Als Verdingkind missbraucht: Luzernerin fordert Gerechtigkeit
Die junge Theresa Rohr-Steinmann (zweite von rechts, unten) im Kreise ihrer Geschwister. Wenig später wurden die Kinder getrennt und verdingt. (Bild: zvg)
Die Luzernerin Theresa Rohr-Steinmann wurde als Kind verdingt. Der Bund hat dieses Unrecht anerkannt und zahlt einen Solidaritätsbeitrag. Kanton und Gemeinden leisten keine Entschädigung – obwohl sie hauptschuldig sind.
«Du bisch so nömme tragbar» oder «Du gosch jetzt go schaffe, Meitschi, du hesch gnue choschtet»: Mit Sätzen wie diesen ist die inzwischen 78-jährige Theresa Rohr-Steinmann aufgewachsen. Sie ist eines von vielen Opfern sogenannter fürsorgerischer Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen in der Schweiz.
Menschen kamen ohne ihr Einverständnis in Heime, junge Frauen mussten zwangsweise ihr Kind abtreiben oder sich sterilisieren lassen. Arme und alleinerziehende Eltern mussten behördlich verordnet ihre Kinder abgeben. Oftmals wurden sie als sogenannte Verdingkinder auf Bauernhöfen und Handwerksbetrieben zur Arbeit gezwungen, erhielten dafür aber keinen Franken. In Kinderheimen, «Erziehungsanstalten» oder bei behördlich zugewiesenen Pflegefamilien erlebten viele körperliche und psychische Gewalt, auch sexuellen Missbrauch. Dieses Unrecht hat die Schweiz gesetzlich anerkannt und zahlt den Opfern seit der Wiedergutmachungsinitiative von 2016 einen einmaligen Solidaritätsbeitrag von 25’000 Franken.
Doch mehr als ein Dutzend Opfer dieser Behördenmassnahmen, darunter auch Theresa Rohr-Steinmann, kritisieren ein neues Unrecht.
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Einige Betroffene werden doppelt entschädigt
Seit 2023 zahlt auch die Stadt Zürich einen Solidaritätsbeitrag. Der Kanton Schaffhausen will ab 2025 einen Beitrag einführen. Denn: Für die Fremdplatzierungen oder Versorgungen waren beispielsweise die gemeindlichen Armen- oder Vormundschaftsbehörden zuständig, nicht der Bund (zentralplus berichtete).
Damit erhalten Schaffhauser und Stadtzürcher Opfer in Zukunft eine doppelt so hohe Entschädigung als solche aus anderen Regionen. Obwohl sie diese zusätzliche Entschädigung sehr begrüsse, sei damit eine «Zweiklassengesellschaft» unter den Betroffenen entstanden, kritisiert Rohr-Steinmann. Sie und weitere Behördenopfer haben deshalb rund 150 Briefe an lokale Politikerinnen in den betroffenen Kantonen verschickt, wie der «Beobachter» schreibt. Ihr Ziel: In den bisher untätigen Kantonen sollen die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden, damit sie sämtlichen Betroffenen einen kantonalen Solidaritätsbeitrag leisten können. Die 78-Jährige hat sich an die Luzerner Fraktionspräsidenten gewendet.
Sie litt so stark, dass sie als Siebenjährige von zuhause floh
Geboren ist Theresa Rohr-Steinmann im luzernischen Wauwil, als Zweitjüngste einer armen Grossfamilie, wie sie am Telefon erzählt. Als sie zwei Jahre alt war, starb ihre Mutter nach der Geburt, zusammen mit ihrem achten Kind. Ihre beiden älteren Schwestern wurden schon bald danach verdingt, eine an einen Bauern, die andere in eine Schweinemästerei. Die jüngeren Geschwister und sie blieben zuhause. Ihr Vater heiratete schon bald eine zugezogene Haushälterin, bald hatte Rohr-Steinmann fünf weitere Geschwister.
Doch die Stiefmutter quälte die Kinder aus erster Ehe des Vaters: «Sie hat uns immer wieder auf böse Weise willkürlich bestraft und uns dabei auch immer wieder geschlagen. Wir haben es einfach nicht mehr ausgehalten.» Als sie siebeneinhalb Jahre alt war, sind sie, ihre beiden Brüder und ihre jüngere Schwester nach der Schule weggelaufen. Sie liefen bis in die Nacht, bis die Polizei sie auf einer Landstrasse aufgriff.
«Dort habe ich einen Filmriss», so Rohr-Steinmann. Sie weiss nur noch, dass sie in jener Nacht zum ersten Mal in einem Auto fuhr. Kurze Zeit später wurden die Kinder vormundschaftlich von der Familie getrennt: Sie kam zur Pflege in eine Schreinerei, ihre Brüder zu einem Bauern, ihre jüngere Schwester in eine andere Pflegefamilie.
Weil sie mit zehn Jahren wegen ihres schwierigen Verhaltens nicht mehr tragbar gewesen sei, schickte ihre neue Pflegemutter sie wieder weg. Der damalige Luzerner Erziehungsdirektor wollte sie in ein «Beobachtungsheim» schicken, ein Ort, in dem «verhaltensauffällige Kinder» umerzogen wurden. Zwei Psychiater erklärten sie für schwachsinnig und geistesgestört. Erst ein dritter Arzt beurteilte das Kind einfach als «trotziges Mädchen». Er plädierte dafür, sie stattdessen ins Kinderheim Mariazell in Sursee zu schicken. Dafür ist Rohr-Steinmann ihm bis heute sehr dankbar, nennt ihn gar ihren Schutzengel. Auch wenn ihre Leidensgeschichte da noch nicht abgeschlossen war.
Plötzlich nahm sie eine ältere Frau mit
Im Kinderheim in Sursee wurden sie von den Ordensschwestern zwar gut umsorgt, doch auch da habe sie keine richtige Kindheit erlebt, wie Rohr-Steinmann erzählt. Obwohl ihre Schwester und ihr Bruder ebenfalls in dieses Kinderheim platziert wurden, hatten sie kaum Kontakt miteinander. Strikt getrennt nach Geschlechtern besuchten sie die interne Schule, mussten früh aufstehen, viel beten, viel in die Kirche.
Als gute Schülerin wollte sie mit zwölf Jahren in eine Sekundarschule, dafür musste sie auf Geheiss des Vormunds aber das Heim verlassen und zu einer Pflegefamilie wechseln. «Wie sie die so schnell gefunden haben, verstehe ich bis heute nicht», so Rohr-Steinmann. Plötzlich stand im Heim eine ältere Frau vor ihr und sagte: «Ich nehme dich nun mit.» Sie landete bei einer Bauernfamilie in ihrer Heimat Wauwil. Dort durfte sie zwar die Sekundarschule besuchen. Daneben wartete jedoch täglich viel Arbeit im Haushalt der Pflegefamilie: Sie musste kochen, putzen und vieles mehr. Dort wurde sie auch sexuell missbraucht.
Sie erzählt das alles ohne zittrige Stimme, wirkt aufgeräumt. Um so weit zu kommen, habe sie ihre belastete Kindheit und Jugendzeit lange in einer Therapie aufgearbeitet, erzählt Rohr-Steinmann. Ihre Geschwister wurden von ihrer Vergangenheit eingeholt, drei von ihnen nahmen sich das Leben. Mit ihrer ältesten, erst in diesem Jahr verstorbenen Schwester habe sie leider kaum Kontakt gehabt. Sie habe zwar immer wieder versucht, mit ihr zu sprechen – doch erfolglos. Rohr-Steinmann vermutet, dass ihre Schwester nicht mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden wollte. Die frühe Trennung vom Vater und den anderen Geschwistern machte allen wohl am meisten zu schaffen. «Das Getrenntsein von der Familie, das kann man nie wieder aufholen.»
Ihre Geschichte zu erzählen, gibt ihr Kraft
Was ihr half, sei ihre Kämpfernatur, betont die 78-Jährige immer wieder. «Ich bin immer vorwärtsgegangen und nicht stehengeblieben.» Geholfen habe ihr, ihre Geschichte zu erzählen. So auch im Erzählbistro, bei dem Betroffene fürsorgerischer Massnahmen und von Fremdplatzierungen heute an verschiedenen Orten in der Schweiz zusammenkommen, ihre Geschichten erzählen und Erfahrungen austauschen. Für sie sind die teilnehmenden Betroffenen inzwischen wie eine zweite Familie. Das Erzählbistro habe ihr in diesem Jahr ermöglicht, ihre Lebensgeschichte auch in einem kleinen Buch aufzuschreiben. Der Titel: «Trotz dem Leben», wie sie voller Stolz erzählt.
Heute lebt sie in Badisch Rheinfelden, der deutschen Schwesterstadt von Rheinfelden auf der Schweizer Rheinseite. Abgeschlossen mit diesem dunklen Kapitel ihres Lebens hat sie aber nicht. Immer wieder erzählt sie ihren Lebensweg: den Medien, bei Anlässen, in Schulzimmern. «Das gibt mir Selbstvertrauen. Endlich, endlich öffentlich erzählen zu dürfen und dass mir meine Geschichte geglaubt wird!» Die Wertschätzung und Wärme, die sie dann spüre, gebe ihr lange Zeit nicht vorhandenes Selbstvertrauen und Würde zurück. Mit ihrem Engagement als Zeitzeugin will sie verhindern, dass so etwas jemals wieder passieren kann. Ihr sei es ein grosses Anliegen, solche Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und hinzuschauen, hinzuhören und ihre Stimme dagegen zu erheben. Weil es bei ihr damals niemand tat.
Kanton und Gemeinden sollen Mitschuld anerkennen
Dieser Gerechtigkeitsgedanke ist es auch, der Theresa Rohr-Steinmann dazu gebracht hat, den Brief an die Luzerner Politiker zu schreiben. Ihr gehe es nicht ums Geld, sondern um die Ungleichbehandlung der Opfer bei der finanziellen Anerkennung behördlicher Schuld. Behörden aller Kantone und ihrer Gemeinden waren an diesen Verbrechen an Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen beteiligt – deshalb sollen sie auch alle Opfer auf gleiche Art und Weise entschädigen. «Ihre Schuld wiedergutzumachen ist nicht möglich. Dafür würden auch 200’000 Franken je Opfer nicht ausreichen.»
Ihr gehe es um die rasche Anerkennung gegenüber den Opfern, dass auch die verantwortlichen Kantone und Gemeinden eine Mitschuld tragen. «Viele von uns Opfern sind bereits betagt und viele bestreiten ihr Leben wegen ihren Beeinträchtigungen und ihrem Werdegang mit minimalen finanziellen Mitteln», so Rohr-Steinmann. Die geforderte Entschädigung seitens Kantone sei deshalb «angemessen und berechtigt».
«Denn es waren ihre Gemeinden, ihre Vormundschaftsbehörden, ihre Pflegebeauftragten, ihre beaufsichtigten Heime und Einrichtungen mit oft gewalttätigen und misshandelnden Betreuenden, ihre fehlgeleiteten Ärzte, ihre Schulen mit ihren ausgrenzenden, strafenden und oft auch übergriffigen Lehrern, ihre kantonal unterstützten Kirchen mit ihren oft mitwirkenden und meist nur zuschauenden Pfarrern. Kurz, es war die gesamte wegschauende Gesellschaft.»
Das sagen die Luzerner Politiker dazu
Grüne-Fraktionschef Samuel Zbinden hat Verständnis für das Anliegen der Betroffenen. «Es ist wichtig, dass die Behörden ihre Fehler eingestehen, sich bei den Betroffenen entschuldigen und die Geschichte aufarbeiten.» Es sei daher legitim, das auch vom Kanton Luzern einzufordern. Die Grüne-Partei überlege sich daher, gemeinsam mit anderen Fraktionen einen Vorstoss zum Thema einzureichen, so Zbinden.
Auch SP-Fraktionschef Marcel Budmiger will das Thema politisch aufnehmen. «Es ist stossend, dass die Betroffenen je nach Kanton mehr, weniger oder gar nicht entschädigt werden. Es bleibt hier noch viel Aufwand zur Aufarbeitung der Vorkommnisse und Einzelschicksale.» Zudem wäre ein koordiniertes Vorgehen der Kantone wünschenswert, findet er.
Thema kommt ins Kantonsparlament
Die Mitte-Fraktion habe ihre Haltung noch nicht definiert, wie Fraktionschef Adrian Nussbaum auf Anfrage schreibt. Zuerst wollen sie das Thema intern diskutieren. Auch die SVP will das Thema erst noch in der Fraktion behandeln, heisst es von der Fraktionspräsidentin Angela Lüthold-Sidler. FDP-Fraktionschef Georg Dubach nehme dieses Anliegen ernst und will es mit der «gebotenen Sorgfalt» beurteilen.
Das Schreiben von Rohr-Steinmann soll nun als Petition im Luzerner Kantonsrat behandelt werden. Der Solidaritätsbeitrag wird somit in jedem Fallim Parlament diskutiert. Sehr zur Freude von Theresa Rohr-Steinmann. «Dass die Leute hinschauen und uns jetzt ernst nehmen – das freut mich unwahrscheinlich.»
Schreibt über alles, was Luzern und Zug aktuell beschäftigt. Im ländlichen Luzern aufgewachsen, hat sie beim «Entlebucher Anzeiger» ihre Begeisterung für Lokaljournalismus entdeckt. Nach einem Studium in Medienwissenschaften und Englisch ist sie seit September 2021 bei zentralplus. Nebenbei absolviert sie derzeit die Diplomausbildung Journalismus am MAZ.