Interview mit Luzerner Steuerexpertin Andrea Opel

Die Individualbesteuerung befeuert die Romantik

Andrea Opel ist Professorin für Steuerrecht an der Universität Luzern. (Bild: ida)

Steuerexpertin Andrea Opel kämpft seit Jahren für die Einführung der Individualbesteuerung. Das ist zum Gähnen langweilig? Keineswegs. Wir haben die Professorin der Universität Luzern getroffen.

Wenn ein Paar in der Schweiz heiratet, muss es nur noch eine gemeinsame Steuererklärung ausfüllen. Was auf den ersten Blick verlockend klingt, hat einen äusserst faden Beigeschmack: Denn verheiratete Paare werden so gemeinsam besteuert und müssen in der Regel mehr Steuern bezahlen, als wenn sie unverheiratet zusammenleben würden.

Diese Heiratsstrafe gehört abgeschafft – darüber ist man sich weitgehend einig und ebenso, dass die Zeit reif ist für die Individualbesteuerung. Damit würden Ehepaare künftig zwei separate Steuererklärungen erhalten und damit getrennt besteuert werden. Wie die Individualbesteuerung ausgestaltet werden soll, ist aber noch offen.

Um was es dabei genau geht – und warum das momentane Steuersystem verfassungswidrig ist – erklärt Andrea Opel. Sie ist Professorin für Steuerrecht an der Universität Luzern.

zentralplus: Andrea Opel, was hat denn der Beziehungsstatus überhaupt in der Steuererklärung zu suchen?

Andrea Opel: Früher hat die gemeinsame Veranlagung von Ehepaaren die soziale Realität widerspiegelt. Bis zum Ende des letzten Jahrtausends war das Alleinverdienermodell stark verbreitet. In der Regel kam das Einkommen vom Mann, die Frau kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Es gab somit nur ein Einkommen – und nur eine Steuererklärung. Das machte damals Sinn, weil es eine Vereinfachung war. Nur sieht die Realität heute anders aus. Die meisten Frauen sind berufstätig. Dennoch basiert das geltende Steuersystem nach wie vor auf diesem Alleinernährermodell. Ein solches Steuersystem ist total aus der Zeit gefallen.

zentralplus: Sie sprechen in diesem Zusammenhang nicht nur von einer Heiratsstrafe, sondern auch von einer Zweitverdienerinnenstrafe. Können Sie erklären, was Sie damit genau meinen?

Opel: Wenn ein Paar verheiratet ist, werden die Einkommen und die Vermögen von beiden zusammengerechnet. Das Paar gilt als Veranlagungsgemeinschaft. Dadurch wird diejenige Person, die das kleinere Einkommen erwirtschaftet, in eine sehr hohe Steuerklasse getrieben. Dies, weil die Besteuerung auf dem Niveau des Erstverdienenden startet. In der Regel sind die Zweitverdienerinnen Frauen. Die gemeinsame Veranlagung bewirkt daher zugleich eine Zweitverdienerinnenstrafe.

zentralplus: Und dann müssen Frauen erst ausrechnen, ob sich ein Nebeneinkommen überhaupt lohnt?

Opel: Bei verheirateten Paaren mit Kindern, bei denen ein Elternteil einem kleineren Arbeitspensum nachgeht, drängt sich immer die Frage auf: Rentiert das überhaupt? Nicht selten sind Steuerauslagen und die Kosten für die Kinderbetreuung so hoch, dass sie das Nebeneinkommen nahezu aufbrauchen oder sogar übersteigen.

«Wir haben immer noch das Problem, dass sich Zweitverdienende – das sind in der Regel Frauen – aus steuerlichen Gründen vom Arbeiten abhalten lassen.»

zentralplus: Die Individualbesteuerung will genau das ändern. Künftig soll jede Frau und jeder Mann separat eine Steuererklärung ausfüllen – egal, ob sie verheiratet sind, im Konkubinat oder allein leben. Weswegen wäre das für Sie der richtige Weg?

Opel: Wir haben immer noch das Problem, dass sich Zweitverdienende – das sind in der Regel Frauen – aus steuerlichen Gründen vom Arbeiten abhalten lassen. Das darf nicht sein. Das Steuerrecht soll niemanden zum Arbeiten zwingen. Auch keine Frau. Aber es ist nicht richtig, dass wir ein System haben, dass es insbesondere für Frauen unattraktiv macht, einer Arbeit nachzugehen.

zentralplus: Dass ein Paar nicht heiratet, weil es nicht mehr Steuern bezahlen will, leuchtet ein. Aber dass man deswegen auf die Arbeit verzichtet?

Opel: Man muss auch sehen: Arbeiten ist Stress. Gerade wenn in Paarbeziehungen beide arbeiten. Das tut man sich dann an, wenn man am Ende auch was davon hat. Wenn wenig Geld übrig bleibt oder gar nichts, wägen Paare schon ab, ob sich der Stress auch lohnt. Ich kenne mehrere Paare, bei denen die Frau vor diesem Hintergrund aus dem Erwerbsleben ausgestiegen ist. Und andere Paare, die wegen der Heiratsstrafe nicht heiraten. Oder eine Heirat später ins Auge fassen, denn mit Blick auf die Erbschaftssteuer ist es in der Regel wieder vorteilhaft, verheiratet zu sein.

zentralplus: Derzeit arbeitet der Bundesrat im Auftrag des Parlaments an der Einführung der Individualbesteuerung. Zudem ist vor einer Woche die Initiative zur Einführung der Individualbesteuerung der FDP-Frauen zustande gekommen. Dennoch gibt es viel Gegenwind. Die Mitte wehrt sich mit einer Initiative gegen die Individualbesteuerung und kämpft für das sogenannte Splittingmodell. Worin liegt aus Ihrer Sicht das Problem an diesem Modell?

Opel: Das Splittingmodell bleibt abhängig vom Zivilstand. Dabei wird das Einkommen beider Partner zusammengerechnet und dann zur Bestimmung des Steuersatzes beispielsweise halbiert. Nehmen wir das Beispiel eines verheirateten Paares: Er verdient 100'000 Franken jährlich. Sie überlegt sich, ein Teilzeitpensum aufzunehmen. Bei der Ehegattensplittung fängt die Progression für sie bei 50'000 Franken an. Das ist zwar besser, aber nicht gleich gut wie bei der Individualbesteuerung. Da würde die Progression bei der Frau nämlich bei 0 Franken beginnen. Zudem sehe ich nicht ein, wieso der Zivilstand eine steuerliche Relevanz soll haben.

«Die Einführung der Individualbesteuerung würde der Ehe sogar zu mehr Aufschwung verhelfen. Paare würden sich nicht von finanziellen oder steuerlichen Gründen von der Heirat abhalten lassen.»

zentralplus: Gegnerinnen der Individualbesteuerung behaupten, dass das neue Modell die Ehe als Institution gefährden würde.

Opel: Die Individualbesteuerung würde die Ehe grundsätzlich steuerlich nicht mehr als Gemeinschaft behandeln – weil ja beide Partner separat eine Steuererklärung ausfüllen und getrennt veranlagt würden. Das ist richtig. Die Ehe als Institution würde dadurch aber nicht infrage gestellt.

zentralplus: Ihrer Meinung nach gefährdet die Individualbesteuerung die Ehe also nicht?

Opel: Im Gegenteil. Im Moment heiraten viele Paare in meinem Alter wegen der steuerlichen Zusatzbelastung nicht. Die Einführung der Individualbesteuerung würde der Ehe deswegen sogar zu mehr Aufschwung verhelfen. Paare würden sich nicht von finanziellen oder steuerlichen Gründen von der Heirat abhalten lassen.

zentralplus: Sie selbst waren einmal verheiratet, leben nun aber in einem Konkubinat. Wollen Sie denn nicht mehr heiraten?

Opel: Dass ich heute in einem Konkubinat lebe, hat tatsächlich auch finanzielle Gründe. Ich sehe nicht ein, weshalb ich nur aufgrund eines anderen Zivilstands mehr Steuern bezahlen soll. Ausserdem ist mir meine finanzielle Eigenständigkeit wichtig.

zentralplus: Dann haben Sie mit ihrem neuen Partner selbst mit dem Taschenrechner nachgeforscht, wie viel mehr Sie bezahlen müssten, wenn Sie heiraten würden?

Opel: Ja, natürlich. Sie lacht. Auch meinen Assistenten habe ich – natürlich mit einem Augenzwinkern – gesagt: Bevor die Individualbesteuerung nicht eingeführt wird, wird nicht geheiratet, denn wir müssen als Lehrstuhl glaubwürdig bleiben. Sie lacht.

«Diesen Mehraufwand gibt es, den möchte ich auch gar nicht kleinreden. Aber er muss es uns wert sein.»

zentralplus: Warum hat die Individualbesteuerung einen solch schweren Stand bei den Kantonen?

Opel: Die Kantone fürchten sich vor dem Mehraufwand, dass sie künftig also mehr Steuererklärungen bearbeiten müssen. Das ist ein schwaches Argument. Diesen Mehraufwand gibt es, den möchte ich auch gar nicht kleinreden. Aber er muss es uns wert sein, um das Steuerrecht zukunftsfähig zu machen. Und die Digitalisierung schreitet ja auch voran. Klar ist jedenfalls, dass die Individualbesteuerung möglich ist. Denn Konkubinatspaare werden ja heute schon getrennt besteuert.

zentralplus: In der «Steuer Revue» schrieben Sie einst, dass das aktuelle Steuerrecht verfassungswidrig sei. Dass die Heiratsstrafe verfassungswidrig ist, hat das Bundesgericht bereits 1984 in einem Urteil festgehalten. Das schockiert.

Opel: Es gibt verschiedene Bestimmungen im Steuergesetz, die verfassungswidrig sind. Das hat den Hintergrund, dass verfassungswidrige Regelungen in Bundesgesetzen nicht aufgehoben werden können. Dass die Heiratsstrafe verfassungswidrig ist, ist tatsächlich seit Jahrzehnten bekannt. Ehepaare müssen bei gleichem Gesamteinkommen mehr Steuern zahlen als Konkubinatspaare – das verstösst gegen das Gleichbehandlungsgesetz. In meinen Augen ist auch die Zweitverdienendenstrafe verfassungswidrig, denn sie verstösst gegen das Diskriminierungsverbot.

zentralplus: Warum?

Opel: Es handelt sich ja nicht um eine direkte Diskriminierung, das heisst, das Steuerrecht sagt nicht, dass Frauen mehr Steuern zahlen müssten. Aber Zweitverdienende müssen aufgrund unseres Systems mehr Steuern bezahlen. Weil aber faktisch weitaus mehr Frauen Zweitverdienerinnen sind, liegt meines Erachtens eine indirekte Diskriminierung vor. Die Verfassung untersagt auch indirekte Diskriminierungen.

zentralplus: Sie befassen sich seit Jahren mit der Individualbesteuerung. Im Hintergrund waren Sie auch für den Initiativtext der FDP-Frauen zuständig. Was treibt Sie an?

Opel: Zuerst fand ich das System einfach falsch. Es kann nicht sein, dass der Zivilstand über die Steuerlast entscheidet. Die Besteuerung muss vielmehr nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgen. Faktischen Unterschieden – gemeinsamer Haushalt, Kinder und so weiter – gilt es daher steuerlich durchaus Rechnung zu tragen. Inzwischen wird mir aber immer bewusster, dass es eben auch ein wichtiges Thema ist mit Blick auf die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frau. Schon das Ausfüllen der eigenen Steuererklärung hat einen psychologischen Effekt, den man nicht unterschätzen darf.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Andrea Opel
  • Website Volksinitiative zur Einführung der Individualbesteuerung
  • Artikel in der «Steuer Revue»
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Albus
    Albus, 28.08.2022, 19:37 Uhr

    Die gemeinsame Veranlagung ist nicht nur Verfassungswidrig sondern auch Wirtschaftsschädigend (und vielen Parteien ist nur das letztere ein Problem)z Mit den zunehmenden gesundheitlichen Ausfällen bei den Arbeitskräften führt kein Weg an der Insividualbesteuerung vorbei.

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