175 Jahre Zuger Kantonsrat

Vom verwüsteten Ägerital und von versteckten Faschisten

Neuägeri nach dem verheerenden Unwetter 1934. Auch im Kantonsrat war das Unglück Thema. 200'000 Franken sprach dieser für den Wiederaufbau. (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Unbekannt / Ans_05144-01-016-AL / Public Domain Mark)

Der Kantonsrat feiert dieses Jahr sein 175-jähriges Bestehen. Zeit für einen Blick auf Debatten seit 1848. Dieser zeigt, was den Kanton in früheren Zeiten beschäftigte – falls man die Akten überhaupt lesen kann.

Vor 175 Jahren tagte der Zuger Kantonsrat zum ersten Mal. 25 Jahre später, 1872, wurde der heutige Kantonsratssaal eingeweiht. zentralplus möchte einen Blick zurück werfen, heraus spüren, wie früher politisiert worden ist, respektive welche Themen für Zug wichtig waren. Dafür braucht es einen Abtaucher ins Staatsarchiv. Wenig später taucht man erschlagen wieder auf. Nicht primär wegen der gewaltigen Schinken von Büchern, in denen die Kantonsratsdebatten seit 1848 säuberlich protokolliert wurden, sondern wegen deren Inhalt, für den man eine Übersetzerin bräuchte.

Denn mit Frakturschrift kann man ja noch klarkommen, aber die wunderschöne, heute absolut unleserliche Kurrentschrift, in der damals offizielle Dokumente verfasst wurden, ist für das heutige Auge äusserst ungewohnt.

Erste Grossratswahlen, die Details bleiben unleserlich

Zur ersten, historischen Ratssitzung am 19. Januar 1848: Zu entziffern ist, dass das älteste Mitglied des neugegründeten «Grossraths» (später Kantonsrat), D. Iten aus Oberägeri, die allererste Sitzung leitete. 61 Herren waren anwesend und damit beschlussfähig.

Zum Glück hat das Staatsarchiv selber grosse Vorarbeit geleistet. Die Protokolle wurden mittlerweile im Groben digitalisiert. Diesen ist zu entnehmen, dass am ersten Ratstag nur Wahlen und Vereidigungen stattfanden. Das erste traktandierte Geschäft wurde erst im Februar 1848 diskutiert. «Beratung über einen Entwurf betreffend Anhebung einer Untersuchen wegen Landesverrat und Einleitung einer Amnestie in den Sonderbundskantonen». Uff.

Im 19. Jahr ist die Kurrentschrift bei offiziellen Dokumenten Usus. (Bild: wia)

Weil die handgeschriebenen Protokolle respektive die Details zu den Beratungen kaum zu entziffern sind, sind schweren Herzens die wichtigen Jahre der Industrialisierung während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Bau des Eisenbahnnetzes und der Erste Weltkrieg übersprungen: Ab den 30er-Jahren sind die Protokolle Gottseidank mit Schreibmaschine gefertigt.

1933 – Seuchen, Milchpreise und hässige Bergler

Im Januar 1933 beschliesst der Zuger Kantonsrat, eine Zuger Bauernhilfskasse zu errichten. Dies, da die Vieh- und Milchpreise in dieser Zeit stark gesunken war. In der gleichen Sitzung wurden Massnahmen gegen die Tuberkulose ergriffen. Die «Volksseuche» war damals, und auch später, während des Zweiten Weltkriegs, als sie viele Soldaten betraf, ein riesiges Problem.

Die Kluft zwischen Berg- und Talgemeinden

Auffällig: Immer wieder liest man in den Protokollen, dass sich die Kantonsräte aus den Berggemeinden von den Talgemeinden im Stich gelassen fühlten. So etwa beim Thema Strassenbau. So behauptet Kantonsrat Nussbaumer diesbezüglich Anfang der Dreissiger, dass «der Berg zu kurz» käme.

Archivar Philippe Bart vom Staatsarchiv Zug scheut sich davor, auf die Anfrage von zentralplus zu dieser Feststellung eine pauschale Antwort zu geben. Doch er sagt: «Es gab sicher immer wieder Differenzen und Konflikte zwischen Berg und Tal, in früheren Jahrhunderten gab es etwa Streit wegen der Anwerbung von Söldnern durch fremde Kriegsherren, ab dem 19. Jahrhundert ging es dann auch um Infrastrukturfragen. Dennoch können Konfliktlinien in der Zuger Geschichte nicht ausschliesslich entlang von geografischen Räumen gezeichnet werden.»

Dass es immer wieder Reibungen gegeben hat, zeigt mitunter der Blick auf die Geschichte der Lorzentobelbrücke von 1910. Die Berggemeinden forderten eine bessere Anbindung ans Tal. Die Resultate der davor angenommenen Abstimmung wiesen auf, dass nur die Berggemeinden und die Stadt Zug die Vorlage befürwortet hatten. Die übrigen Gemeinden hatten sie abgelehnt.

Ein Ereignis, das den Kanton und insbesondere die Bergregionen kurz vor der Ratssitzung im September 1934 nachhaltig erschüttert hatte, ist ebenfalls in einem Ratsprotokoll festgehalten: Am 9. September 1933 war das Ägerital von einem fürchterlichen Sturm verwüstet worden.

«Harmlose Bächlein wurden zu reißenden Wildwassern, die in ihrem Lauf alles verheerten.»

Zuger Neujahrsblatt 1937

«Das Zugerland wird so schwer wie noch nie betroffen. Die Verbindungen nach Arth-Goldau wie auch ins Ägerital sind unterbrochen. Harmlose Bächlein wurden zu reißenden Wildwassern, die in ihrem Lauf alles verheerten. In Walchwil, Oberwil, in Oberägeri, Unterägeri, im Lorzentobel, im Baarerboden und in der Letzi bei Zug zeigt sich die Unwetterkatastrophe in fürchterlichster Stärke», sollte im Neujahrsblatt 1937 zum Unwetter geschrieben werden.

Der Kantonsrat bewilligt einen Kredit von 200'000 Franken. Hilfswerke und der eidgenössische Fonds für Elementarschäden leisten weitere Beiträge. Der Gesamtschaden wird auf 3 Millionen Franken angesetzt.

Zu Beginn der neuen Legislatur am 26.12.1938 begeben sich, angeführt vom Standesweibel und dem Kantonsratspräsidenten Augustin Lusser (vorne Mitte), die Kantonsräte nach der Vereidigung in den Kantonsratssaal.
Zu Beginn der neuen Legislatur am 26.12.1938 begeben sich, angeführt vom Standesweibel und vom Kantonsratspräsidenten Augustin Lusser (vorne Mitte), die Kantonsräte nach der Vereidigung in den Kantonsratssaal. (Bild: Staatsarchiv des Kantons Zug)

Ende der 30er sinkt die Stimmung

In den Ratsprotokollen der späteren 30er-Jahre ist ein deutlicher Stimmungsumschwung spürbar. Die Weltlage spannt sich an und mündet 1939 im Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Rede, die Kantonsratspräsident Augustin Lusser an der ersten Sitzung nach Kriegsausbruch, am 16. Oktober 1939 hält, ist eindrücklich.

«Der Vorsitzende gedenkt einleitend der seit der letzten Sitzung eingetretenen Änderung der Weltlage, die nun den längst gefürchteten Zweiten Weltkrieg gebracht hat. Dank der Weitsicht und der Besonnenheit unserer wachsamen Landesbehörden und verantwortungsbewussten Armeeleitung sind unsere Grenzen seit Kriegsbeginn von den Truppen geschützt.»

«Das zugerische Parlament wird durch sein Beispiel zeigen, wie die kommenden schweren opfervollen Zeiten mit Hintansetzung aller trennenden Parteizwiste überwunden werden können.»

Augustin Lusser, Kantonsratspräsident 1939

Weiter spricht er dem neugewählten General der Schweizer Armee, Henri Guisan, das Vertrauen von Volk und Behörden aus und entbietet «den zugerischen Milizen dankbaren patriotischen Gruss». «Das zugerische Parlament wird durch sein Beispiel zeigen, wie die kommenden schweren opfervollen Zeiten mit Hintansetzung aller trennenden Parteizwiste und festem Vertrauen auf den Allmächtigen überwunden werden können.»

Die Rede, die der damalige Kantonsratspräsident am Anfang des Zweiten Weltkriegs hielt, hatte es in sich. (Bild: wia/Protokoll KR-Sitzung 1939)

In derselben Sitzung diskutiert der Kantonsrat die Ausrichtung von Beiträgen an notleidende bäuerliche Wehrmännerfamilien. Das Problem: Landwirte hatten kaum ein Interesse daran, Wehrdienst zu leisten, da sich niemand sonst um den Bauernbetrieb kümmerte.

1940: Gott schütze das Zugerland

Die Rede, die der im Dezember 1940 gewählte Landammann Dr. Steimer bei seinem Antritt hält, ist alles andere als optimistisch. «Die Zukunft wird keine Zeit des Wohllebens, der materiellen Gewinne und Profite sein, sondern voll harter Entsagung und Opfer.» Er hofft: «Möge recht bald das Morgennrot einer schöneren Zukunft Europa, unserm schweizerischen Vaterland und unserer Zuger Heimat hell leuchten. Gott schütze das Zugerland.»

Während vor den Grenzen der Schweiz der Krieg tobt, geht das Leben weiter. Man berät über Seuchenentschädigungen für Bauern, über das Kurtaxengesetz sowie über die Ausdehnung der Schulpflicht.

1945, die «heissersehnte Stunde des Kriegsendes»

Erleichterung ist erst Jahre später zu spüren. Am 28. Juni 1945 erklärt Kantonsratspräsident Meienberg in einer Rede zu Beginn der Debatte die «heissersehnte Stunde des Kriegsendes». Die Ansprache, die mit grossem Beifall gewürdigt werden sollte, betont das grosse Glück, das die Schweiz während des Kriegs gehabt hatte.

«Nachdem sich viele unverbrannte Akten lüften, wird aus diesen gewiss, dass die Schweiz mehr als einmal der grössten Gefahr eines Angriffes ausgesetzt war», äussert er sich an diesem geschichtsträchtigen Ratstag.

«Der Krieg ist zu Ende und der Frieden muss erst noch erobert werden.»

Kantonsratspräsident Meienberg, 1945

«Herr Landammann, meine Herren, heute leben wir zwischen Krieg und Frieden. Der Krieg ist zu Ende und der Frieden muss erst noch erobert werden.» Die Themen, über die an diesem Tag diskutiert werden, sind entsprechend gewichtig.

Die Interpellanten Manfred Stadlin und Nationalrat Fritz Jost fordern die konsequente und soforte Heimschaffung unerwünschter Ausländer. Immer wieder findet man die Formulierung «Säuberung von unerwünschten Elementen» im Text. Ein heute undenkbarer Wortlaut. Die Sache an sich hatte jedoch durchaus ihre Berechtigung, wie man im Protokoll etwas später lesen kann. Dort geht es um die Auflösung problematischer Organisationen in Zug.

252 Mitglieder der «Reichsdeutschen Gesellschaft» lebten in Zug

Nach dem endgültigen militärischen Zusammenbruch des deutschen Reiches sollen nämlich auf Geheiss des Bundesrates verschiedene nationalsozialistische Organisationen aufgelöst würden. Auf der Liste stehen Organisationen wie die NSDAP-Landesgruppe Schweiz, die Deutsche Kolonie in der Schweiz, die Reichsdeutschenhilfe, die Reichsdeutsche Jugend der Schweiz, die NS-Sportgruppe.

Was das mit Zug zu tun hat? Auch zehn Personen aus Zug gehörten der NSDAP an. Die Reichsdeutsche Gesellschaft, Ortsgemeinschaft Zug, umfasste gar 536 Mitglieder, wovon 252 in Zug lebten.

Alfieri, der in Zug abgetauchte Faschist

Am selben Tag fällt mehrmals auch der Name Alfieri. Das war kein Zufall. Dino Alfieri war ein wichtiger Minister von Mussolinis faschistischer Regierung, der sich 1944 kurzzeitig in Zug versteckt hielt.

Alfieri erhielt zwar kein Asyl, wurde aber in der Schweiz geduldet, nachdem er in Italien 1944 in Abwesenheit zu Tode verurteilt worden war. Aufgrund scheinbarer gesundheitlicher Probleme durfte der Faschist gar bis 1948 in der Schweiz bleiben, bevor er in seine Heimat zurückkehrte, um dort als Anwalt tätig zu sein.

Argwohn gegenüber Deutschen, die eine Einbürgerung wünschten

Deutsche, die sich in dieser Zeit einbürgern lassen wollten, hatten es im Gegenzug schwer. So ein Ehepaar aus Zug, dem ebendieses Anliegen verwehrt wurde. Dies, obwohl sie dies bereits schon vor dem Krieg versucht hatten. In der entsprechenden Kantonsratsdebatte schien es heiss zu und her zu gehen.

Diesen Mann könne man durchaus brauchen, fanden einige, seine Papiere seien ausserdem in Ordnung. Dennoch will einer der Räte, dass die beiden Deutschen statt der üblichen 500 Franken Einbürgerungsgebühren deren 800 zahlen. Grundlos, wie es scheint. Dieser Antrag wird jedoch von der Mehrheit abgewiesen. Die beiden Deutschen durften sich letztlich einbürgern lassen.

Das Staatsarchiv befasst sich intensiv mit den Jubiläen

Stunden über Stunden könnte man in den historischen Kantonsratsprotokollen verweilen. Sie sind direkte, teils emotionale Zeugen der Zeit und verraten viel darüber, wie die Stimmung im Kanton war und was die Menschen in jenen Jahren beschäftigte.

Das Zuger Staatsarchiv befasst sich dieses Jahr sowohl mit dem 175-Jahr-Jubiläum des Kantonsrats als auch mit dem 150-jährigen Kantonsratssaal. Am 19. August 2023 wird das Regierungsgebäude am See aus diesem Anlass für die Öffentlichkeit zugänglich sein, eine kleine Ausstellung mit einer Vitrine und Stellwänden ist geplant, ausserdem wird es Führungen geben.

Verwendete Quellen
  • Abtaucher ins Staatsarchiv, Ratsprotokolle ab 1848 bis 1945
  • Gespräche mit Archivar Philippe Bart
  • Artikel im Schweizer Sturmarchiv
  • Artikel zu Dino Alfieri im «Bote»
  • Artikel über Zug im Historischen Lexikon der Schweiz
  • Informationen des Zuger Staatsarchiv zu den Jubiläen
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3 Kommentare
  • Profilfoto von Franz
    Franz, 10.03.2023, 18:08 Uhr

    1933 wurde das Ägerital also durch einen Sturm verwüstet. Heute wäre es wägem Klimawandel. Der Notstand würde ausgerufen, das Autofahren verboten, und jeder Autobesitzer müsste am Altar der hl. Greta ein Opfer darbringen.
    Manchmal sehnt man sich nach der guten alten, vernünftigen Zeit zurück.

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    • Profilfoto von Spama Lotto
      Spama Lotto, 11.03.2023, 05:59 Uhr

      @Franz:
      Sie sehnen sich also das Jahr 1933 als «gute, alte vernünftige Zeit» zurück?
      In dem Fall ist wohl tatsächlich nicht der Klimawandel das grösste Problem…

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      • Profilfoto von Franz
        Franz, 11.03.2023, 09:10 Uhr

        Man kann viel missverstehen, wenn man will. Hier gehts allein um den Umgang mit Naturkatastrophen, wie es sie schon immer gegeben hat und geben wird.

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