Ein Paraplegiker über Familie, Beziehungen, Sexualität und Beruf

Abseits vom Rampenlicht findet das Leben statt

Stefan Thum unterwegs mit seiner Hündin Cindy. (Bild: zvg)

Wie lebt ein Mensch, der seit 33 Jahren im Rollstuhl sitzt? Stefan Thum aus Emmenbrücke, der als zwölfjähriger Bub verunfallte, trotzt vielen Widrigkeiten des Lebens mit Humor und Kreativität.

Über Menschen mit einer Behinderung, die Ausserordentliches zustande bringen, berichten die Medien gerne. Ausser Zweifel gibt es diesbezüglich immer wieder Erstaunliches zu berichten. Weil sich aber das wahre Leben bekanntlich abseits vom Rampenlicht abspielt, wollte zentralplus für einmal einen Menschen mit Behinderung in den Fokus rücken, der weder in sportlicher noch in beruflicher Hinsicht mit Spitzenleistungen hervorsticht.

Während wir von der Medienstelle der Paraplegiker-Stiftung auf Anfrage nichtsdestotrotz an einen 18-jährigen Rennrollstuhlsportler verwiesen wurden, führte der Umweg über die Inkontinenzfachfrau zum Ziel. Denn Ursula Elmiger, die ihr eigenes Geschäft in Sempach betreibt, hat einen guten Draht zu ihren Klienten.

Bevor wir weiterfahren, soll an dieser Stelle noch etwas über die Autorin dieses Porträts angemerkt sein: Wie Stefan Thum, der sogleich porträtiert wird, lebt auch sie mit einer Paraplegie. Unter ihres- bzw. seinesgleichen lässt sich über vieles offen reden und man spricht sich natürlich per du an.

Aber wenden wir uns nun unserem Mann zu, der bereits als Kind verunfallt ist und sich später im Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil am Stammtisch und in der Raucherecke herumtrieb, anstatt sich in einen Rennrollstuhl zu setzen.

Kein Vorzeigebehinderter: zu unkonventionell sein Charakter, zu brüchig seine Biografie

Wir treffen uns in einem Tankstellencafé in Emmen. Etwas Bauch, ein Outfit ohne Schnickschnack, lebendige, warme Augen, die schon bald einen erfrischenden Humor verraten. Seit vor drei Jahren eine Beziehung in die Brüche gegangen ist, hat er die schwarze Hündin Cindy an seiner Seite. Doch die wartet jetzt brav im Auto. Es wird schnell klar, dass der 45-Jährige aus Emmenbrücke nicht zu den Vorzeigebehinderten gehört: zu eigenwillig sein Charakter, zu brüchig seine Biografie.

Schon 33 Jahre sitzt er im Rollstuhl. Stefan hat viel zu erzählen. Nicht alle seine Gedankengänge sind auf Anhieb verständlich, doch zu vielem hat er eine pointierte Meinung. Etwa, wenn es um den Spitzensport im Rollstuhl geht. Das sei nie etwas für ihn gewesen, sagt er. «Warum tun sich die Behinderten das an? Geht es denen nicht bloss um die gesellschaftliche Anerkennung in unserer Leistungsgesellschaft?»

Der Sturz mit lebenslänglichen Konsequenzen

Als 12-jähriger Bub ging Stefan mit einem Kameraden in den Wald spielen. Als er dort in eine Höhle steigen wollte, fiel er 13 Meter in die Tiefe und blieb mit einem gelähmten Körper liegen. Damals wohnte seine Familie in Weesen am Walensee. Es folgte ein mehrmonatiger Aufenthalt im Kinderspital Basel. Die Unfähigkeit, die Beine zu bewegen, die fehlende Empfindung, der Verlust des Temperaturgefühls, die Lähmung von Blase und Darm; das ist traumatisch. Wie geht ein Kind mit einem solch einschneidenden Ereignis um? Stefan erinnert sich: «Geweint habe ich nicht. Ich war im Kinderspital mit sieben anderen Kindern im Zimmer, es lief immer etwas und du musst wissen; ich bekam da sehr viel Aufmerksamkeit.»

«Einmal sagte mir eine Frau, der Geschlechtsverkehr mit mir sei ‹wie mit einer Leiche zu vögeln›.»

Und wie reagierten seine Eltern, als ihr einziges Kind nach zweieinhalb Monaten aus dem Koma erwachte und sie mit der Realität konfrontiert waren, dass ihr Sohn, nun vom Rumpf abwärts gelähmt, sein Leben im Rollstuhl würde bewältigen müssen? Folgendes lässt sich festhalten: Um ihrem Kind während der Erstrehabilitation möglichst nah zu sein, nahm sich seine Mutter eine kleine Wohnung in der Nähe des Kinderspitals.

Der Vater sei damals nicht so oft ans Krankenbett gekommen, weil er nicht vor ihm weinen wollte, vermutet Stefan heute. Später bauten seine Eltern ein rollstuhlgängiges Einfamilienhaus. Die Mutter sei schon vor seinem Unfall zu fürsorglich gewesen, danach und bis heute sei diese Überfürsorglichkeit für ihn ein Problem. Die heute 75-Jährige komme einmal im Monat aus dem Bündnerland zu ihm auf Besuch, sagt Stefan. Mit dem Vater sei es entspannter gewesen, aber nur wenn die Mutter nicht dabei gewesen sei.

Leben in einem gelähmten und tauben Körper

Für manches im Leben wirken Worte irgendwie immer fehl am Platz. Auch wenn in der Öffentlichkeit über Sexualität, Blasen- und Darmfunktion bei einer Querschnittlähmung gesprochen wird, erweisen sich die Worte schnell einmal als dürftig. Hört man Rollstuhlfahrer selbst über ihre körperliche Versehrtheit sprechen, kann das manchmal befremdlich bis peinlich wirken. Da kann Stefan ins Lästern kommen, denn mit solchen hat er das Heu nicht auf der gleichen Bühne.

Und weil wir hier in dieses Fettnäpfchen nicht treten wollen, soll von unserem Gespräch nur folgende unverblümte Aussage ausgeplaudert werden: «Einmal sagte mir eine Frau, der Geschlechtsverkehr mit mir sei ‹wie mit einer Leiche zu vögeln›.» Wir lachen. Um zu überleben, muss der Humor manchmal rabenschwarz werden. Und natürlich ist die Wahrheit, wie immer, ganz anders.

Stefan Thum findet, mit einer «Glatze» werde man von den Menschen ernster genommen. (Bild: Marlis Huber)

Das SPZ bietet zum Thema Sexualität und Querschnittlähmung Kurse für Betroffene an. «Ich hätte dort gerne mit der Kursleiterin zusammengearbeitet, aber die wollte mich da nicht haben», sagt Stefan. Man versteht und bedauert es zugleich.

Manchmal ist es nicht einmal möglich in der eigenen Familie offen über die körperliche Versehrtheit zu reden. Bei Stefan passierte der Unfall kurz vor der Pubertät. Über die körperlichen Veränderungen mögen in dieser Zeit wohl die wenigsten gesunden Kinder mit ihren Eltern reden. Wie gingen Stefans Eltern mit all diesen schwierigen Themen um? «Meine Eltern wollten oder konnten die Informationsangebote der Klinik, die solche Inhalte behandelt hätten, nicht in Anspruch nehmen.»

Im Beruf leider keine Erfolge zu vermelden

Bleibt noch über das Arbeiten zu reden; heikel in Zeiten, in denen es schnell einmal «fuule Cheib» heisst. Nach der Schule begann Stefan eine Berufslehre. Das war in einem Radio-und-TV-Geschäft in Glarus, erster Arbeitsmarkt. Abbruch. Ein weiterer Versuch im zweiten Arbeitsmarkt folgte: Im Brändi in Horw begann er die Lehre als Zahntechniker. Nach zwei Jahren: Abbruch. Es folgte ein halbes Jahr Auslandaufenthalt in Amerika. Dann Arbeit als DJ und befristeter Job beim hausinternen Radio- und Fernsehsender im SPZ.

«Im Leben gibt es noch eine andere Faszination als Arbeiten.»

Später musste Stefan bei der SUVA zu einer Berufsabklärung antraben. Beim Verpacken von Mobility-Couverts stiess er auf das Inserat des Carsharing-Unternehmens. «Da stand explizit, dass der Job sich für Rollstuhlfahrer eignet», sagt Stefan. Er bewarb sich und bekam die Stelle. «Nachdem ich zwei Fehler gemacht habe, gab es Schwierigkeiten und ich bekam die Kündigung.» In diesem Moment klingelt sein Handy: Seine Mutter. Stefan nimmt nicht ab. «Meine Mutter ruft mich täglich an, sie sagt, sie mache das für mich.» Er lacht. Wenn es etwas gibt, das diesem Mann noch nicht abhanden gekommen ist, dann ist es sein Sinn für Humor.

Aber noch etwas zeichnet diesen sensiblen Menschen aus, wie es das zweite Treffen in seiner Wohnung verdeutlicht: seine Kreativität. Die Latzhose, die er trägt, hat er selber genäht, sogar das Schnittmuster ist selbst gefertigt. Auch das Malen ist ihm gegeben, wie ein Bild an der Wand beweist. Und das Posaunenspiel, Stefan ist ein Fasnächtler, habe er sich eigentlich selbst beigebracht. Er pfeife halt gerne. Doch wir sind abgeschweift.

Stefan lebt von einer IV-Rente, dazu kommt die Hilflosenentschädigung. Das ist nicht viel. «Mein Vater war Chefdekorateur Schweiz bei Manor und verdiente gut. Das kam und kommt mir bis heute zugute», sagt Stefan. Ob ihm nie langweilig sei, so ohne Aufgabe, «kommst du dir nie überflüssig, nutzlos vor?» Ja, er habe sich lange schlecht gefühlt, weil er nicht arbeite. Das sei aber vorbei, «im Leben gibt es noch eine andere Faszination als Arbeiten.» Man glaubts und glaubts doch nicht ganz. Ein Glück nur, ist nicht alles im Leben eindeutig.

Nach unserem Treffen habe ich den Song von Janis Joplin im Ohr, in dem sie singt: «Freedom is just another word for nothing left to loose. Freiheit ist da, wo nichts mehr übrig ist, was man verlieren könnte.» Irgendwie passend.

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon