Feministinnen kritisieren Luzerner Justiz

«Das Kantonsgericht zeigt keinerlei Respekt vor der Gefühlslage des Opfers»

Hier zu sitzen – Auge in Auge mit den Kantonsrichtern – kann für die Betroffenen unangenehm sein. (Bild: zvg)

Die Gruppe «Redaktion Frauenstreik Luzern» wirft dem Kantonsgericht vor, Victim Blaming zu betreiben. Gemeint ist, dass man einem Opfer eine Mitschuld gibt, wenn es zu einer Straftat kommt. Auslöser der Debatte ist ein zentralplus-Bericht.

Ein Taxifahrer hat über Jahre die Hilflosigkeit von jungen und betrunkenen Frauen ausgenutzt. Statt sie sicher nach Hause zu bringen, machte er Umwege und fasste seinen Opfern während der Fahrt an die Brüste oder in den Schritt. Ein Teil der Frauen nötigte er zu sexuellen Handlungen, eine von ihnen vergewaltigte er.

Der Mann stand am Mittwoch vor dem Kantonsgericht Luzern. Ein Bericht von zentralplus über die Verhandlung hat nun einen öffentliche Debatte darüber ausgelöst, wie die Luzerner Justiz mit Opfern von Sexualdelikten umgeht.

Fragen implizieren Mitschuld des Opfers

Ein Mitglied des Gerichts hatte das Opfer gefragt, was es am Tatabend trug. Es wollte auch wissen, wie das Oberteil ausgesehen hat und ob die Frau einen Pullover getragen hatte. Die Zeugin fühlte sich von den Fragen offensichtlich in die Enge getrieben und beeilte sich zu versichern, dass der Rock zwar kurz, der Ausschnitt aber nicht tief gewesen sei.

Beschuldigte müssen nicht auf den «heissen Stuhl»
Im Gerichtssaal, in dem die Verhandlungen des Kantonsgerichts stattfinden, sitzt das Richtergremium leicht erhöht. Wer befragt wird, nimmt direkt davor Platz, so dass die Richterinnen und Richter die Person genau im Auge haben. Auf diese Weise wird die Autorität des Gerichts räumlich unterstrichen. An den Bezirksgerichten und dem Kriminalgericht ist es üblich, dass sich auch die Beschuldigten auf den «heissen Stuhl» setzen müssen, wenn sie befragt werden. Dass dies letzten Mittwoch am Kantonsgericht anders gehandhabt wurde, ist keine Ausnahme. Dass die beschuldigte Person hinten neben ihrer Verteidigung sitzen blieb, ist offenbar gängige Praxis. Das Gericht lässt zwar die Zeuginnen und Zeugen seine Autorität räumlich spüren, nicht aber die Beschuldigten.

Nun wendet sich die «Redaktion Frauenstreik Luzern» mit einem öffentlichen Brief zu Wort. Wie der Name vermuten lässt, hat sich die Gruppe im Zusammenhang mit dem Frauenstreik gegründet, der am 14. Juni 2019 stattfand. Ihr Ziel ist es, diese Anliegen weiterhin zu vertreten.

Für die Redaktion, bestehend aus den Luzernerinnen Laura Amstutz, Jana Avanzini und Michelle Meyer, steht fest: Fragen zur Länge des Rockes und der Tiefe des Ausschnitts sind in dieser Sache nicht von Belang und implizieren eine Mitschuld des Opfers, wie es im offenen Brief heisst.

«Victim Blaming nennt man das: die gesellschaftliche Tendenz, eher das Verhalten des Opfers (meist weiblich) zu hinterfragen, als den Täter (meist männlich) zur Verantwortung zu ziehen», schreiben sie. Die Schuld bei einer Vergewaltigung, sexuellen Nötigung oder Belästigung liege immer und alleine beim Täter oder der Täterin.

Beschuldigter sass «gemütlich» neben dem Verteidiger

Die Frauenstreik-Redaktion stört sich auch daran, dass das Opfer direkt vor das Richtergremium treten und sich Fragen zur Kleidung gefallen lassen musste, während der Beschuldigte «gemütlich» neben seinem Verteidiger sitzen bleiben durfte. «Das ist eine unglaubliche Frechheit und zeugt von keinerlei Respekt vor der Gefühlslage des Opfers.»

Die Frauen verlangen eine Stellungnahme und fordern, dass künftig solche impliziten Zuweisungen von Mitschuld der Opfer an Sexualdelikten unterlassen werden. Zudem sollen Massnahmen geprüft werden, um die Sensibilität bei Befragungen von Gewaltopfern zu erhöhen.

Richterinnen befragen die Opfer

Das Kantonsgericht betont auf Anfrage, dass man zum angesprochenen Fall bloss sehr eingeschränkt Stellung nehmen könne. Dies weil es um ein laufendes Verfahren gehe und zudem das begründete Urteil noch nicht vorliege.

Generell könne man sagen, dass es Aufgabe des Gerichts sei, zu beurteilen, ob eine beschuldigte Person die ihr vorgeworfene Tat begangen habe oder nicht. «Dabei ist es unter Umständen notwendig und gerechtfertigt, dem Opfer auch sehr persönliche, die Intimsphäre betreffende und allenfalls unangenehme Fragen zu stellen», schreibt die Medienstelle des Kantonsgericht.

Das Kantonsgericht sei sich bewusst, wie belastend die Befragung von Opfern für die betroffenen Personen sein könne. Deshalb sei es die Praxis, dass weibliche Opfer von Sexualdelikten auch ohne entsprechenden Antrag immer durch eine Richterin befragt würden.

Bemerkung sollte auf ein positives Thema überleiten

Das sei auch bei der Verhandlung von letzter Woche so gewesen. Die Befragung sei wurde abgesehen von Ergänzungsfragen des Präsidenten durch eine Richterin durchgeführt. «Das Kantonsgericht ist bemüht, den Personen, die vor Gericht auftreten, mit Anstand und Respekt zu begegnen», heisst es weiter.

In diesem Zusammenhang sei auch die Bemerkung der zuständigen Richterin am Ende der Befragung zu sehen. Diese rundete den Zeugenlohn um 10 Franken auf, damit es «noch für einen Kaffee in diesem wunderschönen Luzern» reiche.

Im offenen Brief wird dies als eine «Verhöhnung des Opfers» bezeichnet. Gemäss der Medienstelle der Luzerner Gerichte, habe die Richterin jedoch einzig von der für das Opfer belastenden Situation auf ein positives Thema überleiten wollen. Deshalb habe sie einen Hinweis auf die Stadt Luzern gemacht.

Auszug aus dem offenen Brief an das Kantonsgericht, dem Feministinnen einen unsensiblen Umgang mit Opfern von Sexualstraftaten vorwerfen. (Bild: ber)
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