Verbrechen der sozialen Fürsorge

So hart war die Arbeit in den Zuger Kinderheimen

Die Erzieherinnen in Kinderheimen und Waisenhäusern wurden häufig zu den engsten Vertrauten der Kinder. (Bild: zvg)

Jede Woche kommen an dieser Stelle Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Kanton Zug zu Wort. Diese Woche nicht. In der heutigen Geschichte geht es um Ida, die nicht als Waise in ein Kinderheim kam, sondern als Küchenhilfe. Doch schon bald stand das Leben der jungen Frau Kopf.

Kurz nach dem Abschluss der Bäuerinnenschule in den 1960er-Jahren entschied sich Ida K., eine Stelle als Küchenhilfe im Kinderheim Hagendorn anzunehmen. Das Kinderheim wurde von Menzinger Schwestern geführt und bot «schwererziehbaren Kindern» im Schulalter einen Platz. «Ich habe mich gefreut auf die Küche und nähte mir extra eine neue Küchenschürze», erinnert sich Ida K.

Als sie in Hagendorn eintraf, geschah jedoch etwas völlig Unerwartetes: Ida K. fand sich statt in der Küche in einer Gruppe mit 26 Kindern wieder und sollte dort die am Tag zuvor fristlos entlassene Erzieherin ersetzen. Die verbliebene zuständige Gruppenschwester fuhr bereits «am nächsten Tag zur Erholung weg» und kam mehrere Wochen lang nicht zurück.

Ins kalte Wasser geschmissen

«Es war ein harter Einstieg», sagt Ida K. rückblickend. Die Oberin war zwar im Haus und schritt ein, wenn der Lärmpegel aus Ida K.s Gruppe zu hoch war, aber ansonsten musste sie von Beginn weg mit den Kindern alleine zurechtkommen. Sie fühlte sich dabei «mehr oder weniger wie eine Einzelkämpferin». Diese kurzfristige Umbesetzung war auch für die Schwester in der Küche schwierig. «Jedes Mal, wenn ich [in die Küche] kam, weinte sie», weil sie «bitter froh» gewesen wäre, Hilfe zu erhalten, so erinnert sich Ida K. an ihre Anfangszeit in Hagendorn.

Ein Arbeitstag von Ida K. begann um 7 Uhr mit dem Wecken der Kinder. Der Tagesablauf war klar geregelt. Nach dem Frühstück besuchten die Kinder tagsüber entweder intern den Schulunterricht oder die Abschlussklasse in der Schule in Cham. Währenddessen musste Ida K. Kleider flicken und bügeln. Beim Mittag- und Abendessen beaufsichtigte sie die Kinder und schöpfte die Speisen: «[Wir] assen nicht mit den Kindern zusammen.»

Nach der Nachmittagsschule stand ein täglicher Spaziergang auf dem Programm – bei jedem Wetter. Zu Ida K.s Aufgaben gehörte es auch, mit den Kindern zu spielen, Geschichten zu erzählen und ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen. Ihr Arbeitstag war erst gegen 22 Uhr zu Ende: «Ich hatte ein Zimmer auf der gleichen Etage wie die Kinder [...] und [musste] wieder schauen gehen, wenn etwas los war in einem Schlafsaal.» Diese langen Arbeitstage «würde heute niemand mehr machen», vermutet sie.

Die Klosterschwestern gaben den Ton an

Das Zimmer teilte Ida K. mit einer anderen Angestellten. Es war «sehr, sehr einfach» eingerichtet, «ein Bett und ein Schrank und ein Tisch». Die Wände waren «so dünn», dass sie die Kinder hörte. Am Samstagmittag durfte Ida K. nach Hause fahren, hatte aber bereits am Sonntagabend zum Abendessen wieder im Kinderheim zu sein. Das geistliche Personal blieb immer vor Ort. «Ich glaube nicht, dass [die Gruppenschwester] frei hatte», erinnert sich Ida K. Deren «Zimmer» war eine eingebaute Zelle in einer Ecke des Schlafsaals der Kinder. Oben war ein Einsatz aus Glas, sodass die Kinder sahen, wann sie da war und wann nicht.

Für die Klosterfrauen spielte die Religion eine wichtige Rolle im Alltag, was sich zwangsläufig auch auf die anderen Angestellten auswirkte. Es kam vor, dass Ida K. einen freien Nachmittag nicht beziehen konnte, weil die Schwestern zu einem «Gebet oder weiss ich was» gehen mussten. Dieses «klösterliche» Leben war für Ida K. manchmal zu viel. Ihren Eltern zu Hause sagte sie, dass sie «keine hundert Rösser ins Kloster» bringen könnten, erinnert sie sich. Sie störte sich, wie sie es später auch im Salesianum in Zug erlebte, vor allem an den «Eifersüchteleien» und «Streitereien» der Schwestern untereinander.

Ida K. war froh um den Austausch mit ihrer Zimmerkollegin in Hagendorn. Mit der Oberin konnte sie zwar «ab und zu reden», aber die Kommunikation blieb oberflächlich, und «[die Gruppenschwester] hat einfach gesagt, was zu machen ist». Unter den Schwestern gab es zudem «enorme Spannungen». So wurde die Gruppenschwester auf Ida K.s Gruppe, «die keine Ausbildung hatte», von den heilpädagogisch geschulten Lehrpersonen angeschwärzt, wenn «irgendetwas mit einem Kind nicht gelaufen ist, wie es hätte sollen».

Das Zuger Kinderheim wird reformiert

Als das Kinderheim in ein Sonderschulheim umgewandelt wurde, wurde die Gruppenschwester versetzt, und eine weltliche Erzieherin mit heilpädagogischer Ausbildung übernahm die Stelle. Es hat sich daraufhin einiges «wahnsinnig verändert», das «Ganze» wurde «irgendwie lockerer und freier»: So bewertet Ida K. das Resultat der Umstrukturierung und den personellen Wechsel. Das Personal durfte zudem in Einzelzimmer umziehen, die in einem separaten Haus untergebracht waren und erhielt dadurch mehr Privatsphäre.

Sie selbst wurde ermutigt, eine Ausbildung in Angriff zu nehmen. Die Oberin überzeugte Ida K., die neu eröffnete Heimerzieherschule in Rorschach zu besuchen. Der Orden wollte sogar für das Schulgeld aufkommen, was Ida K. aber ablehnte. Sie verliess daraufhin Hagendorn und absolvierte den neuen Lehrgang an der Schule. «Mich hat es befreit», sagt sie rückblickend, «es hat mir auch viel aufgezeigt, [...] wie man das anders machen und jenes anders ansehen kann».

Ab jetzt jede Woche eine weitere Geschichte

zentralplus hat sich entschieden, die Geschichten der mutigen Betroffenen zu veröffentlichen. Wir wollen dafür sensibilisieren, was im vergangenen Jahrhundert im Namen der Fürsorge geschah und welche Verbrechen begangen wurden. In diesem Winter veröffentlichen wir daher jede Woche ein weiteres Kapitel aus dem Zuger Forschungsbericht «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen». Wir danken der Beratungsstelle für Landesgeschichte und der Regierung des Kantons Zug für die Erstellung des Berichts. Die bisher erschienen Artikel findest du hier.

Verwendete Quellen
  • Forschungsbericht «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen» des Kantons Zug
  • Artikel zur Pressekonferenz der Veröffentlichung des Berichts auf zentralplus
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Ich
    Ich, 26.12.2022, 08:51 Uhr

    Ich musste meine ersten Lebensjahre in diesem Kinderheim verbringen, die erste Erinnerung die ich in meinem Leben habe war eine Ohrfeige von einer Klosterfrau oder einer Aufsichtsfrau. Es ist das Erniedrigste was man einem Kind Antun konnte, es in dieses Kinderheim zu stecken. Während dem Essen wurden unsere Füsse an die Stühle gebunden um sicher ruhig zu sitzen, wenn du nach dem Lichterlöschen im Schlafsaal noch gesprochen hast musste man im stinkenden Pissoir für längere Zeit Knien, manchmal wurde noch ein Lineal darunter geschoben. Es war meine schlimmste Zeit im Leben und hat mich für immer geprägt. Mir muss bis heute kein «Heiliger, oder dessen Ordensschwester» was erzählen, ich wusste was hinter Mauern des Glaubens abgelaufen ist, oder noch vielleicht noch lauft.

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