Luzerner Feministin zum Jubiläum

«50 Jahre Frauenstimmrecht sind kein Grund zu feiern»

Eva Granwehr ist 30 Jahre alt, Politologin und erwartet ihr zweites Kind. Tatsächliche Gleichstellung ist für sie lange noch nicht erreicht. (Bild: ida)

Seit 50 Jahren sind Luzernerinnen an der Urne willkommen. 1970 sagte der Kanton Ja zum Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene. Das sei jedoch kein Grund zum Feiern, findet die Luzernerin Eva Granwehr. Tatsächliche Gleichstellung sieht für sie anders aus.

Vielleicht haben deine Mutter, deine Grossmutter und sogar schon deine Ur-Grossmutter dafür gekämpft: die Gleichstellung der Geschlechter.

Ein Erfolg auf diesem Weg war das Luzerner Ja zum kantonalen Frauenstimmrecht. An diesem Sonntag blickt der Kanton Luzern auf 50 Jahre Frauenstimmrecht zurück (zentralplus berichtete).

Doch das Jubiläum sei kein Grund, sich in Sachen Gleichstellung zurückzulehnen, findet die Luzernerin Eva Granwehr. «50 Jahre Frauenstimmrecht sind kein Grund zu feiern», sagt sie. Die 30-jährige Politologin arbeitet als Projektleiterin beim Verein 50 Jahre Frauenstimmrecht Luzern und engagiert sich im Frauenstreik.

zentralplus: Eva Granwehr, am Sonntag kann der Kanton Luzern auf 50 Jahre Frauenstimmrecht zurückblicken. Warum haben wir keinen Grund zu feiern?

Eva Granwehr: 50 Jahre sind viel zu wenig. Man kann sich ja nicht damit brüsken, dass Frauen erst seit 50 Jahren politisch mitwirken dürfen. Von feiern möchte ich nicht sprechen. Vielmehr soll das Jubiläum Anlass dazu sein, das Engagement der Pionierinnen wertzuschätzen. Und wir müssen nach vorne schauen, denn zur tatsächlichen Gleichstellung gibt es noch einiges zu tun.

zentralplus: Haben wir Gleichstellung nicht längst erreicht?

Granwehr: Nein. Natürlich heisst es laut Gesetz, dass Frau und Mann gleichgestellt sind. Nur stimmt das in der Realität einfach nicht. Es gibt Lohnungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Auch Gewalt gegen Frauen ist ein grosses Thema. Frauen sind in Partnerschaften viel mehr von Gewalt betroffen. Ein grosser Teil der Care-Arbeit wird nicht wertgeschätzt, ein Grossteil dieser Arbeit, die von Frauen ausgeführt wird, wird nicht einmal bezahlt.

zentralplus: … da sind wir mittendrin im Manifest des Frauenstreiks 2019. Gab es bei Ihnen eine Art Schlüsselmoment, in dem Sie realisierten, dass tatsächliche Gleichstellung noch nicht erreicht ist und Sie dagegen ankämpfen wollen?

Granwehr: Einen Schlüsselmoment, der mir die Augen öffnete, gab es bei mir nicht. Ich bin damit aufgewachsen, wurde von klein auf sensibilisiert. Zu Hause wurde oft über Politik gesprochen. Meine Mutter klärte mich auf, dass es Ungleichheiten gibt, auch zwischen den Geschlechtern, und dass diese falsch sind. Ich habe Politikwissenschaften und Gender Studies studiert. Dafür habe ich mich bewusst entschieden, weil ich gesellschaftlich etwas verändern will.

Events rund ums Frauenstimmrecht

Anlässlich des Frauenstimmrecht-Jubiläums gibt es in Luzern eine Reihe an Veranstaltungen. Beispielsweise geht das Historische Museum in einer Ausstellung dem Wandel zum Frauenstimmrecht auf die Spur und wo wir heute stehen. Mehr Events findest du hier.

zentralplus: Warum investieren Sie so viel Zeit und Energie in das Thema?

Granwehr: Die Geschlechterfrage zieht sich durch den Alltag, das ganze Leben. Das Bewusstsein dafür, dass man ein Geschlecht hat und dass das eine gesellschaftliche Bedeutung hat, wird in den ersten Lebensjahren erschaffen. Kinder werden nach Mädchen und Jungs erzogen, unsere Welt ist eingeteilt in Frauen und Männer. Das wirkt sich extrem aufs gesellschaftliche Leben aus. Auf die Idee, zwischen blau- und braunäugigen Menschen zu unterscheiden, würde niemand kommen. Das wäre ja dann absurd. Lange Zeit hatte man das Gefühl: «Jetzt kommt alles gut.» Weil man juristisch viel erreicht hat, tatsächliche Gleichstellung sich folglich auf natürlichem Weg einstellen werde. Aber das alles geschieht nie von alleine. An vorderster Front standen immer Menschen, die etwas in Gang setzen wollten, für mehr Rechte kämpften. Und so ist es auch heute noch.

zentralplus: Weshalb denken Sie, dass die Gleichstellung stagniert?

Granwehr: Es hat sich wohl zu wenig etabliert, dass man auch bei der Umsetzung der Gesetze und bei den feineren Ungleichheiten dranbleiben muss. Der Frauenstreik war so erfolgreich, weil viele junge Frauen mit dem Bewusstsein aufgewachsen sind, dass sie dasselbe wie Männer tun können und dabei gleichbehandelt werden. Dann wurden wir älter und realisierten, dass das schlichtweg nicht stimmt. Der Arbeitskollege verdient mehr, ein Nein einer Frau wird in bestimmten Situationen nicht akzeptiert oder man muss sich als junge Mutter permanent rechtfertigen.

zentralplus: Wann erleben Sie persönlich Diskriminierung?

Granwehr: Gerade als junge Mutter. Ich muss mich immer wieder rechtfertigen, in welchem Pensum ich erwerbstätig bin. Es gilt als selbstverständlich, dass die Frau diejenige ist, die ihr Pensum reduziert.

«Ich werde wütend, weil ich merke, dass ich mich rechtfertigen muss, und mein Partner nicht.»

zentralplus: Was lösen solche Fragen in Ihnen aus?

Granwehr: An diese Fragen habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Es macht mich aber auch wütend. Wütend, weil ich merke, dass ich mich rechtfertigen muss und mein Partner nicht. Und weil es für mich viel schwieriger ist, eine Stelle zu finden. Weil ich eine Frau bin, Anfang 30. Da herrscht immer die Befürchtung, dass die Frau mal aussteigen wird, weil sie Kinder bekommen will. Es heisst ja immer: Wenn junge Frauen Mutter werden, trifft sie der Hammer der Ungleichheiten mit voller Wucht auf den Kopf. Und das stimmt auch.

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Granwehr: Wir Frauen sind gut gebildet. Es gibt mehr Mädchen als Jungen an den Gymnasien und mehr Frauen in vielen Studiengängen. Wir wachsen auf mit gefühlt nur einem Bruchteil an Ungleichheiten. Wenn man dann selbst Kinder kriegt, erlebt man Ungleichheit in vielen Belangen.

zentralplus: Gibt es weitere Erfahrungen mit Diskriminierung?

Granwehr: Es gibt Situationen, in denen mein Nein nicht akzeptiert wird. Ich lag mal in der Badi und ein Mann quatschte mich an. Ich hatte aber keine Lust und sagte das ihm. Als er nicht lockerliess, sagte ich, dass ich wirklich keine Lust habe und bald mein Freund kommt. Was auch stimmte. Er insistierte aber darauf, dass das nicht stimmt. Er akzeptierte mein Nein nicht. Wieder und wieder, denn ich traf ihn danach noch einige Male in der Stadt an. Das sind Erfahrungen, wie sie wohl jede Frau macht. Oder wenn man nachts nach Hause läuft, sich unsicher fühlt.

zentralplus: Ihr Nein wurde nicht akzeptiert. Was löste das in Ihnen aus?

Granwehr: Es macht Angst und es macht mich vor allem ohnmächtig. Egal, was ich sage, ob ich etwas will oder nicht, das zählt nicht.

«Auf die Idee, zwischen blau- und braunäugigen Menschen zu unterscheiden, würde niemand kommen. Das wäre ja dann absurd.»

zentralplus: Wann waren Sie das letzte Mal wütend oder sprachlos, was Ungleichheiten anbelangt?

Granwehr: Die ganze Corona-Zeit macht mich sehr wütend. Corona zeigte, wie systemrelevant Frauen sind. Und trotzdem ist nicht abzusehen, dass diese Berufe in nächster Zeit aufgewertet werden. Auch ärgert es mich, dass während des Lockdowns und zur Zeit der geschlossenen Kitas überwiegend Mütter für die Betreuung ihrer Kinder in die Bresche gesprungen sind, in grösserem Ausmass als die Väter. Was mich sprachlos macht, sind Femizide. Wenn Frauen für Ungleichheiten mit ihrem Leben bezahlen müssen, fehlen mir die Worte.

zentralplus: Es gibt dennoch einiges, was sich in Sachen Gleichstellung getan hat. Wie zum Beispiel, dass unsere Grossmütter damals an der Urne nicht willkommen waren, Frauen jetzt seit 50 Jahren am politischen Treiben mitwirken dürfen.

Granwehr: Gerade im Bereich der rechtlichen Gleichstellung hat sich extrem viel getan. Dass es inzwischen überhaupt politische Rechte gibt für Frauen, dass Frau und Mann in der Ehe gleichgestellt sind. Dann der Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung und das Gleichstellungsgesetz. Oder die Mutterschaftsentschädigung, die wir seit 2005 haben und dass seit 1992 Vergewaltigung in der Ehe strafbar ist. Gerade die letzten beiden sind für mich krasse Beispiele.

zentralplus: Weshalb?

Granwehr: Weil unsere Mütter noch keinen bezahlten Mutterschaftsurlaub hatten. Und weil es bis vor 1992 keine Folgen hatte, wenn es zu Gewalt innerhalb einer Partnerschaft oder der Ehe kam. Und es somit auch gesellschaftlich toleriert wurde.

zentralplus: Was muss in den nächsten 50 Jahren geschehen?

Granwehr: Alles. Sie lacht. Ich hoffe, dass wir in 50 Jahren alles erreicht haben. Dass wir in 50 Jahren – egal ob Mädchen, Junge oder was auch immer – aufwachsen, grosswerden und sterben können, ohne aufgrund unseres Geschlechts, unserer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung benachteiligt zu werden.

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4 Kommentare
  • Profilfoto von Celine Bächler
    Celine Bächler, 26.10.2020, 07:49 Uhr

    Es ist immer leicht, Forderungen zu stellen und Utopien zu malen. Aktuell leben wir in einer Zeit, in der die halbe Privatwirtschaft an die Wand gefahren wird. Da geht es nicht mehr darum, Wünsche zu formulieren, sondern pragmatisch das Machbare anzugehen. Was nützen Schönwettermodelle einem Paar, wenn einer oder beide keinen Job mehr haben? Da ist der andere Partner dann plötzlich ganz froh, wenn er nicht Teilzeit arbeiten muss. So ergeht es jedenfalls uns derzeit.

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  • Profilfoto von Manuela Marti
    Manuela Marti, 26.10.2020, 04:30 Uhr

    Was für mich fehlt ist vorallem die Selbstverständlichkeit von Gleichheit von Frau und Mann in der Partnerschaft. Wie Eva schreibt, ist es viel öfters so, dass die Frau beruflich zurückschraubt als dass der Mann sich vermehrt um die Familie kümmert. Und das ist auch in unseren Köpfen so. Und soll sich ändern.
    Wie?
    – Elternzeit (der erweiterte Vaterschaftsurlaub ist mal ein Schubs in die richtige Richtung)
    – Einfacher für Männer, das Pensum zu reduzieren
    – Grundsätzlich diejenige Person mit dem kleineren Einkommen kümmert sich mehr um die Familie = reduziert mehr
    – Mehr Väter auch in den Elternvereinen der Quartiere

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  • Profilfoto von rahel.estermann
    rahel.estermann, 25.10.2020, 21:07 Uhr

    Eva Granwehr hat Recht: Es gibt noch viel zu tun, um nicht ständig in die veralteten Rollenbilder zurückzufallen – in der Politik, im Arbeitsleben, vor allem aber auch in diesen alltäglichen Situationen, von denen sie erzählt. Engagierte Frauen wie sie inspirieren und geben Energie, sich immer wieder aufs Neue einzusetzen für Gleichberechtigung.

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  • Profilfoto von Luc Bamert
    Luc Bamert, 25.10.2020, 11:00 Uhr

    Da bleibt bloss: «Get a life.»

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