Trockener Alkoholiker aus Luzern erzählt

Alkohol in der Migros? «Es triggert jedes Mal wieder»

Experten gehen davon aus, dass es in der Schweiz eine Viertelmillion Alkoholkranke gibt. (Symbolbild: Adobe Stock)

Die Migros plant, künftig Bier und Schnaps zu verkaufen. Für trockene Alkoholiker ist das schwierig, sagt ein Suchtexperte. Viele gehen bewusst in der Migros einkaufen, weil sie da nicht in Versuchung kommen. Toni, ein trockener Alkoholiker aus Luzern, brauchte 13 Jahre, bis es ihm nichts mehr ausmachte, an Alkoholregalen vorbeizugehen.

Hundert Jahre lang gab es in der Migros keinen Wein und kein Bier zu kaufen. Das könnte sich bald ändern. Am vergangenen Wochenende haben die Delegierten des Genossenschaftsbundes den Weg für den Alkoholverkauf geebnet (zentralplus berichtete).

Das könnte für viele Menschen ein Problem werden. Nämlich für trockene Alkoholiker. Einer von ihnen ist Toni aus Luzern. Er ist alkoholsüchtig und mittlerweile seit 33 Jahren trocken. Dennoch sagt er: «Alkoholismus kann man nicht heilen, sondern nur zum Stillstand bringen.» Den Weg der Abstinenz zu gehen war nicht immer einfach. Gerade in der Anfangsphase. «In den ersten Jahren erledigte ich bewusst meine Einkäufe nicht in Läden, wo Bierdosen und Whiskyflaschen schön auf den Regalen präsentiert wurden», sagt Toni.

Warum? «Weil es jedes Mal wieder triggerte. Die Lust aufkam, wenn ich eine Werbung mit einer Stange Bier sah, wie das Kondenswasser am Glas abperlt … und wie ich jedes Mal den Geschmack des kühlen Biers im Mund hatte.» Toni wurde deswegen Migros-Kunde. Und wenn er doch mal in einen anderen Laden musste und das Alkoholregal in Sicht war, «ging ich möglichst rasch daran vorbei und schaute auf die andere Seite».

33 Jahre trocken: Der Reiz ist vergangen

Die Versuchung war immer da. Sei es, wenn Toni Plakate und TV-Werbespots sah. Oder wenn er an einer Beiz vorbeiging, in der jemand eine Stange Bier trank. Gerade in den ersten Jahren der Abstinenz ist dieser Trigger besonders stark. «Ich habe 13 Jahre lang gebraucht, bis es mir nichts mehr ausgemacht hat», sagt Toni. «Heute stört es mich nicht mehr.» Er kann mittlerweile auch in Geschäften einkaufen, die Alkohol abieten. Und mit Freunden, die ein Glas Wein trinken, an einem Tisch sitzen – ohne dass es ihn triggert.

«Ein solcher Reiz führt schnell zu einem Kurzschluss der Synapsen.»

Toni, seit 33 Jahren trocken

Um anderen zu helfen, hat Toni 2009 gemeinsam mit Freunden den Alano Verein Zentralschweiz gegründet. Ziel war es, einen alkohol- und drogenfreien Treffpunkt auf die Beine zu stellen, den sie dann an der Gibraltarstrasse 26 eröffneten. «In den Meetings höre ich immer wieder, dass trockene Alkoholikerinnen am liebsten in der Migros einkaufen gehen. Und was ich auch höre: Dass viele rückfällig werden, wenn sie Alkohol sehen.»

Der Rückfall passiert schneller als gedacht

Toni weiss selber, wie schnell man rückfällig werden kann. Er erzählt, wie er einmal in einer Kantine ein Mousse-au-Chocolat gegessen hat. Und den leichten Geschmack von Kirsch im Mund hatte. «Auch wegen Brunsli hatte ich einmal fast einen Rückfall», sagt Toni. Die Guetzli, die mit Kirsch angereichert waren, habe er damals sogar in der Migros gekauft. «Ein solcher Reiz führt schnell zu einem Kurzschluss der Synapsen.»

Man müsse ein Bewusstsein dafür erarbeiten, um den Alkohol zu umgehen. Und Freunden immer wieder sagen, dass man auch nach Jahren des Trockenseins nicht mit einem Glas Wein anstossen möchte.

«Für diese, die sich phasenweise oder dauerhaft für die Abstinenz entscheiden, wird es beim täglichen Einkaufen noch schwieriger.»

Ruedi Studer, Suchtexperte

Toni kann mittlerweile an den Alkoholregalen im Laden vorbeigehen, ohne dass es in ihm etwas auslöst; doch er kennt viele, denen das schwerfällt. «Es braucht dann viel mehr Überwindung und Selbstdisziplin, dass man nicht zur Flasche greift. Für viele alkoholkranke oder -gefährdete Menschen kann es ein echtes Problem werden, wenn es künftig auch in der Migros Alkohol gibt», sagt Toni.

Extrem starke Reize, die verführen können

Genauer gesagt für mehr als eine Viertelmillion Menschen. So viele sind in der Schweiz alkoholabhängig. «Für diese, die sich phasenweise oder dauerhaft für die Abstinenz entscheiden, wird es beim täglichen Einkaufen noch schwieriger», sagt Suchtexperte Ruedi Studer. Er ist Sozialarbeiter und Geschäftsführer von «Klick» in Luzern, wo unter anderem Menschen mit problematischem Konsum respektive Abhängigkeit von Alkohol und Medikamenten beraten werden. Bereits das Blaue Kreuz und auch der Verein Windrad haben vor einer Aufhebung des Alkoholverbots gewarnt (zentralplus berichtete).

Vermutlich sind sich viele von uns der Problematik gar nicht bewusst. «Es kann immer zur Gefahr werden», sagt Studer. «Es sind extrem starke Reize, die dazu verführen, zum bevorzugten alkoholischen Produkt zu greifen. Und wenn Betroffene dann nach einem Trinkvorfall zu uns in die Beratung kommen, wissen sie meist gar nicht, wie das passieren konnte. Sie wollten das ja gar nicht.»

«Wir stellen häufig fest: Vermeiden ist die beste Strategie. Und vermeiden heisst eben auch: Man geht in Läden einkaufen, in denen es keinen Alkohol gibt.»

Ruedi Studer

Es ist das sogenannte Suchtgedächtnis, das reagiert. Denn nur schon das Sehen von alkoholischen Getränken führt bei diesen Personen im Gehirn zu einem Dopamin-Kick. Die Lust wird angeheizt, denn das Trinken hat stets zu einem guten Gefühl geführt, das man immer wieder haben will. Über eine längere Konsumdauer bildet sich damit im Gehirn eine Gedächtnisspur dieses befriedigenden Verhaltens. Und weil das so ist, wird es stets wiederholt.

Die ständige Wiederholung dämpft dann aber die Alkoholwirkung, sodass immer mehr getrunken werden muss, um noch die erhoffte Wirkung zu erzielen, wie Ruedi Studer erklärt. Später wird dann nur noch getrunken, um unangenehme Entzugserscheinungen nicht mehr erleben zu müssen. Ein Teufelskreis. Auch nach längerer Abstinenzzeit reagiert das Gehirn extrem stark und innert Sekundenbruchteilen auf Auslösereize – ein potenzielles Risiko.

Alkohol: omnipräsent und billig erhältlich

Das Problem: Alkohol ist allgegenwärtig. Einfach zu kriegen und billig. So kann man eine Dose Bier um die Ecke bereits für 50 Rappen kaufen. Wer seinen übermässigen Alkoholkonsum reduzieren will, wird also permanent mit der Verführung konfrontiert und muss widerstehen. «Wenn wir mit unseren Klientinnen und Klienten zu Beginn über Möglichkeiten des Selbstschutzes sprechen, so stellen wir häufig fest: Vermeiden ist die beste Strategie. Und vermeiden heisst eben auch: Man geht in Läden einkaufen, in denen es keinen Alkohol gibt.» Studer erzählt auch von Personen, die bewusst eine Migros aufsuchen, in der es auch nebenan nicht einen anderen Grossverteiler gibt, der Alkohol verkauft, um nicht in Verführung zu geraten.

Bleibt die Frage, ob es Aufgabe der Migros ist, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und gegen das Suchtproblem vorzugehen, indem sie auf den Alkoholverkauf verzichtet. Die Entscheidung liege natürlich bei der Migros, sagt Studer. «Wir würden es aber sehr bedauern. Weil die Migros bis anhin sehr vorbildlich war und nicht wirtschaftliche Profit-Maximierung in den Fokus gerückt hatte. Eine Aufhebung des Alkoholverbots würde den Weg der Abstinenz für trockene Alkoholikerinnen und Alkoholiker noch mehr erschweren.»

Definitiv beschlossen ist bei der Migros noch nichts. Bis Anfang Dezember müssen der Verwaltungs- und der Genossenschaftsrat der Migros Luzern entscheiden, ob sie das Alkoholverkaufsverbot in der Migros Luzern aufheben wollen. Wenn dem auch die Genossenschafterinnen im Juni 2022 an der Urabstimmung entsprechen, kommen Wein und Bier frühestens 2023 in die Regale.

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3 Kommentare
  • Profilfoto von minou
    minou, 15.11.2021, 10:40 Uhr

    Leider ist der Profit überall das höchste Gebot. Die Migros (der Name bedeutet kleine Portionen) ist schon lange nicht mehr was sie mal war.
    Es gibt so viele Leute die alleine wohnen und oft nicht von den Aktionen profitieren können, weil Migros mindestens zwei Packungen (die nochmals speziell verklebt und verpackt sind) verkaufen will. Dies heisst mehr Plastik-Abfall und oftmals auch Essen, das im Mülleimer landet.
    Und nun müssen sich die armen Alkoholiker und solche die es noch werden, auch noch von der Migros verführen lassen. Das macht mich traurig und ich finde es perfid.
    Das Problem des billigen Zuckers, der praktisch jedem Lebensmittel zugefügt wird, damit wir noch mehr zugreifen und noch dicker und kränker werden, hat auch ein grosses Suchtpotenzial.
    Migros gibt sich immer so Familienfreundlich und das ist sie definitiv nicht.
    Profit, Profit ist das gelobte Wort auch von Migros. Die Suchtkranken werden nicht gezählt…..
    Das heisst dann Eigenverantwortung…..

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  • Profilfoto von Müller
    Müller, 15.11.2021, 08:42 Uhr

    Die Migros ist schon lange nicht mehr was sie einst war leider, Metzgereien gibt es bald keine mehr, auch Frisch Bäckereien ,Confiserien, eine Tolle Migos gibt es doch noch Sonnenplatz Emmenbrücke,
    ein Graus die Migros Grossmatte Littau Abgepacktes Fleisch ,Der braten Schwimmt im Saft mit Blut vermischt für einzel Personen weit Gefehlt, Glück wen man bekommt was man sucht, Jezt also noch in die zum teil zu kleinen Migros auch noch den Alk Reinwürgen,

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  • Profilfoto von Ein Migi Kind
    Ein Migi Kind, 15.11.2021, 07:07 Uhr

    Wenn die Migros anfängt Alkohol zu verkaufen dann kann ich gleich in zum Aldi gehen. Der Fokus auf gut Produkte und guter Service geht verloren, wenn ich als Filialleiter/in etliche Mankos einfach mit den Margen auf Alkohol und Tabak wettmachen kann. Und wofür? Muss die Migros mehr Umsatz machen, oder einen grösseren Markanteil erreichen? Wenn es der Migi nur ums Geld geht, und die Rolle der Genossenschaft in der Gesellschaft sekundär ist, wie auch der gute Service und die guten Produkte, dann bin ich bei Aldi besser bedient. Bio krieg ich dort auch.

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