Darum kehren junge Menschen Luzerner Kirchen den Rücken
:focal(1181x570:1182x571)/www.zentralplus.ch/wp-content/uploads/2023/04/kirche_austritt_luzern-scaled.jpeg)
Der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche laufen die Mitglieder davon. Doch warum eigentlich? Drei junge Menschen aus Luzern verraten, warum sie diesen Sonntag garantiert nicht zum Gottesdienst gehen.
Die Kurve zeigt steil nach oben: 2021 sind so viele Menschen aus der Kirche ausgetreten wie noch nie. Schweizweit waren es 34'182 Menschen, die der katholischen Kirche den Rücken gekehrt haben. Der bisherige Rekordwert von 2019 wurde damit um mehr als 2'500 Austritte übertroffen.
Doch warum boomen Kirchenaustritte dermassen? Glauben junge Menschen nicht mehr an Gott? Sind es die Skandale rund um die Kirche, welche die Menschen dazu bewogen haben? Oder ist den Jungen das Geld für die Kirchensteuer zu schade?
zentralplus hat sich umgehört – und drei Menschen aus Luzern gefragt, was ihre Beweggründe für den Kirchenaustritt waren.
Der Glaube gibt Gregor nichts
Gregor – der eigentlich anders heisst – ist heute 36 Jahre alt. Als er seinen 18. Geburtstag feierte, wartete er nicht mehr lange, um seinen Kirchenaustritt endlich anzupacken. Zeitnah meldete er sich bei seiner Kirchgemeinde, um seinen Austritt zu verkünden. «Kirche und Religion waren mir schon immer sehr fremd», sagt Gregor. «Ich fand es unheimlich und es war mir zuwider. Zumal für mich der Glaube und die Bibel per se keinen Sinn machen.»
Für Gregor ist es nicht nachvollziehbar, wie sich die Evolutionstheorie mit der Bibel vereinbaren lässt. Oder wie man das ganze Leid an Unschuldigen erklärt, wenn es doch einen «barmherzigen» Gott gibt.
«Vieles hat mich putzverruckt gemacht. Gerade die ganzen Kindsmissbräuche durch Geistliche …»
Gregor
Seine Mutter habe ihn vor seiner Volljährigkeit darauf hingewiesen, dass er bald Kirchensteuer bezahlen müsse. Er könne jetzt selbst entscheiden, ob er in der Kirche bleiben möchte oder nicht. «Meine Mutter hat mich nicht beeinflusst», sagt Gregor. «Aber da ich die Angebote der Kirche selbst nicht nutze, war mir das Geld zu schade dafür. Und ich kann mich gut damit abfinden, nicht kirchlich zu heiraten oder beerdigt zu werden.»
Die ganzen Skandale gingen nicht spurlos am Luzerner vorbei. «Vieles hat mich putzverruckt gemacht», sagt Gregor. «Gerade die ganzen Kindsmissbräuche durch Geistliche …» Und dann die teilweise rückständigen Moralvorstellungen. «So etwas will ich einfach nicht unterstützen.»
«Ich verstehe auch nicht, wie die Kirche fürs Fastenopfer bettelt – selbst aber in Saus und Braus lebt, wenn ich mir den Vatikan und den ganzen Goldprunk ansehe. Für mich ist das einfach verlogen.»
Obwohl er heute auch viele gute Seiten in der kirchlichen Arbeit sieht, hat Gregor seinen Entscheid zum Austritt nie bereut.
Karina wurde aus der Freikirche ausgeschlossen – weil sie Frauen liebt
Während die katholische und die reformierte Kirche eher auf dem absteigenden Ast sind, beklagen sich Freikirchen derweil nicht über Mitgliederschwund. Die 25-jährige Karina ist eine, die aus der Freikirche getreten ist. Besser gesagt: Sie wurde ausgeschlossen.
Der Grund: Karina ist lesbisch. Als sie sich outete, haben sich viele Menschen, die sie aus der Freikirche kannte und die sie für Freunde gehalten hat, von ihr abgewandt. Der Priester hat sie einmal gebeten, ihm in den Nebenraum zu folgen. Die junge Frau musste vor den Altar niederknien. Er betete, legte eine Hand auf ihr Herz, die andere auf ihren Kopf. «Er sagte: Ich vertreibe jetzt alle Dämonen in dir. Karina, du wirst wieder rein in deinen Gedanken und deinem Körper.»
Der Priester versuchte, Karina «zu heilen», von dem «Schmutz», der «Krankheit». Er wollte eine Konversionstherapie durchführen. Bei solchen «Therapien» wollen Seelsorger und Heilerinnen homosexuelle Neigungen zu heterosexuellen «umpolen». In Luzern hat sich die Regierung und der Kantonsrat für ein Verbot solcher Konversionstherapien ausgesprochen (zentralplus berichtete).
«Durch mein Outing habe ich den Glauben verloren.»
Karina
Später sagte der Priester, dass Karina sich entweder dazu entscheiden müsse, ihr Leben als eine Heterosexuelle zu leben – oder sie wäre kein Mitglied mehr von der Freikirche. Karina ging.
Karina hofft, dass die Kirche offener wird
Auch Jahre später fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen. Den Ausschluss durchzuziehen, hat sie viel Kraft und Überwindung gekostet. «Schliesslich habe ich auch meine Eltern enttäuscht, die Teil der Freikirche sind, und mein Freundeskreis hat sich um 180 Grad gedreht.» Obwohl der Glaube Karina früher viel bedeutet hat, sagt sie heute: «Ich begann schon vor meinem Outing, den Glauben kritisch zu hinterfragen und nicht einfach blind zu glauben, ohne zu fragen, ob das nun richtig oder falsch ist. Durch mein Outing habe ich den Glauben verloren.»
Auch wenn die katholische Kirche und Freikirchen zwei Paar Schuhe sind, kann Karina die Beweggründe der Menschen auch verstehen, die aus der katholischen Kirche austreten. Die Missbrauchsvorfälle oder teilweise auch die Haltung gegenüber der LGBTQ-Community wühlen sie auf. «Ich hoffe sehr, dass es einen Wandel gibt und Kirchen offener werden.» Dass es queere Seelsorger und auch queere Pfarrerinnen gibt, die offen dazu stehen, zeige ja auch, dass sich etwas bewege, so die Luzernerin.
Liebe predigen und sich dann gegen die Liebe stellen
Auch Fiona kann mit einigen Auffassungen der katholischen Kirche nichts anfangen. «Menschen sollen glauben, leben und lieben wen, was und wie sie wollen und dafür respektiert werden. Hinter einer Organisation, die dies anders sieht, kann und möchte ich nicht stehen», sagt die Luzernerin. «Auch wertvolle Tätigkeiten der Kirche rechtfertigen für mich nicht das Fehlen einer liberalen Grundhaltung, ich finde das eher paradox.»
«Auch wertvolle Tätigkeiten der Kirche rechtfertigen für mich nicht das Fehlen einer liberalen Grundhaltung, ich finde das eher paradox.»
Fiona
Bereits vor ihrer Firmung habe sie damit begonnen, sich mit der katholischen Kirche auseinanderzusetzen. Damals habe sie sich das erste Mal überhaupt informiert, was eine Mitgliedschaft bedeute, wofür die Kirche stehe und welche Bedeutung kirchlichen Ritualen zukomme. «Ich habe dann festgestellt, dass ich mich mit diesen Grundsätzen nicht identifiziere», so die 23-Jährige.
Den Schlussstrich zog sie vor rund einem Jahr, als sie aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Der Glaube spielt in ihrem Leben keine grosse Rolle. «Glauben ist für mich ein variables Konstrukt, das sich im Laufe des Lebens unterschiedlich äussern und verändern kann. Meine Lebenseinstellung mag ich nicht durch verbindliche Regeln festlegen.»
Kirchenaustritte gehen den Luzerner Kirchen nahe
Den Kirchen gehen die Abgänge nahe. Bei Annegreth Bienz-Geisseler, Synodalratspräsidentin der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern löst die hohe Anzahl Kirchenaustritte Bedauern aus. Aber auch Sorgen und Fragen. «Obwohl die Kurve der Austritte abflacht, mache ich mir Sorgen, auch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt», schreibt sie auf Anfrage.
Sie betont, dass die Kirche wichtige Aufgaben übernehme. Dass sie sich beispielsweise um Menschen am Rande der Gesellschaft kümmert – wie die Gassenarbeit und die «Gassechuchi», wo Menschen jeden Tag etwas Warmes zu essen kriegen. Aber auch die Jungwacht Blauring, welche Kinder zusammenbringt oder dass die Kirche bei schweren Krankheiten auch Teil der Palliative Care ist und Angehörige betreut.
Auch Lilian Bachmann, die Synodalratspräsidentin der reformierten Kirche Kanton Luzern, streicht die positiven Aspekte hervor. Insbesondere im Bereich der Seelsorge, der Bildung, der Solidarität und des Schutzes der Schwächsten im In- und Ausland nehme die reformierte Kirche viele gesellschaftliche Aufgaben wahr. «Im Beispiel mit der Seelsorge ist es so, dass unsere Arbeit und auch diejenige von sehr vielen Freiwilligen in Bereichen der Integration, Kinderbetreuung, Nachbarschaftshilfe usw. nicht sehr laut und immer sichtbar ist», schreibt Lilian Bachmann. «Diese ist allerdings sehr wertvoll.»
So wollen die Kirchen neue Mitglieder finden
Die reformierte Kirche Kanton Luzern möchte deswegen proaktiv auf Menschen zugehen. Und «den Dialog mit Mitgliedern, Nichtmitgliedern, Interreligiösen und mit Konfessionslosen» führen. Die Luzerner Landeskirche hat Ende Februar zu einer Grossgruppenkonferenz per Zoom geladen. Zum Thema «Mitglied sein oder nicht?»
Den Mitgliederschwund will auch die römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern anpacken. «Einerseits zeigen wir immer wieder auf, wo überall Kirche drinsteckt», so Annegreth Bienz-Geisseler. «Andererseits ist es ja nicht so, dass Menschen nichts mehr glauben, weil sie keiner Konfession mehr angehören.» Spiritualität und Sinnfragen bleiben vielen wichtig, auch wenn sie nicht mehr Mitglied einer grossen Kirche seien. «Diese Menschen gilt es abzuholen.» Sie würden sich fragen, wie sie ihre Räume auch künftig für alle Menschen offen halten können. «Und was überhaupt Sinn und Aufgabe der Kirche ist in einer Gesellschaft, die immer weniger von ihr geprägt ist?»
- Persönliches Gespräch mit Gregor*
- Telefonat mit Karina
- Schriftlicher Austausch mit Fiona
- Kirchenstatistik des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts
- Schriftlicher Austausch mit Lilian Bachmann, Synodalratspräsidentin reformierte Kirche Kanton Luzern
- Schriftlicher Austausch mit Annegreth Bienz-Geisseler, Synodalratspräsidentin römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern
Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.