NGO in Luzern blickt zurück auf 90 Jahre

8 Kilometer zu Fuss zur Geburt

Ein Spital für 250'000 Menschen: Moçambique ist ein Schwerpunktland für SolidarMed. (Bild: PD/Olivier Brandenberg)

Die NGO SolidarMed hilft seit 90 Jahren den Schwächsten in Afrika. Zum Jubiläum werfen wir einen Blick zurück: Wieso die Organisation ihre katholische Vergangenheit abgestreift hat, wieso sie sich am liebsten selber abschaffen würde und was das Ganze mit Luzern zu tun hat.

60 Geistliche und Gesundheitsfachleute legten 1926 den Grundstein: Sie riefen den «Schweizerischen katholischen Verein für missionsärztliche Fürsorge» ins Leben, die Organisation, die heuer als SolidarMed ihr 90-Jahr-Jubiläum feiert. «Es ist interessant zu sehen, wie die Organisation mit dem Weltgeschehen verflochten ist», sagt Benjamin Gross, Medienverantwortlicher. Zur Vorbereitung der Jubiläums-GV am 21. Mai hat er in den Archiven gewühlt.

Früher Rückschlag

Schon kurz nach der Gründung erlebte der Verein seinen ersten Rückschlag, als er sich von den deutschen Kollegen abspaltete. Dies war nötig, weil diese wegen des Naziregimes keine derartige Arbeit verrichten durften. Zweck des Vereins war nämlich, die medizinische Versorgung der Einheimischen in den Kolonien zu verbessern, denn die Kolonialherren kümmerten sich nicht um Themen wie Malaria oder Hakenwürmer.

«Eigentlich möchten wir ja uns selbst abschaffen können. Doch die Politik und Wirtschaft sorgt leider dafür, dass uns die Arbeit nicht ausgeht.»

Benjamin Gross, Medienverantwortlicher SolidarMed

Ein nächster Schritt erfolgte, als in den 1960er-Jahren die Kolonialherrschaften ein Ende hatten. «Die alte Idee, dass der Norden dem Süden gibt, wandelte sich zu einer partnerschaftlicheren Auffassung», erzählt Michael Hobbins, der als Infektiologe Länderkoordinator in Moçambique war.

Weg vom «Christlich»

Die eher kleine Organisation SolidarMed mit Geschäftsstelle in Luzern hat sich stetig mit der gesellschaftlichen Entwicklung gewandelt. Mit dem Ende der Kolonialzeit änderte sich auch der Fokus der Arbeit. «Statt länderspezifisch zu arbeiten, standen vermehrt Programme im Fokus. Diese Arbeitsweise erforderte mehr Ressourcen, so dass wir uns auf weniger Länder konzentrierten», erläutert Gross.

Michael Hobbins (links) und Benjamin Gross von SolidarMed.

Michael Hobbins (links) und Benjamin Gross von SolidarMed.

(Bild: Natalie Ehrenzweig)

In den Anfangszeiten war ausserdem der Missionsgedanke der Katholiken wichtig. «Die reformierten Missionen hatten damals schon Ärzte vor Ort, man wollte nachziehen», sagt Benjamin Gross. Bereits 1987 wurde der SKMV in «SolidarMed – christlicher Dienst für medizinische Zusammenarbeit» umgetauft. «Das «Christlich» verschwand nach der GV 2009 ganz aus dem Namen. Allerdings werden die christlichen Werte, die tief in unserer Gesellschaft verankert sind, selbstverständlich bleiben», betont Benjamin Gross.

8 Kilometer zu Fuss zur Geburt

Die NGO kümmert sich um die Schwächsten in den südostafrikanischen Ländern. «In erster Linie geht es um die Mütter, Kinder und Neugeborenen», sagt Michael Hobbins, der oft mit der Frage konfrontiert wird, weshalb der Staat denn nicht für die Bevölkerung schaue. «Ich habe 2008 mit meiner Familie in einem Distrikt gewohnt, der viermal so gross wie der Kanton Luzern ist. Für die 250’000 Menschen dort gibt es ein Spital und 10 Gesundheitszentren. Eine schwangere Frau läuft im Schnitt 8 Kilometer zu Fuss, um zu gebären», beschreibt der Wissenschaftler.

«Die absolute Armut hat mein Wertesystem verändert.»

Michael Hobbins

Moçambique ist eine ehemalige portugiesische Kolonie, der Krieg von 1976 bis 1992 zerstörte fast alles. «Bildung, Gesundheitssystem, das alles muss erst wieder aufgebaut werden. Und dies mit sehr beschränkten Ressourcen», sagt Michael Hobbins.

Zusammenarbeit mit Heilern

GV in Luzern

SolidarMed wurde 1926 als «Schweizerischer katholischer Verein für missionsärztliche Vorsorge» gegründet. Die Organisation hat ihre Geschäftsstelle in Luzern und beschäftigt insgesamt 13 Mitarbeitende. SolidarMed ist in Lesotho, Moçambique, Tanzania, Zambia und Zimbabwe tätig und unterhält 23 Projekte. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), der Liechtensteinische Entwicklungsdienst und die Glückkette sind Partner von SolidarMed. Finanziert wird die Organisation durch diese Institutionen und Spenden.

An der öffentlichen GV vom Samstag, 21. Mai, gibt es nach den offiziellen Traktanden um 15 Uhr einen Rückblick und ein Podium mit ehemaligen Mitarbeitenden aus drei Generationen.

Die Arbeit vor Ort verlangt viel Fingerspitzengefühl und Offenheit. So erleben die Verantwortlichen oft, dass kranke Menschen zu spät zur Behandlung kommen. «Deshalb ist Zugang zur Gesundheitsversorgung für uns ein wichtiges Thema», betont Hobbins. Doch die Betroffenen konsultieren oft erst den eigenen Heiler – auch weil er näher ist.

«Heute arbeiten wir mit den Heilern zusammen, respektieren ihre Arbeit. Wir zeigen ihnen, in welchen Fällen sie die Kranken ins Spital schicken sollten. Das funktioniert, denn der Heiler will ja auch, dass die Menschen gesund werden. In einigen Ländern sind die Heiler sogar in den Spitälern integriert», erläutert Michael Hobbins.

Sechs Ärzte für 250’000 Menschen

In der Schweiz kommen auf 1000 Einwohner vier Ärzte. In Hobbins Distrikt gab es für eine Viertelmillion Menschen sechs Ärzte. Durch diese Zahlen wird klar, dass SolidarMed mit der vermehrt strukturellen Unterstützung vor Ort, also zum Beispiel durch den Support bei der Ausbildung von medizinischem Personal, weitaus nachhaltigere Hilfe leisten kann als durch grosse Impfaktionen. «Eigentlich sieht man am Wandel unserer Arbeit den Fortschritt: Wir versuchen die Grundversorgung sicherzustellen, auch längerfristig. Nun haben wir erstmals eine Länderkoordinatorin aus Afrika», betont Benjamin Gross.

Natürlich würde man lieber mehr Lokale anstellen. «Aber oft wollen halt auch sie nicht ihr Leben in so armen Verhältnissen verbringen, sondern lieber in einer Stadt leben», sagt Michael Hobbins. Und er weiss, was Armut bedeutet. «Als wir 2008 nach Chiúre in Moçambique kamen, gab es dort noch keinen Strom, Licht gabs durch Kerzen. Durch das Einbinden ans Stromnetz im Jahr darauf wurde dann auch Fortschritt möglich», erinnert er sich.

Läden, Tankstellen und eine Bank eröffneten, und es gab Kühlschränke. «Diese absolute Armut hat mein Wertesystem schon etwas verändert», so Hobbins. Mit ausländischen Experten, die meist für drei Jahre in einem Projekt bleiben, sei eine gewisse Kontinuität gewährleistet. «Früher waren die Missionsärzte lebenslang in den Missionen engagiert», so Benjamin Gross. Aber auch dies änderte sich mit dem Ende der Kolonialzeit.

Immer der Gesellschaft angepasst

Dass SolidarMed nun den 90. Geburtstag feiert, sei, so der Medienverantwortliche, auch der Wandelbarkeit der Organisation zu verdanken. «Die Mediziner sind neugierig, wollen wissen, was neu ist. So hat sich ihre Arbeit immer den Gegebenheit und der Gesellschaft angepasst», sagt er.

Die Weichen für die Zukunft sind gestellt. «Eigentlich möchten wir ja uns selbst abschaffen können. Doch die Politik und Wirtschaft sorgt leider dafür, dass uns die Arbeit nicht ausgeht», sagt Gross. Vom eingeschlagenen Weg, bei dem strukturelle Veränderung wichtiger geworden ist als der einzelne Arzt, der ein Kind behandelt, ist man überzeugt. «SolidarMed wird immer noch von offenen Leuten getragen. So stand für die Vision 2030 auch die Frage zur Diskussion, ob wir in Zukunft nur noch eine Fundraising-Organisation sein sollten», verrät Benjamin Gross.

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