Zuger Dokumentarfilm über Bosnierin

Babyblu: Ein Strampelanzug symbolisiert für sie den Krieg

Die Zugerin Dzehva Sabanovic flüchtete mit ihrem Kleinkind vor 30 Jahren aus Bosnien. (Bild: zvg)

Vor 30 Jahren ist die Bosnierin Dzehva Sabanovic nach Zug geflüchtet. Hals über Kopf, mit einem Kleinkind im Arm. Im Dokumentarfilm «Babyblu» wird ihre Geschichte erzählt. Dass das Werk plötzlich hochaktuell werden könnte, hätte niemand gedacht.

«Hätte man mich vor fünf Jahren gefragt, ob man einen Film über meine Geschichte machen dürfe, hätte ich garantiert nein gesagt», sagt die Zugerin Dzehva Sabanovic. Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer, auf dem Tischchen stehen bosnische Süssigkeiten, Datteln und Nüsse. Daneben ein Kännchen mit traditionell gebrautem Kaffee. Nun jedoch ist er unter Dach und Fach, der Dokumentarfilm, der am 11. Juni im Kino Seehof Premiere feiert. Bereits jetzt ist Sabanovic nervös.

Am 5. April 1992 begann die Belagerung von Sarajevo. Nur einen Tag, bevor die Grenzen schlossen, flüchtete Sabanovic mit ihrem Sohn Alen in die Schweiz, wo ihr Mann als Saisonier arbeitete. Weil Sabanovic ihre Reise völlig unerwartet antrat, hatte sie neben ihrem Pass und einer kleinen Tasche nichts dabei.

Ein Strampler als einziges Erinnerungsstück

Alen, damals ein Kleinkind, trug während der Flucht einen hellgelben Strampelanzug. All seine anderen Kleidungsstücke blieben in Bosnien und verschwanden wenig später unter Schutt und Asche.

Der Strampler, den die Zugerin fast dreissig Jahre sorgsam über dem Kleiderschrank aufbewahrt hatte, wurde für sie zum Symbol dieser Flucht und des Krieges. Das Kleidungsstück, auf dem vergilbt der Schriftzug «Babyblu» zu lesen ist, war 2017 im Rahmen der Ausstellung «Anders.Wo» im Museum Burg zu sehen (zentralplus berichtete). Dabei sollte es nicht bleiben.

Eine haarsträubende Geschichte

Die Anthropologin Edith Werffeli war damals für die partizipativen Workshops im Museum Burg zuständig und kam über die bosnische Community mit Dzehva Sabanovic in Kontakt. Als ihr diese vom Strampelanzug erzählte, standen Werffeli «alle Höörli z'Berg», wie sie erzählt. «Ich fand dieses Objekt so wichtig, dass ich seine Geschichte unbedingt weiterverfolgen wollte.»

«Eigentlich wollte ich das Thema nach der Ausstellung ruhen lassen.»

Dzehva Sabanovic über die Idee eines Dokumentarfilms

Während einer darauffolgenden Reise nach Bosnien besuchte Werffeli das War Childhood Museums in Sarajevo. «Ich wusste sofort, dass der Strampler hierher zurück muss. Nach meiner Rückkehr fragte ich Dzehva Sabanovic, ob sie bereit wäre, einen Film darüber zu drehen.

Diese erinnert sich: «Eigentlich wollte ich das Thema nach der Ausstellung ruhen lassen. Weil ich darin sehr viel Persönliches preisgegeben hatte, war es für mich eine sehr anstrengende Zeit.» Doch irgendwas habe sie immer wieder in das Thema hineingezogen. «Als Edith Werffeli das War Childhood Museum erwähnte, schlug mein Herz höher», erzählt die gebürtige Bosnierin.

«Dass der Strampelanzug, den Alen damals trug, in diesem Museum ausgestellt werden könnte, war für mich eine tolle Vorstellung.» Und weiter: «Die Idee hat mich erobert.»

Leben in zwei Welten

Aus der Idee entstand während der letzten Jahre der Dokumentarfilm «Babyblu», der Themen wie Migration, Diaspora und das Aufwachsen in unterschiedlichen Kulturen anhand Sabanovics persönlicher Geschichte thematisiert. Ebenfalls hinterfragt der Film die kulturelle Identität. Der gelbe Strampelanzug dient als roter Faden durch die 50-minütige Dokumentation.

Für Werffeli war es ein wichtiges Projekt. «Die Schweiz ist eine Aufnahmegesellschaft. Das ist zwar nicht das Hauptthema des Films, doch finde ich es interessant, dies anhand persönlicher Geschichten nahbar zu machen», sagt die Produzentin.

In die Stube, ins Dojo und nach Bosnien

«Mir war es wichtig, meine eigene Geschichte zu erzählen. Ich will nicht darüber sprechen, wer in diesem Krieg welche Fehler begangen hat, denn ich möchte niemanden verletzen», sagt Sabanovic retrospektiv. «Über Verzweiflung und Gefühle könnte ich viel erzählen, das wollte ich jedoch in diesem Rahmen nicht.»

Der Film vermittelt einen tiefen Einblick in Sabanovics Leben. Man wird mitgenommen in ihre Stube, ins Karate-Dojo, das für die Bosnierin seit rund 20 Jahren eine grosse Bedeutung hat. Ebenfalls werden die Zuschauerinnen auf eine Reise in Sabanovics Heimat geführt. Dorthin, wo auch der Strampelanzug letztlich zurückkehrt.

Dzehva Sabanovic in ihrem neuen Haus in Bosnien. (Bild: Babyblu - das letzte Erinnerungsstück, Dokumentarfilm von Edith Werffeli und Lorenz Bohler)

Die Filmmusik stammt von ihrem Sohn

Neben Dzehva Sabanovic kommen auch ihr Mann Alja und deren beiden Söhne Alen und Dino im Film vor. Letzterer schrieb ausserdem die Filmmusik zu Babyblu. «Dass Dino die Musik zum Film komponiert hat, freut mich sehr. Denn wer könnte das besser, als jemand, der diese Geschichte kennt?»

Sie sagt weiter: «Wenn ich die Musik höre, dann bekomme ich Gänsehaut. Man hört, dass auch Dinos Wurzeln in Bosnien sind und er diese Geschichte ein Stück weit miterlebt hat, obwohl er in der Schweiz geboren wurde.»

«Ich weiss heute, wie es sich anfühlt, in der Schweiz zu sein und kein Deutsch zu sprechen.»

«Auch wenn das Leben zeitweise sehr schwierig sein mag, zeigt die Geschichte, dass es besser werden kann. Ich glaube, meine Erfahrung hat mich letztlich zu einer besseren, empathischeren Person gemacht.»

Rückkehr in ein völlig zerbombtes Haus

Und weiter: «Ich weiss heute, wie es sich anfühlt, in der Schweiz zu sein und kein Deutsch zu sprechen. Ich weiss, dass hinter jeder Flucht ein ganzes Leben liegt, dass die Menschen ein Zuhause hatten, eine Familie, eine Ausbildung. Beweisen können sie das meist nicht, da alles im Krieg verbrannt ist.» Und das meint sie nicht im übertragenen Sinne.

Einige Jahre nach dem Krieg reiste Dzehva Sabanovic mit ihrem Mann zurück nach Bosnien und zu ihrem früheren Wohnhaus. Private Aufnahmen von damals, welche auch in «Babyblu» vorkommen, zeigen ein völlig zerbombtes Gebäude.

Der Ukraine-Krieg wirft ein neues Licht auf den Film

Zwar wurden die Arbeiten für «Babyblu» vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges abgeschlossen. Dennoch hat der aktuelle Konflikt einen Einfluss auf das Werk. Werffeli dazu: «Seit Ausbruch des Krieges schaut man den Film ganz anders. Die Geschichte wiederholt sich. Und doch gibt es Unterschiede in der Aufnahmegesellschaft. Die Geflüchteten aus der Ukraine werden sehr positiv aufgenommen.»

Nicht zuletzt gäbe es heute den Sonderstatus S. «Der macht vieles einfacher. Während des Jugoslawienkriegs gab es diesen nicht. Die Geflüchteten mussten sich, einmal in der Schweiz, alleine durchboxen.»

Werffeli hofft, dass der Film etwas bewirkt in der Gesellschaft. «Dass man offen ist, zuhört, woher jemand kommt und welche persönlichen Geschichten hinter einer Flucht stecken.»

Besprechung im War Childhood Museum Sarajevo (v.l. Sandra Mehmedovic, Kuratorin, Dzehva Sabanovic, Protagonistin, Edith Werffeli, Produzentin) (Bild: Edith Werffeli)

Ein einziges Erinnerungsstück

Der Dokumentarfilm «Babyblu» des Regisseurs Lorenz Bohler zeigt die reale Geschichte der Zuger Familie Sabanovic. Er entstand im Rahmen des Project Remember, welches sich für Erinnerungskultur in der Schweiz einsetzt. Der Kanton Zug unterstützt den Film mit 30'000 Franken. Die Produzentin Edith Werffeli zum Projekt: «Die Schweizer Geschichte hinkt gewaltig hinterher mit ihrer Erinnerungskultur. Dabei gäbe es viele Themen, denen man bisher kein Gehör gab.» Die Filmpremiere von «Babyblu» findet am Samstag, 11. Juni 2022, um 20 Uhr im Kino Seehof Zug statt.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Dzehva Sabanovic
  • Telefongespräch mit Edith Werffeli
  • Webseite Project Remember
  • Film Babyblu
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