Teil 2: Adoptierte Luzernerin auf Spurensuche in Indien

Geboren im Moloch Mumbai

Spielecke für die Kleinsten im Waisenheim Mumbai, das für 500 Kinder ein temporäres Daheim ist. (Bild: chw)

Nach einem ersten Besuch im Waisenheim lässt sich Livia Lalita Zgraggen in den Bann ziehen von der faszinierenden und hektischen Millionenstadt Mumbai. Und sagt: «Endlich eine von vielen sein!» Keine Ahnung vom indischen Lebensgefühl haben hingegen ihre Adoptiveltern.

Die Hitze am Flughafen Mumbai haut einen um die Ohren wie ein feuchtes Frottiertuch, das nicht ausgewrungen wurde. Es ist Juni 2018, die Temperaturen klettern auf 41 Grad, gefühlt sind es 47. Livia Zgraggen schiebt einen Gepäckwagen mit mehreren Koffern vor sich her. In der Menge der Ankommenden ist sie kaum auszumachen: Sie trägt eine hüftlange Bluse im indischen Stil, darunter farbige Leggins, die knapp über den Knöcheln enden und sieht mit ihren schwarzen Haaren und der dunklen Haut aus wie alle anderen Inderinnen, die gemeinsam mit ihr aus der Ankunftshalle gespült werden. «Endlich Mainstream! Endlich nicht auffallen! Endlich eine von vielen sein!», sagt sie später und geniesst es, dass keiner sie schräg anschaut und fragt: «Woher kommst du?»

Eine Frage, die ihr in der Schweiz seit Jahrzehnten gestellt wird, der sie bis heute ausgesetzt und manchmal ohnmächtig ausgeliefert ist: Auf der Strasse wird sie auf Hochdeutsch oder Englisch angesprochen, auf der Post muss sie ihre Schweizer Identität am Schalter vor allen anderen Leuten beweisen, Verwaltungen und Behörden taxieren sie auf den ersten Blick als Asylbewerberin oder Ausländerin, neue Bekannte oder Kunden staunen über ihr fremdländisches Aussehen und sagen: Aber sie heissen doch Zgraggen, Livia Zgraggen?!

Für die Einheimischen klar: Lalita ist Inderin

In Mumbai ist es umgekehrt, das freut und amüsiert Livia: Der Rikschafahrer schwatzt frischfröhlich auf Hindi weiter, obschon sie sagt, dass sie ihn nicht versteht; an den Ticketschaltern bei Sehenswürdigkeiten bezahlt sie ungefragt den Eintrittspreis für Einheimische, der ein Vielfaches günstiger ist als für Ausländerinnen. Bei den Strassenverkäufern wird sie nicht übers Ohr gehauen und von den Männern nicht angestarrt, sondern mit Respekt behandelt oder schlicht ignoriert.

Das Waisenheim steht in einem ärmlichen Quartier mitten im Moloch Mumbai. (Bild: chw)

Im Hotel wird sie nach ihrem Namen gefragt und zum ersten Mal höre ich sie antworten: Lalita. «Das ist einfacher so, es stimmt für mich in Indien», sagt Livia, die eben aus Kerala angekommen ist, wo sie vier Wochen ein Yogaseminar besuchte, bevor sie sich jetzt in Mumbai auf Spurensuche nach ihrer frühsten Kindheit machen will. «Endlich. Aber vorher war ich nicht parat», sagt sie. Livia Zgraggen ist heute 39 Jahre alt, hat selber eine Tochter, arbeitet als freiberufliche Gesundheitsfachfrau und ist grundsätzlich gut eingerichtet im Leben. Jetzt ist sie zum ersten Mal in Indien, dem Land, in dem sie geboren wurde. «Ich will gewisse Identitätslücken schliessen, die mich seit meiner Kindheit beschäftigen», hatte sie vor der Abreise gesagt.

Die Beziehung zu ihren Adoptiveltern war nicht immer einfach, heute hat Lalita sporadisch Kontakt mit ihnen. Haben sie etwas falsch gemacht? Livia wiegelt ab. «Möglicherweise hätten wir genau die gleichen Auseinandersetzungen und Probleme miteinander, wenn ich ihre richtige Tochter gewesen wäre – wer weiss das schon? Ich weiss es eben nicht!», sagt sie rückblickend auf ihre Kindheit und die anschliessenden pubertären Krisen.

Im Gegenzug habe sie immer ein Fenster offen gehabt, wenn es Streit gegeben und sie die Eltern unmöglich gefunden habe. «Ihre Gene sind nicht in mir! Sie haben nichts mit mir zu tun! Ich bin eine ganz andere!», sagte sie sich dann, schaute in den Spiegel und wusste nicht, wer diese andere denn sein sollte. Woher ihre eigenen Gene kommen, was vielleicht ihren Charakter und ihr Temperament geprägt hat, blieb im Dunkeln. Oder vielleicht in Indien. Das Kind Livia wusste zwar, dass es von dort kommt. Aber damit hatte es sich. «Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern jemals mit mir eine Weltkarte angeschaut haben oder mir ein Bilderbuch über Indien zeigten», sagt sie und nimmt es übel, dass ihr keine Brücke zu ihrem Herkunftsland gebaut wurde.

Zeichen des Dankes von Müttern, die ihr Kinder in die Obhut der Schwestern gegeben haben. (Bild: chw)

Das Ehepaar Zgraggen weiss nichts von diesem Moloch Mumbai, in dem gegen 20 Millionen Menschen leben und der unter einer der weltweit grössten Bevölkerungsdichten ächzt und röchelt und erstaunlicherweise doch nicht gänzlich zusammenkracht. Es ist Livia Lalita, die jetzt als längst erwachsene Frau durch diese chaotischen Strassen geht, die verstopft sind von Motorrikschas und Lastwagen, von Karren und Motorrädern, von Menschen und Kühen. Ein Moloch, über dem sich ein Höllenlärm zusammenbraut, der sich mit der unsäglichen Hitze und dem Smog über die Stadt legt und sie gnadenlos unter sich erstickt.

Dichtgedrängt stehen schäbige Hütten aus Holzresten, Wellblech und Plastik, die auf- und ineinander gebaut sind, jeden freien Millimeter nutzend, damit die armen Leute zumindest ein Dach über dem Kopf haben. Davor und dazwischen Müll und dümpelndes Wasser, das in der Hitze und wenn es während des Monsuns aus Kübeln schüttet, zur Kloake wird, deren Gestank in den Strassen hängenbleibt.

Als wäre das nicht schon genug, sorgt die Luftfeuchtigkeit dafür, dass einem die Kleider angeklatscht am Rücken kleben, wenn es schon vormittags so heiss ist, dass man am Strassenrand Eier kochen kann. Lalita lässt sich nichtsdestotrotz in den Bann ziehen vom geschäftigen Treiben der Millionen Frauen und Männer, die dichtgedrängt in ihren farbigen Kleidern durch die Strassen wuseln und ihre Waren an Marktständen verkaufen, in einer Werkstatt Holzmöbel schnitzen, den durstigen Passanten an einer Strassenecke Kokosnüsse anbieten oder sich seelenruhig durch den Höllenverkehr schlängeln.

Der süsse Duft von Jasminblüten steigt in ihre Nase, der sich wie ein kleines Wunder in all dem Gestank durchsetzen kann, und die scharfen Gerichte schmecken ihr köstlich, die es bei den kleinen Garküchen um die Ecke genauso gibt wie in klimatisierten Restaurants. Stundenlang kurvt sie in den Motorrikschas durch die Strassen und kann sich nicht sattsehen an diesem quirligen Treiben und allgegenwärtigen Trubel. Und Lalita weiss: Aus irgendeinem Winkel dieses indischen Molochs kommt sie selber, bevor sie mit 18 Monaten in der Schweiz zu Livia Zgraggen geworden ist.

Ein herziges Kind mit grossen Augen, das mit Nachbarskindern spielt und Geburtstagskuchen isst, das sich über Schneeflocken freut und im Sommer im nahen See schwimmt. So, wie das alle Kinder in Luzern machen und wie sich das die Zgraggens vorgestellt und gewünscht haben. «Unsere Tochter ist glücklich und interessiert sich für alles, was rundum passiert», schreiben sie in einem der regelmässigen Briefe, die sie in den ersten Jahren noch nach Mumbai zu den Schwestern schicken. Einzig die dunkle Hautfarbe passt nicht zum Bild des aufgeweckten Schweizer Mädchens. Doch dafür hat der Vater eine Antwort, wenn jemand fragt: Wir löschten beim Sex das Licht.

Am Stubentisch in Luzern, Sommer 2018

In Luzern nimmt Peter Zgraggen einen Schluck Kaffee und zieht die Brauen über den blauen Augen zusammen. «Wir hatten nie den Eindruck, dass Livia ein Problem mit ihrer Hautfarbe hat», sagt er. Natürlich habe sie gefragt, warum sie anders aussehe als die anderen Kinder hier. «Dann haben wir gesagt, dass sie aus einem anderen Land kommt, aus Indien eben. Und dass dort alle Menschen dunkler sind. Das hat sie so angenommen und akzeptiert. Oder?», fragt er mit Blick zu seiner Frau Lotti und sie nickt.

«Wir haben kein Kind adoptiert, um ein gutes Werk zu tun.»

Peter Zgraggen

Ansonsten war dieses fremde und exotische Land kein Thema in der Familie. «Wozu auch?», fragt der Vater rhetorisch. «Wir haben kein Kind adoptiert, um ein ‹gutes Werk› zu tun – sondern weil wir eine Tochter wollten. Und die gehörte vom Moment ihrer Ankunft an zu uns in die Schweiz. Das Herkunftsland spielte darum für uns keine Rolle mehr. Ausserdem hat sie ja auch gar nie danach gefragt!», sagt er ein bisschen trotzig.

Lotti Zgraggen seufzt. Sie ist rückblickend nicht so felsenfest überzeugt wie ihr Mann, dass sie sich für das richtige Konzept entschieden und keine Brücke gebaut haben. Andere Leute, die sie kennt, schickten ihre Adoptivkinder zum indischen Tanzen, schauten mit ihnen Bücher an und brachten ihnen Kultur und Tradition aus dem Herkunftsland näher. «Ob das besser gewesen wäre? Ich weiss es nicht», sagt die Mutter. Längst ist Livia erwachsen und hat selber eine Tochter, die Zgraggens sind seit 14 Jahren Grosseltern. Die Beziehung zur Tochter empfinden sie heute zwar als ambivalent und fragil, aber grundsätzlich als gut – das war nicht immer so.

Die Adoptiveltern Lotti und Peter Zgraggen im Wohnzimmer in Luzern. (Bild: chw)

«Livia sagt schon lange nicht mehr ‹Mami› zu mir: Seit der Pubertät spricht sie mich nur noch mit Vornamen an: Lotti», sagt die Mutter. Das sei bezeichnend für ihre Beziehung, die ab dem Teenageralter so richtig schwierig geworden sei. Insbesondere mit ihr, der Mutter, habe es viel Streit und Auseinandersetzungen gegeben. «Sie hat sich gegen mich aufgelehnt und in jeder Hinsicht rebelliert», sagt Lotti Zgraggen, der Vater nickt und sagt: «Sie hat Vollgas gegeben! Zum Glück konnte ich bei meiner Arbeit Kraft tanken – sonst hätte ich das kaum ertragen.»

Und die Mutter? Sie zuckt mit den Schultern. Livia, ein anstrengender Teenager, wie das bei vielen Kids der Fall und irgendwie normal ist? Oder war die Pubertät für das Mädchen aus Mumbai mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut noch schwieriger als für ein Girl aus der Schweiz, das zumindest weiss, dass es mit seinen leiblichen Eltern streitet? Nein – die Zgraggens glauben nicht, dass die Adoption etwas damit zu tun hatte. «Livia war und ist unglaublich impulsiv. Ein solches Temperament ist nun mal für alle Eltern schwierig, egal ob leiblich oder nicht», sagt der Vater, hält kurz inne und meint dann: Vermutlich hätte eine andere Tochter ein anderes Temperament gehabt, ziemlich sicher ein phlegmatischeres und möglicherweise wäre das auf eine andere Art auch mühsam gewesen. Wer weiss das schon? Eben!

Hinweis: Morgen folgt der dritte Teil «Herkunft und Familie: Unbekannt». Nach ihrem ersten und eher enttäuschenden Besuch des Waisenheims (zentralplus berichtete) lässt Lalita nicht locker und bekommt beim nächsten Anlauf von den Schwestern im St. Catherine’s Home immerhin eine Antwort auf ihre vielen Fragen. Und versöhnt sich mit dem Unwissen über ihre Herkunft.

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