Autistin: «Ich kann alles machen – aber es hat seinen Preis»
Petra Groth schirmt sich in der Stadt Luzern vor Reizen ab. (Bild: kok)
Isabel, Petra und Melanie sind neurodivergent, die Welt ist für sie oft zu laut, zu grell, zu unvorhersehbar. Zentralplus ist mit den drei Frauen durch Luzern gelaufen.
Schon als Kind nahm Petra Groth Dinge wörtlich, die andere sprichwörtlich meinten. «Manchmal musste man mich stundenlang beruhigen, wenn mir eine Phrase Angst machte», erzählt die 42-Jährige. Zum Beispiel, wenn jemand etwas «todernst» meinte. Mit anderen Kindern spielte sie selten. Lieber beobachtete sie.
Ihre Diagnose erhielt sie erst vor fünf Jahren, nach vielen Fehldiagnosen: Borderline, Bipolarität, Depressionen. «Nichts passte so richtig.» Die Antwort fanden dieKomplementärtherapeutin und ihr Mann, ein Psychiater, gemeinsam. Er erkannte Parallelen zu seinen Patientinnen.
Die Antwort lautete: Autismus.
Viele denken bei Autismus an Figuren wie Sheldon Cooper oder Rain Man – hochintelligent, aber emotionslos. Doch das Autismus-Spektrum ist breit. Manche vermeiden Augenkontakt und ziehen sich zurück, andere reden gern und viel. So wie Petra: «Und ich denke noch zehnmal schneller», sagt sie lachend. Leicht ist das nicht immer, wie ein Spaziergang durch Luzern zeigt.
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Isabel Toblersteht an der Ampel und kneift die Augen zusammen. Die Autos rauschen vorbei, von der Baustelle um die Ecke dröhnen Maschinen, eine Gruppe Menschen redet laut durcheinander. Für sie passiert all das gleichzeitig – ohne Filter.
«Man sagte mir oft: Das ist doch gar nicht so laut oder hell. Reiss dich zusammen», erzählt die 33-Jährige, die an der Hochschule Luzern arbeitet. Seit vier Jahren weiss sie: Sie ist nicht einfach nur ein «Sensibelchen». Sie ist hochsensibel – eine Art der Neurodivergenz.
Was bedeutet neurodivergent?
Als neurodivergent werden Menschen bezeichnet, deren Gehirn anders funktioniert als das der neurotypischen Mehrheit. Sie haben Autismus, ADHS, Legasthenie oder sind hochsensibel. Reize, Sprache und soziale Signale nehmen diese Menschen völlig anders auf.
Das bringt Herausforderungen mit sich, aber auch Stärken: Viele erkennen Muster, denken detailorientiert, sind kreativ oder besonders empathisch. Statt als Defizit wird Neurodivergenz heute zunehmend als natürliche Vielfalt menschlicher Wahrnehmung verstanden.
Autisten und Neurodivergente leiden unter dem Lärm in Luzern
Die Stadt Luzern hält Isabel für besonders laut. Basel und Zürich hätten Innenstädte und Quartiere, die stärker verkehrsberuhigt sind. Wenn der Lärm zu stark wird, erlebt die junge Frau körperliche Schmerzen. Später hat sie «null Energie». Das kann bis zu einem «Blackout» führen, einem wachen Zustand, in dem sie fast handlungsunfähig ist.
Die Natur kann als Ausgleich helfen. Doch selbst auf dem Sonnenberg oder im Bireggwald hört sie die entfernte Geräuschkulisse der Strassen. «Hier ist es fast nie ruhig», sagt sie, während die Autos auf dem Hirschengraben an ihr vorbeirasen.
Der Lärm ist auch für Petra eine Herausforderung. Sie trägt daher unter ihrem Stirnband Airpods, die Geräusche von aussen unterdrücken. Dazu eine Kappe, beim Laufen blickt sie auf den Boden vor sich. «Die Kappe ist für mich wie Scheuklappen.» Reize reduzieren, das ist ihr Ziel.
Das zeichnet viele Autistinnen aus
Plötzlich zeigt sie auf den Boden. Eine kaum sichtbare, durchsichtige Zahnspange liegt dort. Niemand in der Gruppe hat sie bemerkt, nur sie. Dann wieder zeigt sie auf ein weit entferntes Velo, dessen Licht flackert. Auch das ist niemandem ausser ihr aufgefallen.
Petras Blick für Details ist scharf. Sie nimmt vieles wahr. Ausserdem könne sie gut einschätzen, was andere fühlen würden, erzählt sie. «Ich spüre, was die andere Person spürt. Das ersetzt, was ich in ihrem Gesicht nicht sehe.» Vielen Menschen aus dem Autismus-Spektrum fällt es schwer, Gesichtsausdrücke zu deuten. Sich einer fremden Person gegenüber angemessen zu verhalten, muss daher für viele erst erlernt werden.
«Beobachten, lernen, imitieren», so fasst es Petra zusammen.
Jede Entscheidung kostet Energie
Ihr Mann, der Psychiater Kai Groth, findet eine Analogie: «Leben ist wie Schachspielen. Manche Menschen ziehen intuitiv. Autisten sind Spieler, die über jeden Zug lange nachdenken.» Seine Frau Petra ergänzt: «Ich habe keinen Autopiloten im Kopf, ich muss alles bewusst entscheiden.» Das koste sehr viel Energie.
Was ziehe ich an? Wohin gehe ich? Liegt vielleicht irgendwo eine Baustelle, die ich nicht kenne? All diese Szenarien spielt Petra im Kopf durch, bevor sie das Haus verlässt. Eigentlich könne sie alles machen, sagt die 42-Jährige. «Aber es hat seinen Preis.» Und der heisst vielfach: völlige Erschöpfung.
Melanie hat ihre Autismus-Diagnose erst seit Kurzem
Melanie Z. stösst etwas später zur Gruppe. Die 35-Jährige hatte Stress: Stau, Parkplatzsuche in einer fremden Stadt. «Ich kann dann nicht mehr richtig denken», sagt sie. Ihr Partner musste übernehmen und sie führen.
Wie Petra erhielt Melanie ihre Diagnose erst als Erwachsene – nach Jahren der Suche. Borderline, ADS – viele Labels, nichts passte wirklich. Dann entdeckte sie die Netflix-Serie «Love on the Spectrum» und erkannte sich in den Figuren wieder. Seit ein paar Monaten weiss sie: Sie ist Autistin.
Ihre Eigenheiten begleiten Melanie täglich. Auf der Arbeit fällt es ihr schwer, Small Talk zu führen. Ihr Coach musste ihren Kollegen erst erklären, dass ihre Stille keine Abneigung sei – sondern Teil ihres Autismus. Im Bus sitzt sie immer auf demselben Platz. Ist der besetzt, gerät sie in Stress.
Auch Gerüche sind für sie ein grosses Thema. Parfüm, Essen, Schweiss – der Cocktail in einem Klassenzimmer oder im Bus sei kaum auszuhalten. «Ich habe dann das Gefühl, die Gerüche haften an mir.» Isabel, die hochsensibel ist, geht es ähnlich: Sie hält den Atem an, wenn stark parfümierte Menschen an ihr vorbeigehen.
Das kann neurodivergenten Menschen helfen
Die Gespräche mit Melanie, Isabel und Petra zeigen, wie unterschiedlich die Wahrnehmung sein kann. Auch in den Reihen neurodivergenter Menschen. Doch ihre Bedürfnisse sind ähnlich. Vorhersehbarkeit, Planbarkeit, Reizarmut – diese drei Dinge würden allen drei helfen, wie sie sagen.
Restaurants oder Veranstaltungsorte könnten zum Beispiel mehr Bilder und Videos anbieten, damit man sich vorbereiten kann, wie es dort ist. Strassen müssten leiser sein. Und vor allem: Vorurteile abgebaut werden.
Isabel zum Beispiel erzählte anfangs nur engen Freunden von ihrer Hochsensibilität: «Zu sensibel zu sein, ist nie gut. Menschen denken dann, man sei nicht leistungsfähig.» Dabei sei das Gegenteil der Fall – wenn sie in Ruhe arbeiten könne, sei sie hoch konzentriert und produktiv.
Autisten als «Warnsystem»
Petra findet, die Gesellschaft könnte sich Autisten sogar zunutze machen. Zum Beispiel, um Stressquellen zu identifizieren. «Menschen brauchen Struktur, und wir merken als Erste, wenn sie nicht gegeben ist. Wir könnten ein Warnsystem sein, bevor es andere merken.» Stress sei schliesslich für alle Menschen eine Krankheitsursache.
Am Ende des Spaziergangs fällt auf: Es wurde viel gelacht. Ob Autisten lustige Menschen seien, wird Petra gefragt. Sie sagt: «Das direkte Ansprechen von Dingen finden neurotypische Menschen lustig.» Sie lache dann gern mit, wisse manchmal aber gar nicht, warum.
Umgekehrt findet die Autistin neurotypische Menschen oft amüsant: «Manchmal redet ihr ewig aneinander vorbei und merkt es gar nicht.»
hat Politikwissenschaften, Philosophie und Wirtschaft studiert und an der Universität Luzern zur Mobilität von Gesetzen geforscht. Seit 2022 bei zentralplus, zuständig für die Ressorts Bauen&Wohnen und Verkehr&Mobilität. Parallel absolviert er die «Diplomausbildung Journalismus» am MAZ Luzern.