«Diese Seegfrörni war rückblickend wie ein Wunder»
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Der Zugersee war vor 60 Jahren eine einzige Eisfläche. Es war das letzte Mal, das dieses Naturphänomen hierzulande auftrat. Mehrere Zeitzeugen erinnern sich an dieses «Volksfest», das nicht für alle positiv endete.
«Seegfrörni auf dem Zugersee» lautete die Überschrift der Meldung, die am 25. Februar 1963 in der «NZZ» publiziert wurde: «Die neue Kältewelle hat nun auch dem Zugersee einen Eispanzer verschafft. Das auf dem schon früher gebildeten Eis liegende Wasser und der darauf gefallene Schnee sind ebenfalls gefroren, so dass die Eisdecke im Gebiet der Stadt Zug eine Eisdicke von 17 bis 18 cm aufweist. Am Montag haben Zürcher Eisspezialisten das Eis geprüft und haben den See zum Betreten freigegeben.»
Was in Zug auf diese Meldung folgte, lässt sich getrost als grosses Gaudi bezeichnen (zentralplus berichtete). Jedenfalls bis zum 8. März. Die Luft wurde in den Tagen davor plötzlich deutlich wärmer, weshalb das Betreten des Eises bald wieder verboten werden musste.
Die Walchwilerinnen und die Chamer konnten die Gfrörni übrigens deutlich länger geniessen. An diesen Orten war der See bereits am 11. Februar freigegeben worden, womit sie fast einen Monat lang ihre Pirouetten drehen konnten.
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Breite Spalten im Eis galt es zu überspringen
Roland Gubser wuchs in der Gemeinde Walchwil auf. Er war gerade einmal sieben Jahre alt, als der Zugersee gefror. «Ich erinnere mich, dass wir von St. Adrian in Walchwil bis nach Immensee über den See gelaufen sind und dort im Hotel eine warme Ovo getrunken haben. Das war eine grosse Sache, denn für uns Kinder war ein Restaurantbesuch etwas sehr Aussergewöhnliches.»
”«Im Eis hatte es einige zirka 20 Zentimeter breite Spalten, über die wir springen mussten.»
Roland Gubser, aufgewachsen in Walchwil
Pro Weg waren dafür sechs Kilometer zu bewältigen. Und dieser war zuweilen abenteuerlich: «Im Eis hatte es einige zirka 20 Zentimeter breite Spalten, über die wir springen mussten. Meiner Mutter war es ziemlich mulmig dabei, weshalb sie mein Vater überzeugen musste weiterzugehen.»
Auch an einen VW-Käfer, der auf dem See fuhr, kann sich Gubser erinnern. «Ausserdem kassierte mein Bruder eine saftige Ohrfeige dafür, dass er das Eis betreten hatte, obwohl die Polizei den See noch nicht freigegeben hatte.»
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Dolfi Müller mit den schicken Eis-Flitzern
Ex-Stapi Dolfi Müller war damals acht Jahre alt. Er erzählt: «Als Achtjähriger war ich natürlich mit dem Hockeystock auf dem See, wobei er vor allem als Stütze diente. Die älteren Jungs hatten Löcher ins Eis gebohrt, um mit Seewasser die Hockeyfelder zu präparieren.»
”«Richtig wohl war mir mit meinen Küenzli-Schlittschuhen nicht, zogen diese doch die scheelen Blicke der weniger Privilegierten auf sich.»
Dolfi Müller, aufgewachsen in der Stadt Zug
Richtige Schlittschuhe hatte damals kaum jemand: «Die meisten waren mit sogenannten Örgelis unterwegs – Kufen, die man an die schweren Winterschuhe schrauben konnte.» Nicht so der «Junior vom Schuehni Müller», wie Dolfi Müller damals genannt wurde. «Ich hatte natürlich echte Küenzli-Schlittschuhe. So richtig wohl war es mir dabei nicht, zogen diese doch die scheelen Blicke der weniger Privilegierten auf sich.»
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Dem EVZ hätte die Eisqualität kaum genügt
Das Eis sei ziemlich holprig gewesen, was vor allem den vielen Fussgängerinnen entgegengekommen sei. «Die Hafenbucht war denn auch eine grosse Festmeile mit Bratwurstgrills und Getränkeständen.» Und weiter: «Niemand hatte Angst, im See einzubrechen. Bis ein Alkoholisierter auf dem nächtlichen Heimweg übers Eis mit dem Leben bezahlte. Das haben wir uns jedenfalls gegenseitig erzählt.»
Als der Spuk vorbei war, freuten sich Müller und seine Freunde schon auf die nächste Seegfrörni. Bis heute vergeblich. «Meine Kinder und Enkelinnen werden ein solches Zuger Jahrhundertereignis wohl kaum einmal erleben», sagt er nachdenklich.
Zum Flirten über den See gefahren
Hanni Waller erlebte das Ereignis im Ennetsee: «Ich wuchs mit meinen Schwestern in Cham auf und war bei der Seegfrörni zwanzig Jahre alt. Jeweils am Sonntagnachmittag gingen wir spazieren. Die Spaziergänge in jenem Winter waren insofern speziell, als sie auf dem See stattfanden», erzählt sie. «Auch erinnere ich mich, dass der Schatz meiner Schwester vom Herti mit dem Velo nach Cham fuhr, um zu flirten.»
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Der gebürtige Walchwiler Hans Stadelmann war bei der Seegfrörni 23 Jahre alt und – wenn man seinen Geschichten lauscht – zu dieser Zeit voll im Saft. Er erzählt: «Damit der ganze See gefrieren kann, muss es schon im Herbst kalt sein, ausserdem braucht es dazu schönes Wetter ohne Wind.» So geschah es denn auch im Herbst 1962 und im darauffolgenden Frühjahr.
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Mit den Schlittschuhen nach Immensee
Eines Abends, nach dem Training des Turnvereins, machten sich Stadelmann und seine Freunde auf den Weg zu einem Geburtstagsfest in Richtung Lido. «Das war etwa um 22 Uhr. Während der See in Richtung Zug bereits zugefroren war, war er in Richtung Arth noch offen. Als wir uns vier Stunden später auf den Heimweg machten, war der See gänzlich zugefroren.» Bis zu 60 Zentimeter dick sei das Eis in diesem Winter angewachsen.
”«Manchmal klauten wir in der Beiz in Immensee einen Gegenstand, um ihn dann im Restaurant Engel in Walchwil wieder aufzustellen.»
Hans Stadelmann, aufgewachsen in Walchwil
Zunächst brauchte es Geduld, denn die Eisfläche war noch nicht freigegeben worden. «Als der See so richtig zugefroren war, ging's los. Jeden Dienstag und Freitag nach dem Turnen fuhren wir gemeinsam übers Eis nach Immensee. Dies entweder mit dem Velo oder mit den Schlittschuhen.»
Lausbubenstreiche waren an der Tagesordnung
In der Ausnahmesituation war einiges erlaubt: «Manchmal klauten wir in der Beiz in Immensee einen Gegenstand, zum Beispiel ein Gartentörchen, um ihn dann im Restaurant Engel in Walchwil wieder aufzustellen. Bis der Gegenstand von den Immenseern wieder zurückgeklaut wurde.»
”«Einmal hing am Abend stockdicker Nebel über dem See. Wir machten uns auf nach Immensee und landeten schlussendlich in Arth.»
Hans Stadelmann, aufgewachsen in Walchwil
Ganz ohne seien die Ausflüge nicht gewesen: «Einmal hing am Abend stockdicker Nebel über dem See. Wir machen uns auf nach Immensee und landeten schlussendlich in Arth.» Schlimm sei das nicht gewesen. «Es war Freitagabend und wir hatten Zeit.»
Die Jungen präparierten Eisfelder und veranstalteten Hockeymatches. «Während des ganzen Winters war für Unterhaltung gesorgt, man musste nicht lange überlegen.» Auch wenn sich die wenigsten einen richtigen Hockeystock leisten konnten. «So zimmerten wir uns selber welche aus Haselstauden.» Zu jener Zeit sei es überdies fast unmöglich gewesen, Schlittschuhe zu kaufen. «Sie waren überall ausverkauft.»
Erst im Mai war das Eis wieder gänzlich verschwunden, erzählt Stadelmann. «Rückblickend gesehen war diese Seegfrörni wie ein Wunder.»
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- Artikel «NZZ» vom 25. Februar 1963
- Artikel «Zuger Zeitung» von 2003
- Gespräche mit verschiedenen Zugerinnen
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- Kontakt mit dem Stadtarchiv und dem Amt für Denkmalpflege
- Fotos von Zeitzeugen
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