11.20 Franken pro Tag – der Selbstversuch: Ein Drama in mehreren Akten
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Ukrainische Flüchtlinge kriegen in Luzern nicht mehr als 11.20 Franken pro Tag. Das soll für Essen, Kleider, Handy, ÖV und Co. reichen. Ein Selbstversuch scheitert bereits an Tag 1. Und auch an den meisten anderen Tagen. Verhüten liegt ebenfalls nicht drin.
Ein 10er-Nötli also. Und ein bisschen Münz. Damit muss ich mich also für eine Woche täglich durchschlagen.
Viele Kantone in der Schweiz sind knausrig, wenn es darum geht, wie viel Geld sie Flüchtlingen aus der Ukraine zum Leben geben. Und das, obwohl die Kantone vom Bund pro Flüchtling rund 1500 Franken kriegen. Davon kommt aber nur ein kleiner Batzen in die Hände der Flüchtlinge. Denn mit einem Teil dieser 1’500 Franken müssen die Kantone Krankenkassenprämien, weitere Gesundheitskosten sowie die Unterbringung bezahlen.
Der Grundbedarf variiert nach Kanton stark. Im Kanton Zürich kriegt ein Flüchtling in einer privaten Unterkunft zirka 23.50 Franken täglich. Im Kanton Luzern sind es 13.80 Franken. Wer in einer Kollektivunterkunft lebt, kriegt in Luzern 11.20 Franken pro Tag (zentralplus berichtete).
zentralplus wollte wissen: Wie zum Geier kommt man mit 11.20 Franken pro Tag durchs Leben? Also wagten wir für eine Woche den Selbstversuch.
Tag 1: Bereits um 7.22 Uhr morgens bleiben noch 80 Rappen übrig
Eins vorneweg: 11.20 Franken pro Tag – eine Woche finanziell so zu stemmen, muss gut durchdacht sein. Und das soziale Leben drastisch gedrosselt werden: Schnitzel-Essen mit Freunden, eine Party, ein Museums- oder ein Badi-Besuch: Das kannst du gleich alles mal knicken. Wer raucht, der hat’s ebenfalls sehr schwer.
So habe ich den Startpunkt des Experiments zugegebenermassen hinausgezögert. Bis möglichst keine Termine mit anderen Menschen mehr anstanden.
Bereits am ersten Tag, um exakt 7:22 Uhr morgens, komme ich finanziell an meine Grenzen. Beim Billettkaufen. Ein Besuch beim Arzt, das Busbillett hin und zurück (mit einem Halbtax) kostet mich 10.40 Franken. Zwar dürfen ukrainische Flüchtlinge bis Ende Mai noch den öV gratis nutzen, danach werden aber auch sie zur Kasse gebeten. Gehen wir von der baldigen Realität aus, blieben also noch 80 Rappen für den restlichen Tag. Suboptimaler Start, doch ich bin ja hier, um allen zu zeigen: 11 Stutz, voll easy!
Guten Mutes kauf ich mir für 60 Rappen eine Banane. Die bringt mich also durch den heutigen Tag.
Doch die Zuversicht schwindet nur zwei Stunden später an Tag 1. Ein Reminder meiner Verhütungs-App poppt auf meinem Handy auf. Eine neue Pillenpackung muss her. Und diese zahlt Frau ja schliesslich selbst. Also los in die Apotheke, wo ich der Dame 12.55 Franken – so viel kostet mich die Anti-Baby-Pille im Monat – über die Theke reiche. Geld, das ich ausgebe, welches ich ja eigentlich nicht mal mehr hätte.
Fazit: Verhüten geht ordentlich ins Geld. Wer lieber zum Präservativ greift, ich hab das eben mal kurz abgecheckt: Auch Budget-Varianten kosten 8.30 Franken für 20 Stück.
Schlussrechnung: Es ist Tag 1 – ich bin 12.35 Franken im Minus. Zum Essen hat’s für eine Banane gereicht. Zum Glück liegen zu Hause im Kühlschrank noch Spargeln, Salat und Halloumi. Und bestimmt liegt noch irgendwo Zwieback rum …
Nein, es liegt absolut nichts mehr drin für heute:
Tag 2: Es läuft – wenn man die Minuszahlen des Vortages weglässt
Tag 2. Es ist Dienstag – ich habe die nächsten drei Tage frei. Was ich tue? Nichts. Absolut nichts. Ich hab ja kein Geld, das ich ausgeben könnte, um irgendwas zu tun. Und draussen seicht es eh aus Kübeln. Netflixen ist angesagt – ja, ich oute mich jetzt als eine dieser Schmarotzerinnen. Ein Kollege von mir teilte sein Passwort mit sicherlich einem Dutzend Menschen. Ich bin glücklicherweise eine von ihnen. Kostet mich also nichts.
Im Bett google ich nach Stichworten wie «Budget-Rezepte», «Menüs unter 5 Stutz», «billig, aber geil essen». Schliesslich entscheide ich mich für den Couscous-Salat. Etwas anderes als Gemüse kann man sich mit dem 10er-Nötli ja auch gar nicht kaufen. Fleisch und Fisch, vegane Milch, Kaffee und natürlich auch Prosecco – all das streich ich gleich für die ganze Woche von meiner Einkaufsliste.
Später, in der Migros, decke ich mich mit Couscous ein. Minuten voller Verzweiflung brechen an, ich find die Budget-Variante einfach nicht. Ein genervtes Schnauben meinerseits später, lege ich einen Pack Bio-Couscous in meinen orangen Korb. Viel zu teuer.
Doch, eigentlich ist es ja ganz cute, was sich darin zueinander gesellt: rote Zwiebeln, Pfefferminze, zwei Peperonis sowie ein Kopf- und Eisbergsalat. Das sieht doch mal gesund aus. All das gibt’s für 10.55 Franken. Der 1. Budget-Einkauf gut gemeistert, denk ich stolz.
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Zurück zu Hause wird dann wieder geflunkert. Für den Salat bräuchte ich Olivenöl, natürlich nehm ich das, was bei mir Zu Hause rumsteht. Italienisches Olivenöl, eine 1-Liter-Flasche kostet satte 16.50 Franken. Dieses Luxus-Olivenöl könnte ich mir als Flüchtling mit Schutzstatus S natürlich niemals leisten, bei den paar Fränkli, die ich kriege. Aber beim goldenen Öl soll man nicht sparen. Hat mir mal ein Italiener gesagt und er hat Recht. Billig-Öle verhunzen nur.
Den Couscous-Salat gibt’s fürs Zmittag. Und fürs Znacht. Und einen 50-Rappen-Apfel dazwischen. Zum Frühstück mag ich übrigens fast nie was essen – budgetmässig ist das jetzt natürlich von Vorteil.
Schlussrechnung: 11 Franken und 5 Rappen verpulvert.
Tag 3: 11.20 Franken – oder wie viel nach Handy-Rechnung und Pille noch übrig bleibt
Den Mittwoch nutze ich für eine Milchbüechli-Rechnung. Schliesslich bin ich ja fatal im Minus. Und die 11.20 Franken pro Tag sind grosszügig gerechnet. Denn das Geld sollte nicht nur fürs Essen reichen. Sondern auch fürs Handy, ÖV und dafür, dass ich nicht nackt rumlaufen muss. Für Kleider und Schuhe beispielsweise.
Mein Handy-Abo kostet mich 60 Franken monatlich. Das sind also 2 Franken pro Tag. Mein Spotify-Abo – wer aufgrund knappen Budgets seine Präsenz nicht an sozialen Cüpli-Treffen zeigen kann, soll mindestens von guter Musik umgeben sein – kostet mich 12.95 Franken pro Monat, also etwa 43 Rappen täglich. Meine Pille kostet knapp 42 Rappen pro Tag. Kleider lasse ich mal weg – auch wenn das der Realität kaum entspricht. Die meisten Flüchtlinge sind mit nicht mehr aus dem Ukraine-Krieg geflüchtet, als sie an ihrem Leib trugen.
Nach Handy, Pille und Co. hätte ich also noch 8.35 Franken, um mich damit durch den Tag zu futtern. Zudem muss ich mit dem Geld Zahnpasta, Shampoo, WC-Papier – und ja, auch Tampons kaufen.
Sind wir ehrlich: Das ist verdammt wenig. Wer kann sich bitte mit diesen paar Stutz durchfuttern? Das funktioniert wohl nur, wer in fünf Läden rennt und Preisvergleiche zieht, wo man 5 Rappen für eine Salatgurke sparen kann. Kein Wunder, werden Caritas-Läden überrannt, wo vergünstigt Lebensmittel angeboten werden (zentralplus berichtete).
Jedenfalls gibt’s bei mir heute Salat mit Tomaten. Und ein wenig Couscous ist auch noch übrig. Ausgewogen, gäll. Mein Budget freut’s. Ich ernähre mich von Resten – und gebe keinen Rappen aus.
Tag 4: Cheatday in der Badi
Die Saftkur hat mich in der letzten Saftwoche zum Biest gemacht. Davon lass ich mich aber nicht abschrecken. Ganz im Gegenteil: Mahlzeiten durch einen Saft zu ersetzen, da lacht doch das Portemonnaie. Und der knausrige Kanton.
Ein «Petit-déjeuner»-Saft für knapp 3 Stutz bringt mich heute durch den Morgen und Mittag. Nachmittags geht’s am freien Tag ins Seebad. Kostenpunkt: 6 Stutz. Endlich wieder ein wenig Social Life! Und Schmarotzen! Aperol Spritz und Salat-Bowle gehen heute auf die Kasse meiner Freunde. Das mit den 11 Stutz pro Tag sei eben schon «meeeega heftig» finden die. Find ich auch.
Abends offeriert mein Date eine Flasche Rosé. Merci dafür.
Schlussrechnung: 9.95 Franken auf meine Kappe, etwa dreimal so viel auf die Kappe meines Freundeskreises. Quasi als Wiedergutmachung dafür, dass sie mir keine Büchsenravioli vorbeigebracht haben.
Tag 5: Das schlechte Gewissen
Viel zu wenig gepennt hab ich in der Nacht auf Tag 5. Zuversichtlich, dass das finanziell irgendwie aufgeht, lege ich auf dem Weg zur Arbeit einen Stopp bei der Bäckerei ein. Da kauf ich mir einen Kaffee (war das Geld absolut nicht wert) und Gipfeli für 5.70 Franken.
Die anpreisenden Worte des «Gasseziitig»-Verkäufers habe ich schon davor gehört. Nun, mit dem nötigen Münz und dem Pappbecher in der Hand, macht sich auch das schlechte Gewissen auf. Also drück ich dem Mann einen Fünfliber für eine Zeitung in die Hand. Bleiben also noch 50 Rappen für Zmittag und Znacht. Das reicht nicht mal für ein Miniatur-Brötli. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich mag nicht mehr. Mittags wird gecheatet, schliesslich muss ich nach drei Tagen frei heute noch in die Tasten hauen.
Schlussrechnung: Failed. Aufsteller des Tages: das gesponserte Prosecco-Dösli des Redaktionskollegen. 😎
Das Weekend: Auf der Suche nach 100 Gramm Gurke
Das Tolle an Budget-Rezepten: Sie sind billig. Das Verheerende daran: Gemüse, Nüsse und Co. können eben nicht immer in den angegebenen Mengen gekauft werden. Beispielsweise bräuchte ich für einen veganen Glasnudel-Stir-Fry – das sind Glasnudeln mit öpis – 100 Gramm Gurke. Und eine einzige Knoblauchzehe.
100 Gramm Gurke im Laden zu kriegen, ist verdammt nochmal eine Illusion. In weiser Vorausplanung gibt’s deswegen am Sonntag auch Gurke mit öpis zu essen. Weise wie ich bin, hielt ich deswegen nach der dicksten und grössten Gurke Ausschau – ein 758-Gramm-Prachtsexemplar gab’s für 1.80 Franken. Noch die gerösteten Sesamkerne gestrichen, so komm ich aus dem Laden mit exakt 8.85 Franken weniger im Portemonnaie.
Sonntags gibt’s dann Restgurke mit Apfel in Salat-Form.
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Die traurige Bilanz
Das Experiment zeigt: Ich bin mehr gescheitert, als dass ich in dem Selbstversuch brilliert hätte.
Wer ein wenig mehr als ein 10er-Nötli hat pro Tag und damit durchs Leben kommen muss, der hat es verdammt schwer. Ausser man ernährt sich von Eiswürfeln und Karotten.
Kommt hinzu: Man will ja auch noch irgendwie leben. Dinge erleben. Sich mit Freunden auf ein Glas Wein treffen. Ins Museum gehen. Und dabei nicht jeden verdammten Rappen fünfmal umdrehen müssen. Aber immerhin das Spazieren kostet hier ja nichts.
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