«Gedächtnispalast» feierte in Emmenbrücke Premiere

Fulminantes Theatererlebnis in der alten Viscosi-Spinnerei

Im April feierte «Gedächtnispalast» in Emmenbrücke Premiere.

(Bild: zvg/Beat Allgaier Anderhub)

Die ehemalige Spinnerei der Viscosi ist zurzeit Schauplatz von zwei grossangelegten Familiengeschichten. Der Anstoss für den «Gedächtnispalast» gab ein wunderlicher Nachlass von drei Geschwistern aus Küssnacht. Um Glück und Erinnerung geht es in den 60, von über 40 Bühnenkünstlern gespielten, Szenen. Gezeigt wird aber auch, dass Geschichte immer konstruiert ist und von Weglassungen lebt.

Geschichten erzählen ist etwas Urmenschliches; überall und unablässig wird erzählt, verworfen, umgeschrieben, neu gesponnen. Auch in den 2012 stillgelegten Produktionshallen der Viscosi in Emmenbrücke, wo mit der Premiere am Freitag der «Gedächtnispalast» angelaufen ist.

Denn wo einst bis zu 3’000 Arbeiter tonnenweise Polyestergranulat zu Nylonfaden versponnen haben, erzählen jetzt über 40 Schauspieler zwei Familiengeschichten. Auf 5’000 Quadratmetern Fläche, welche sich über fünf Stockwerke erstreckt, spielen sie 60 Szenen in verschiedenen Rollen. Hannes, der Sohn aus besten Verhältnissen, und Marga, die Künstlerin und Tochter aus einer einfachen Familie, spielen dabei die Hauptrolle.

Ehemalige Fabrik wird zu riesiger Wunderkammer

Wo anfangen bei einem solchen Grossprojekt? Am besten beim Eingang, denn dort werden die Besucher von einem Conférencier empfangen und nach einer kurzen Einführung in die Weiten der Fabrikhallen entlassen. Und das ist ein Erlebnis von ganz besonderer Art: Die Wege führen durch die riesige Produktionsanlage, an verschlungenen Rohren, Garnträgern und grossen Metalltrommeln vorbei, durch die ehemalige Kommandozentrale im Untergeschoss und durch die vielen, mit tausenderlei Gegenständen gefüllten Wunderkammern. Gerade hier ist zum Beispiel der weihnachtlich geschmückte Raum, es ist die Stube der gut situierten Familie Fist.

Zufälligerweise ist man genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen, denn die drei Parzen, die Hüterinnen der Geschichte aus der griechischen Mythologie, steigen zeitgleich aus dem Lift und erzählen vom Leben des Hannes: ein im materiellen Überfluss herangewachsenes Kind, nun ein junger Mann, auf der beruflichen Karriereleiter bereits weit oben. Ob in diesem Raum das Glück zu finden ist? Zweifel drängen sich auf.

Doch weiter geht es in die Wohnung der Familie Brand, wo die Besucherin auf einen Behördenbesuch trifft: Einfaches Glück wird mit bürokratischen Floskeln torpediert. Ein nächster Schauplatz macht möglicherweise nicht ganz schlau, aber vielleicht wird sich diese Lücke später bei einer anderen Szene schliessen. Oder auch nicht. Denn genau so funktioniert dieser Theaterabend: Wann der Theaterbesucher auf welche Szene trifft, bestimmt der Zufall. Nur eines ist sicher: Alle Szenen wird an diesem Abend niemand zu sehen bekommen.

Eine Zumutung: einen Text für einen solchen Ort!

Martina Clavadetscher, die junge Erfolgsautorin aus dem Kanton Schwyz, schreibt im Begleittext über die Herausforderung, für diese Räume ein Theaterstück zu schreiben: «Es gleicht einer Zumutung, fünf Stockwerke einer Fabrikhalle mit Text schmücken zu wollen.»

Die Räume seien es schliesslich gewesen, die eine fragmentierte Erzählweise verlangt hätten. Haben Geschichten einen Anfang und ein Ende, wie wir es etwa vom tragischen Tod im Drama oder Happy-End im Märchen kennen, oder sind solche Geschichten nicht vielmehr ein Konstrukt unseres Gehirns, unserer Sehnsüchte?

Drei Tipps für einen gelungenen Theaterabend

1. Laufen Sie alleine durch die Hallen und tauschen Sie sich nachher mit ihrer Begleitung oder anderen Besuchern aus! Neue Bruchstücke werden sich mit bereits Vorhandenem vereinen und einen neuen Blick auf das Gesehene ergeben.

2. Greifen Sie zu einem Kopfhörer bei den Monitoren und Hörstationen. Dort werden Ihnen die Protagonisten Hannes und Marga vorgestellt bzw. wichtige Begriffe nähergebracht.

3. Ziehen Sie sich warm an. In den ungeheizten Fabrikhallen kann es mitunter kühl werden.

Mit solchen Fragen und vielem mehr befasst sich die Narratologie, die wissenschaftliche Beschäftigung des Erzählens. Erinnerung, aber auch Verdrängung spielen eine ganz zentrale Rolle, wie wir Erlebtes verarbeiten und speichern. Auch Clavadetscher beschäftigte sich intensiv damit, nachdem sie sich entschieden hatte, diese Herausforderung anzunehmen und damit dem Publikum eine unvollständige Geschichte zuzumuten.

Vom Glück des Zufalls geleitet

Aber nicht nur mit Text bedurften die grossen Hallen gefüllt zu werden. Ein wunderlicher Nachlass gab der Regisseurin Annette Windlin den Anstoss für den «Gedächtnispalast»: Das Glück des Zufalls sei es gewesen, welches sie damals, zusammen mit Ruth und Valentina Maria Mächler, in das Haus in Küssnacht geführt habe, meint sie.

Denn in diesem Haus, welches dreissig Jahre von drei Geschwistern bewohnt wurde, offenbarte sich den Frauen ein ganz und gar ungewöhnlicher Schatz: Vollgestopft war dieses Haus von unten bis oben mit Gerümpel, nein, tausend skurille Gegenstände waren es, gesammelt, gebastelt, arrangiert von einem der drei Geschwister. Ein Gesamtkunstwerk einer nie an die Öffentlichkeit getretenen Künstlerseele.

«Ein Sammelsurium von Gegenständen, Zeitdokumenten und Tagebüchern, die zwar eher von einem einfachen und ärmlichen Leben einer Familie erzählen», so Annette Windlin, «aber  auch von Glück.» Dieser Nachlass wurde in unzähligen Stunden unter der Anleitung von Ruth Mächler geortet, verpackt und nach Emmenbrücke transportiert und bietet jetzt zusammen mit den Fabrikhallen die Kulisse für den «Gedächtnispalast».

«Gedächtnispalast» macht Konstrukt von Geschichten erlebbar

Im «Gedächtnispalast» wird der Besucher nicht die ganze Geschichte von Hannes und Marga erfahren. Zugegeben, es kann zuweilen frustrieren, wenn man feststellt, die aufschlussreiche Szene, wo die Familien Fist und Brand gemeinsam Weihnachten feiern, verpasst zu haben.  Doch genau diese Lücken machen eines erlebbar: Geschichten sind immer Fragment, individuell gefärbt und letztlich ein Konstrukt.

Je nach dem kommen sie mehr oder weniger in die Nähe, was mit Wirklichkeit oder Wahrheit gemeint ist. Vorausgesetzt, dass es allgemeingültige Wahrheiten gibt, soll noch eine festgehalten werden: Der «Gedächtnispalast» ist ein fulminantes, ungewöhnliches und packendes Theaterereignis!

Bis 29. Juni, Viscosistadt Emmenbrücke

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