiv Gyr-Schlueter)

Karl Heinrich Gyr in seinem Büro im Theilerhaus. Hinten das Sitzungszimmer, 1943. (Familienarchiv Gyr-Schlueter)

Ein Trauerspiel

Von Gyrs Tod zeigte sich nicht nur die Belegschaft schwer betroffen. Auch für die Bewohner der Stadt Zug war die Nachricht ein Schock, war doch das Gedeihen der Stadt aufs engste mit der Landis & Gyr verknüpft. Das Trauerspiel um das Theilerhaus begann allerdings erst rund 40 Jahre später – und dauert noch bis heute an.

Ende 1987 wurde bekannt, dass der Verwaltungsrat der Landis & Gyr AG das Theilerhaus abzureissen gedenkt. «In einer Zeit, wo viele Abbrüche bedeutender Gebäude die Öffentlichkeit stark bewegten, erfolgte das Abbruchbegehren äusserst diskret», schreibt der im Jahr 2008 verstorbene Zuger Architekt Peter Kamm in einer Retrospektive. «Es geschah in der Form eines Baugesuches für die Aufstellung eines Veloständers und war als solches im Amtsblatt publiziert.»

Der Argwohn, dass sich etwas anderes hinter dem Baugesuch verstecken könnte, wurde beim Besuch Kamms auf dem Stadtbauamt bestätigt: «Im Publikationsmäppchen lag tatsächlich der Prospekt für einen Norm-Veloständer, darunter der Situationsplan mit dessen Standort mitten im Umriss des Theilerhauses», erinnert sich der Architekt. Der Abbruch wurde in Form einer militärischen Sprengübung einem Luftschutzdetachement übertragen. Der Termin war auf Ende Mai 1989 festgelegt.

Um den vom Stadtrat bewilligten und bereits organisierten Abbruch zu verhindern, intervenierte Kamm beim damaligen Eigentümer der Firma, Stephan Schmidheiny. Mit Erfolg: Dieser habe die Brisanz des Theilerhauses erkannt und stellte die ganze Liegenschaft Hofstrasse zur Offerte aus. Den Zuschlag erhielt die öffentliche Hand, der Kanton Zug.

Das Konstruktionsbüro im obersten Stock, 1920. (Firmenarchiv Landis & Gyr)

Das Konstruktionsbüro im obersten Stock, 1920. (Firmenarchiv Landis & Gyr)

Der Dachstock. Die Oberlichter wurden zwischenzeitlich abgedichtet. (Bild Aldo Caviezel)

Der Dachstock. Die Oberlichter wurden zwischenzeitlich abgedichtet. (Bild Aldo Caviezel)

Nächstes Kapitel?

Während wir die Stufen wieder hinuntersteigen, erzählt Aldo Caviezel, dass in der Folge mehrere Verhandlungen zwischen Stadt und Kanton stattfanden, diese aber wegen verschiedener Vorstellungen über den Kaufpreis des Areals erfolglos blieben. Seit bald 29 Jahren steht das Theilerhaus nun leer. «Als im Quartier Aufgewachsener, erlebte ich das Theilerhaus als Kind noch bewohnt und voller Leben», sagt Caviezel. «An das gespenstisch leer stehende Denkmal der Zuger Industriegeschichte habe ich mich immer noch nicht gewöhnt.»

Der Blick von aussen auf das Gebäude lässt einen schon etwas wehmütig werden. Nach 29 Jahren Dornröschenschlaf und vielen erfolglosen Versuchen zur kulturellen Wiederbelebung des Hauses sei es nun höchste Zeit, das Theilerhaus wach zu küssen, findet Caviezel und lässt seinen Blick über die Backsteinfassade schweifen. Die Führung ist zu Ende, aber das nächste Kapitel des Theilerhauses wird gerade erst aufgeschlagen.

«Aktuell sind wir am Erarbeiten der Kantonsratsvorlage für den Objektkredit der Sanierung», erklärt Caviezel. Noch diesen Frühling wird sich das Parlament wohl damit befassen. Sagt dieses Ja zur Sanierung, werde sich das geschichtsträchtige Haus an der Hofstrasse 13 in ein kulturell und gesellschaftlich vielseitig nutzbares Gebäude verwandeln. Verdient hätte es das Theilerhaus allemal. Der Pioniergeist steckt jedenfalls noch im Bauwerk. Man müsste ihn nur rauslassen.

Zur Zukunft des Theilerhauses

Das vielseitige Nutzungskonzept des Theilerhauses als öffentliches Gebäude mit Gastronomie, Veranstaltungs-Saal, Ateliers und einer Plattform für die Zuger Industriegeschichte besteht seit 2011 und wird seit 2014 laufend aktualisiert und angepasst.

Der Nutzungsmix des fertigen Konzepts sieht vor, dass im Erdgeschoss ein Restaurant eingerichtet wird. Im ersten Stock soll eine mehrfach nutzbare Veranstaltungsplattform für öffentliche und private Veranstaltungen, Ausstellungen, Lesungen oder Vereinsversammlungen eingerichtet werden.

Dem Zuger Regierungsrat sei es ein Anliegen, dass die Geschichte des Hauses als eines der ersten Industriegebäude in Zug sichtbar gemacht wird, weshalb der zweite Stock für eine Plattform für Industrie- und Technikgeschichte reserviert wird. Das oberste Stockwerk soll das Werkstatt-Thema des Hauses aufnehmen und Arbeitsplätze für Kunstschaffende anbieten.

«Die Realisierung des Kulturbetriebes im Theilerhaus ist ein aktuelles Legislaturziel des Regierungsrates», betont der Vorsteher der Bildungs- und Kulturdirektion, Regierungsrat Stephan Schleiss. «Ich glaube an das vorliegende Konzept. Das Konzept passt zum Ort. Ich freue mich auf die politische Debatte im Kantonsrat.» Dort steht als Nächstes der Objektkredit für das Theilerhaus auf der Traktandenliste.

* Die im Artikel verwendeten Bilder sowie einige Textpassagen stammen aus dem Buch von Matthias Wiesmann: Karl Heinrich Gyr (1879−1946), Der Aufbau des Weltkonzerns Landis & Gyr, Verein für wirtschaftshistorische Studien, 2012.

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