Staatsarchiv Luzern im Wandel der Zeit

«Ein Keller mit Akten ist noch kein Archiv»

Jürg Schmutz ist seit 2007 Staatsarchivar vom Kanton Luzern. (Bild: cbu)

Ein muffiger Keller voller Schränke – so stellen sich viele ein Archiv vor. Die Realität sieht anders aus. zentralplus hat sich mit dem Luzerner Staatsarchivar Jürg Schmutz über die Bedeutung von historischen Dokumenten in Zeiten der Digitalisierung unterhalten.

Beim Wort «Archiv» haben viele ein klares Bild vor dem geistigen Auge: Alte, dicke Bücher und historische Pläne, einsortiert in deckenhohe Regale und Rollschränke. Aufbewahrt in einem kühlen, dunklen Keller. Ganz fantasievolle Zeitgenossen pinseln in ihrer Vorstellung vielleicht noch Staubschichten auf die Buchumschläge und Spinnweben in die Zimmerecken.

«Von diesem Image wollen wir definitiv wegkommen», sagt Jürg Schmutz, Staatsarchivar des Kantons Luzern bei einem Gespräch mit zentralplus. Es entspreche nämlich nicht mehr der Realität. Zugegeben, volle Regale und Rollschränke gibt es auch in den teils klimatisierten Kellerräumen des Staatsarchivs Luzern in grosser Menge. Schliesslich müssen historische Dokumente – die ältesten stammen aus dem 12. Jahrhundert – fachgerecht gelagert werden.

Aber die heutige Arbeit in einem Archiv hat sich ebenso gewandelt wie die Dokumente, die es beherbergt. Darum lassen wir die Regale im Keller aussen vor und wenden uns der Gegenwart zu.

Der Platz wird eng, der Cyberspace ruft

Das Staatsarchiv ist das «Gedächtnis» des Kantons Luzern. Hier werden Abertausende von Dokumenten gelagert, offizielle wie private. Allesamt streng geordnet und abgelegt. Denn: «Ein Keller voller Akten ist noch kein Archiv», sagt Jürg Schmutz. Kantonale Behörden obliegen dabei einer Anbieterpflicht – sie dürfen also nichts wegwerfen, bevor das Staatsarchiv nicht die Unterlagen gesichtet und bewertet hat. Je nach Abteilung werden mehr oder weniger Unterlagen als «archivwürdig» erachtet. Protokolle über Fahrzeugkontrollen werden beispielsweise nicht abgelegt. Gerichtsurteile hingegen schon. Und zwar seit 1803. Oder Protokolle des Kleinen Rats. «Die führen wir seit 1384 lückenlos. Teils noch in gotischer Kanzleischrift.»

Wie viele Unterlagen das Staatsarchiv beherbergt, kann Jürg Schmutz nicht genau beziffern. Hier misst man nicht in Stückzahlen, sondern in Länge der verfügbaren Ablageflächen. Und davon hat das Staatsarchiv Luzern etwa 20 Kilometer.

Und dieser Platz wird langsam knapp. So wie es heute besteht, wurde das Staatsarchiv vor ziemlich genau dreissig Jahren eröffnet, erzählt Schmutz. «Es wurde damals für eine Laufzeit von dreissig Jahren konzipiert.» Eine treffende Schätzung, denn «in den nächsten zehn Jahren wird uns der physische Platz ausgehen». Der Zuwachs mit physischen Unterlagen wird gemäss Schmutz zwar in Zukunft abnehmen, trotzdem werde man mit Aussenmagazinen arbeiten müssen. Und die Digitalisierung noch stärker vorantreiben.

Historische Unterlagen sind auch für journalistische Recherchen relevant. (Bild: cbu)

Jahresbudget von 3,5 Millionen Franken

Jürg Schmutz: «Wir sind mittlerweile weggekommen von handgeschriebenen Urkunden. Was wir heute machen, gehört zum Datenmanagement des Kantons.» Dafür kommt ein System zum Einsatz, das Jürg Schmutz in Luzern mit aufgebaut hat. Der promovierte Historiker ist seit 2007 Staatsarchivar in Luzern und seit 2018 zusätzlich fürs Luzerner Handelsregister zuständig. Zuvor hat der heute 60-Jährige unter anderem zehn Jahre im Staatsarchiv Thurgau gearbeitet, zuletzt als stellvertretender Staatsarchivar. «Geschichte und Quellen haben mich schon früh interessiert», sagt er.

Im Staatsarchiv geht es allerdings um mehr als um nur die sorgfältige Aufbewahrung von alten Unterlagen. Auch wenn die Bereitstellung von Dokumenten für historische Forschung sicherlich ein wichtiger Aspekt für den Betrieb ist, das Kerngeschäft ist ein anderes. «Wenn wir hier nur historische Aufarbeitung machen würden, wäre das Staatsarchiv eine Luxusinstitution.» Denn pro Jahr budgetiert der Kanton für sein Archiv rund 3,5 Millionen Franken.

Hauptsächlich geht es bei der Archivierung darum, die Rechtssicherheit zu gewährleisten. Also Dokumente aufzubewahren, welche rechtlich relevant sind – auch Jahre und Jahrzehnte später. Ebenfalls soll das Handeln der Verwaltungen nachvollziehbar bleiben. Das baut einen gewissen Druck auf amtierende Politikerinnen und Verwaltungsangestellte auf, genau zu arbeiten. Oder, wie Jürg Schmutz es formuliert: «Die Arbeit von Behörden wird für die Nachwelt festgehalten. Also auch, wenn sie unsauber arbeiten.»

Jürg Schmutz in den Räumlichkeiten des Staatsarchivs Luzern. (Bild: cbu)

Private Nachlasse bringen «Leben in die Bude»

Obwohl das Staatsarchiv dem Namen entsprechend in erster Linie eine staatliche Institution ist, freut sich das Team auf Archivalien aus Privatbeständen. «Da haben wir ein grosses Interesse daran.» Seien es Nachlässe von alten Patrizierfamilien und bedeutenden Persönlichkeiten oder spannende Firmengeschichten wie jene des Emmer Textilunternehmens Viscose oder der Maschinenfabrik Bell in Kriens: «Mit solchen Dokumenten wird Geschichte richtig lebendig. Da kommt Leben in die Bude», sagt Jürg Schmutz.

«Unser langfristiges Ziel muss es sein, alle Bestände zu digitalisieren.»

Jürg Schmutz, Staatsarchivar

Während früher gewissermassen Wagenladungen mit Dokumenten, vollgeschriebenen Büchern, Ordnern und dergleichen mehr vor den Türen des Archivs abgeladen wurden, arbeiten sie im Staatsarchiv heute von Beginn an mit den verschiedenen kantonalen Abteilungen zusammen. «Ein Archiv muss von Anfang an dabei sein. Wir müssen die Datenbearbeitung mitgestalten können.» Zum Einsatz kommt unter anderem ein Geschäftsverwaltungssystem, abgekürzt «GEVER», das die Geschäftsbildung steuert.

Seit Jahren werden in Luzern die Bestände Stück für Stück digitalisiert. «Unser langfristiges Ziel muss es sein, alle Bestände zu digitalisieren.» Je nach Medium arbeiten die Archivare bei der Digitalisierung auch gegen die Zeit. Schmutz zeigt in seinem Büro auf einen Stapel VHS-Kassetten und Fotonegative, die auf einer Ablage liegen. «Gewisse Trägermedien haben eine sehr beschränkte Lebensdauer, darum geben wir diesen den Vorrang.» Bei der Digitalisierung müsse man mit der Zeit gehen und vorausschauend planen, welche Formate sinnvoll sind. «Wir haben kein Interesse daran, diese Arbeit alle fünf Jahre machen zu müssen», sagt der Historiker gut gelaunt.

Ein Bild aus dem – der Scherz sei verziehen – Archiv: Das Staatsarchiv des Kantons Luzern anno 1979. (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Der Lesesaal im Staatsarchiv wird weniger genutzt

Der Wandel hin zur Digitalisierung schlägt sich auch in den Besucherzahlen nieder. Ein kurzer Blick auf den Jahresbericht zeigt, dass die Nutzungszahlen im Lesesaal in der Tendenz sinken. Zwar gibt es immer wieder «Peaks», wie etwa, als die Geschichte der Luzerner Kinderheime aufgearbeitet wurde, die Zahlen sind in den vergangenen zwanzig Jahren jedoch abnehmend. Im vergangenen Jahr benutzten beispielsweise 365 externe Personen an insgesamt 1374 Tagen die Bestände des Staatsarchivs. Noch vor zwanzig Jahren waren es zwischen 3000 und 4000 Benutzertage pro Jahr. Dafür werden die Archivbestände heute umso mehr digital genutzt.

Die Abnahme von Nutzungen im Lesesaal lässt sich manchmal einfach begründen, erklärt Schmutz. So seien die Kirchenbücher, die häufig für Familienforschung genutzt werden, in den vergangenen Jahren von Mitgliedern der «Kirche Jesu Christi der Heiligen Letzten Tage» in Zusammenarbeit mit dem Staatsarchiv digitalisiert und öffentlich online gestellt worden. «Diese Nutzer – und das waren nicht wenige – sind schlagartig weggefallen.»

Informatik wird immer wichtiger

Insgesamt 35 Leute arbeiten für das Staatsarchiv, viele studierte Historiker, aber auch Restauratoren, Reprografinnen, Sprachwissenschaftler und Konservatorinnen. Und in Zukunft, so Schmutz, wird der Umgang mit digitalen Daten in allen Formen zunehmend wichtiger. «Im Moment kommen wir mit Historikern und informationstechnisch interessierten Personen noch gut durch. Fachkenntnisse im digitalen Bereich werden aber zunehmend wichtiger.»

Trotz der zunehmenden Digitalisierung werden die alten Dokumente nicht verschwinden. Sie sind Zeitzeugen, teils historisch bedeutend und äusserst wertvoll. Und wie die Bits und Bytes, die aktuell Eingang in das Staatsarchiv finden und noch finden werden, sind sie Teil des kollektiven Gedächtnisses des Kantons Luzern. Festgehalten für eine Zeit, in der wir alle das sein werden, was viele auf den eingelagerten Büchern im Archivkeller vermuten: Staub.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jürg Schmutz, Staatsarchivar
  • Augenschein vor Ort
  • Website Staatsarchiv Luzern
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