«Du bist der ‹Aseichpfoste› für alles»

Bespuckt und betatscht: Was Pflegerinnen im Spital aushalten müssen

In vielen Schweizer Spitälern wird das Personal zunehmend mit Gewalt konfrontiert. (Bild: Symbolbild: Adobe Stock)

Dass der Job als Pflegefachperson nicht einfach ist, dürfte spätestens seit der Pandemie bekannt sein. Nebst mangelnden Ressourcen macht dem Spitalpersonal auch zunehmend die Gewalt zu schaffen. Eine Luzernerin erzählt.

Ich musste einem Patienten, der panische Angst vor Ärzten und Spitälern hat, einen Druckverband über der Leiste kontrollieren. Um ihn zu beruhigen, sagte ich ihm, dass ich den Verband vorsichtig abnehme. Seine Antwort: «Gut, machen Sie das so vorsichtig. Ich weiss nämlich nicht, ob ich mich beherrschen kann.» Später griff er nach meinem Namensschild, wohl aber nur, weil es sich auf Brusthöhe befand. Und schickte mir nach seinem Austritt eine Facebook-Anfrage.

Solche Schilderungen wie die der 23-jährigen Lea* sind kein Einzelfall. Eine Umfrage des Gesundheits­branchen­portals Medinside unter Schweizer Spitälern kommt zum Schluss: Viele verzeichnen eine seit Jahren ansteigende Anzahl an Bedrohungssituationen, sei es körperliche oder verbale Gewalt. Am Universitätsspital Basel kommt es zu mehr als einer Bedrohungssituation pro Tag, im Universitätsspital Zürich greift der interne Sicherheitsdienst jährlich rund 900-mal ein.

Auch das Luzerner Kantonsspital (Luks) schreibt auf Anfrage, dass sie eine Zunahme an Gewalt gegenüber ihrem Personal feststellen. Im Kantonsspital Aargau stammen solche Vorfälle immer mehr auch von Patienten, die nicht alkoholisiert seien oder unter Drogen- oder Medikamenteneinfluss stünden, wie dessen Mediensprecherin im Medinside-Artikel anfügt.

Verbale Gewalt wird oft nicht gemeldet

Erstaunt ist Lea über diese Umfrageergebnisse nicht. Sie arbeitet seit rund sieben Jahren in der Pflege, immer in Spitälern in der Zentralschweiz, und ist inzwischen diplomierte Pflegefachfrau. Dabei hat sie schon das eine oder andere erlebt: «Es fängt an bei blöden und sexistischen Sprüchen, Patienten, die um sich schlagen, Angehörige, die dich zur Schnecke machen, Patienten, die dich bespucken oder bedrohen», zählt sie auf. Dass jemand sie geschlagen oder etwas nach ihr geworfen hat, habe sie persönlich zwar noch nie erlebt – jedoch ihre Kolleginnen.

Verlässliche Zahlen zu Gewalt im Spital gibt es kaum. Viele Vorfälle werden auch nicht gemeldet, gibt etwa Mediensprecherin Manuela Marra vom Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) auf Anfrage zu Bedenken. Auch Lea gibt im Gespräch zu, dass ihre erste Reaktion auf die zentralplus-Anfrage war, dass sie eigentlich noch keine Gewalt erlebt habe. «Aber nachher wurde mir bewusst, dass solche Vorfälle schon so zur Gewohnheit geworden sind, dass es für mich normal ist.» Denn dass sexuelle oder verbale Gewalt auch zur Gewalt zähle, sei ihr und vermutlich anderen gar nicht so bewusst.

«Du bist der ‹Aseichpfoste› für alles, was bei den Patienten nicht klappt.»

Lea* über die schwierige Rolle der Pflegefachleute

Oft habe sie solche Vorfälle auch entschuldigt. Gerade bei Demenzkranken mit deren Krankheit, dass es nur eine einmalige Angelegenheit war oder dass sich Patienten im Spital in einer sehr vulnerablen Situation befänden. Zudem vermutet sie, dass gerade Lernende solche Situationen aus Unerfahrenheit nicht melden würden. «In der Lehre lernen wir: Der Patient steht im Zentrum.» Schreit dieser einen lautstark an und beschwert sich, suche man den Fehler eher bei sich oder bangt gar um seine Lehrstelle, vermutet Lea.

Aus Überforderung in den Angriff

Die Gründe für solche Gewaltausbrüche sind vielseitig. Gemäss Luks-Mediensprecher Linus Estermann beobachtet das Spital «sehr individuelle Gründe» bei Übergriffen, beispielsweise Alkohol und Drogen. Manuela Marra vom SPZ fügt an, dass dies auch vorkomme, wenn Patienten schlimme Diagnosen erhalten. «Gerade Patientinnen und Patienten, die noch nicht lange querschnittgelähmt sind, leiden oft unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, was sich auch in verbalen Angriffen äussern kann.»

Auch der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) erwähnt in einem Leitfaden zur Prävention sexueller Belästigung, dass viele Patienten sich im Spital ausgeliefert fühlen würden. Um dieses Gefühl zu kompensieren, würden sie beispielsweise verbal ausfällig. Zudem spielten auch psychische Erkrankungen eine Rolle: Gerade in Psychiatrien kommt es immer wieder zu verbaler und körperlicher Gewalt (zentralplus berichtete).

Ein ähnliches Bild zeichnet auch Mediensprecherin Judith Dissler von der Hirslanden-Klinik St. Anna in Luzern: «Gewisse Patientinnen und Patienten sind, wenn sie zu uns kommen, in einer belastenden Situation und in einem Ausnahmezustand. Sie haben Angst und stehen unter Stress, was sich auch in verbaler und körperlicher Gewalt äussern kann.» Als Pflegefachpersonen seien sie das Personal, das am meisten mit den Patienten zu tun habe, ergänzt Lea. Entsprechend entlade sich diese Spannung meistens bei ihnen. «Du bist dann der ‹Aseichpfoste› für alles, was bei den Patienten nicht klappt.»

Sensibilisierung und Peer-Angebote

Sowohl das SPZ als auch das Luks und die Klinik St. Anna betonen, dass ihr Personal auf solche möglichen Situationen sensibilisiert wird. Ebenso, bei wem sich Betroffene bei herausfordernden Patienten Hilfe holen können und dass sie Übergriffe melden sollen.

«Im Falle eines Vorkommnisses können Betroffene schwierige Situationen einerseits mit ihren Vorgesetzten und im Team reflektieren und diskutieren, andererseits bietet die Klinik St. Anna ein Peer-Angebot», schreibt beispielsweise Judith Dissler. In diesem Angebot können Mitarbeiterinnen belastende Ereignisse mit Kollegen mit einer Ausbildung in psychologischer Nothilfe besprechen. Diese vermitteln Methoden, um damit umzugehen und vermitteln bei Bedarf Kontakte zu weiteren Hilfen und Beratungsstellen.

«Laufen sämtliche Massnahmen ins Leere, könnte zum Beispiel auch ein Klinikverweis erfolgen.»

SPZ-Mediensprecherin Manuela Marra

Trotz der Sensibilisierung und solcher Angebote sei der Umgang mit unangenehmen Situationen nicht immer einfach, sagt Lea. «Wo lässt man die Fünf gerade sein und wo zieht man wirklich Konsequenzen? Das ist nicht immer klar.» Zudem sei die persönliche Toleranzgrenze sehr unterschiedlich. Sei diese aber überschritten, solle man dies klar kommunizieren, rät Lea. Und den Vorfall melden, denn nur so könne sich etwas ändern.

Das tun die Spitäler

Grundsätzlich sind die Spitäler ob der zunehmenden Gewalt alarmiert. Das SPZ befasse sich seit Anfang Jahr intensiv mit der Gewaltthematik. «Das Spitalpersonal soll noch besser sensibilisiert und ausgebildet werden, zudem soll die Meldung solcher Fälle noch niederschwelliger gestaltet werden.» Betroffene könnten sich an Vorgesetzte, die zuständige Kaderärztin, den Chefarzt, die Abteilungsleitung oder auch an den Sicherheitsbeauftragten des SPZ wenden. Je nach Situation könne das Personal auch eine Psychiaterin beiziehen. Nach Rücksprache mit dem Kaderarzt könne auch die Polizei aufgeboten werden. «Laufen sämtliche Massnahmen ins Leere, könnte zum Beispiel auch ein Klinikverweis erfolgen.» Dies sei jedoch äusserst selten der Fall, so Marra.

Auch das Luks spricht von einer «Null-Toleranz» bei Aggression und Gewalt gegenüber seinem Personal. Um der Entwicklung entgegenzuwirken, habe das Luks 2022 das Projekt Bedrohungsmanagement lanciert. «Wir planen, die Schulung der Mitarbeitenden in diesem Bereich auszubauen und das Thema zu enttabuisieren», sagt Linus Estermann. Zudem besitze das Luks ein Sicherheitsdispositiv, das bei Bedarf angefordert werden könne. In besonders schweren Fällen werde die Polizei gerufen. Beim Luks haben solche Vorfälle zudem Folgen: Übergriffe gegenüber dem Personal würden strafrechtlich angezeigt, Sachbeschädigungen in Rechnung gestellt.

* Hinweis: Ihr Name wurde auf ihren Wunsch hin anonymisiert.

Verwendete Quellen
  • Artikel zur Umfrage von Medinside
  • Persönliches Gespräch mit Lea, diplomierte Pflegefachfrau
  • Schriftlicher Austausch mit Manuela Marra, Mediensprecherin vom Schweizer Paraplegiker-Zentrum SPZ
  • Schriftlicher Austausch mit Linus Estermann, stellvertretender Leiter Kommunikation Luzerner Kantonsspital
  • Leitfaden zum Schutz vor sexueller Belästigung des SBK
  • Schriftlicher Austausch mit Judith Dissler, Mediensprecherin Hirslanden-Klinik St. Anna
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