Leierer und «Gisi» vor dem Blue-Balls-Start

«Für Wurst und Bier wird bezahlt – aber für die Musik?»

Urs Leierer (links) und Thomas Gisler: Sie sind die beiden Köpfe hinter dem Blue Balls.

(Bild: zvg)

Neun Tage Blue Balls stehen vor der Tür, über 120 Events rund um das Luzerner Seebecken. Erstmals hat der neue Booker Thomas Gisler das Programm an der Seite von Festivaldirektor Urs Leierer mitgeprägt. Warum sie am umstrittenen Pin festhalten und was das mit dem Wertezerfall in der Gesellschaft zu tun hat.

Die Luzerner Seebucht in Stereobeschallung, neun Tage rappelvoll mit Konzerten, Fingerfood im Menschengedränge und holländischem Bier. Man erlebt Gänsehautmomente im weissen KKL-Saal, nervt sich vor dem Pavillon über Plappertanten und bleibt viel zu lange im Schweizerhof hängen. Der Sommer lässt sich in Luzern mit dem Blue Balls prima aushalten. Am Freitag geht’s wieder los.

Seit einem Jahr ist Thomas «Gisi» Gisler der Programmverantwortliche beim Blue Balls. Das anstehende Festival ist das erste, das seine Handschrift trägt. Eisgekühlte Heineken-Biere stehen auf dem Tisch, als wir ihn und Urs Leierer am frühen Abend im Blue-Balls-Büro in Zürich treffen. Ein Gespräch über «coole Dudes», erträgliche Preise und Frauenquoten.

zentralplus: Thomas Gisler und Urs Leierer, Sie arbeiten seit gut einem Jahr zusammen. Wie läuft’s?

Thomas Gisler: Ich habe mich super eingelebt. Und wo gearbeitet wird, fliegen manchmal auch die Fetzen. Das ist völlig normal, das war bis jetzt bei jeder Arbeitsstelle so (lacht) …

Urs Leierer: Ja, schliesslich gibt er ja unser Geld aus (lacht). Logisch, wir diskutieren hart in der Sache – wer das nicht erträgt, ist sicher am falschen Ort. Aber wir haben ein gutes Verhältnis.

zentralplus: Wie muss man sich Ihre Zusammenarbeit vorstellen: Thomas Gisler macht Vorschläge, Urs Leierer hält den Daumen hoch oder runter?

Gisler: Ich mache Vorschläge und wir besprechen sie zusammen. Im Gespräch merken wir dann, ob etwas passt oder nicht.

Leierer: Das betrifft das Hauptprogramm im KKL. Ansonsten ist er mehr oder weniger frei. Ausser ich komme und sage: Das ist ein geiler Act, den will ich! Das gibt’s auch.

zentralplus: Welchen wollten Sie dieses Jahr unbedingt?

Leierer: Zum Beispiel Tash Sultana aus Melbourne (28.7. im Pavillon am Quai, Anm. d. Red.).

Tash Sultana mit «Jungle»:

 

Gisler: Ja, und Catfish hast du mir auch weitergeleitet (21.7. im Pavillon). Oder L.A. Salami (am 23.7. im KKL) …

Leierer: Ja, das ist einfach ein cooler Dude, der jetzt richtig abgeht in London.

L.A. Salami mit «The City Nowadays»:

 

zentralplus: Ist Urs Leierer so fordernd und perfektionistisch, wie er beschrieben wird?

Gisler: Ja, aber das ist gut so. Nach 14 Jahren in der Schüür als Programmleiter und dann Geschäftsleiter denkt man, dass man gut aufgestellt ist. Aber es ist erstaunlich, was man in einem Jahr noch alles dazulernen kann.

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Das Blue Balls findet zwischen dem 21. und 29. Juli in Luzern statt – Konzerte sind im und ums KKL, im Pavillon am Quai und Schweizerhof. Das diesjährige Festival-Face heisst Samm Henshaw (zentralplus berichtete). Weitere Highlights: Benjamin Clementine, Morcheeba, Taj Mahal & Keb’ Mo’, Peter Doherty, Patti Smith oder Cody Chesnutt. Zudem gibt’s Street Art und eine Fotoausstellung von Laetitia Negre.

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zentralplus: Weil das Blue Balls eine Nummer grösser ist?

Gisler: Definitiv. Wir haben in neun Tagen gleich viele Acts wie in der Schüür in einem halben Jahr. Das ist schon ein ganz anderes Schaffen.

Leierer: Das ist ein unheimlicher Druck, das kann man sich nicht vorstellen. Wir haben eine Deadline, am 31. März muss das Programm stehen. Und die anderen schlafen auch nicht, die Konkurrenz ist riesig.

zentralplus: Und was machen Sie, wenn das Festival beginnt, Thomas Gisler?

Gisler: Ich bin für die Betreuung der Bands zuständig. Ich schaue, dass alles gut kommt auf den Bühnen. Ein Team von fünf ehrenamtlichen Leuten unterstützt mich, das ist der Hammer. Gewisse Leute sind schon seit Jahren dabei, da weiss man, dass es klappt.

Leierer: Wir müssen top organisiert sein, damit kein Chaos entsteht. Die Service-Abteilungen müssen funktionieren, das Catering etwa. Es gibt ein 120-seitiges Booklet, wo nur drin steht, wer was wann und wo zu essen bekommt. Oder die Transporte der Künstler, alleine dafür gibt’s ein Team von 17 Leuten mit sieben Bussen und zwei Limousinen.

Zum Team gehören auch Pinverkäufer:

 

zentralplus: Urs Leierer, Sie sind 25 Jahre dabei. Kann man – oder will man – nach so langer Zeit überhaupt noch etwas lernen?

Leierer: Ich organisierte 1992 meinen ersten Event. Und ich lerne jeden Tag wieder aufs Neue.

zentralplus: Wo hat Ihnen Thomas Gisler die Augen geöffnet?

Leierer: Ich finde seine ruhige Art gut. Dort könnte ich vielleicht lernen (lacht).

«Ich bin auf der Suche nach Perlen und Newcomern.»

Thomas Gisler

zentralplus: Zum Programm: Grosse Open Airs mögen finanziell mehr Möglichkeiten haben. Aber das Blue Balls hat trotzdem ein genauso attraktives Programm.

Gisler: Danke. Künstlerisch merkt man es vielleicht nicht …

Leierer: … aber wir merken es an den Verkäufen. Angesagte Acts kosten schnell so viel Geld, dass wir sie nicht mehr finanzieren können oder wollen. Wir versuchen erträgliche Preise zu machen, damit wir nicht als Festival für die Reichen angeschaut werden. Für Xavier Naidoo kosteten die teuersten Tickets 175 Franken. Das ist für einen Act, der das Hallenstadion füllt, ein guter Preis. Aber er kommt nur, weil wir eine Beziehung aufgebaut haben. Andere bezahlen das Dreifache und mehr.

zentralplus: Wie lange kann das Blue Balls da noch mithalten?

Leierer: Der Markt ist eigentlich total übersättigt, es ist eine Katastrophe. Wir haben am Blue Balls Einzelshows mit einer beschränkten Kapazität. Ich sage immer: Wir sind der «Comestible», die anderen sind die Grossisten. Die können ganz anders rechnen als wir. Der Marktwert für Künstler im Sommer wird generiert durch die Gagen, die von den Festivals geboten werden. Und nicht von der Anzahl Tickets, die dieser an einer Einzelshow verkauft.

zentralplus: Das Blue Balls muss also mit anderen Vorzügen punkten?

Leierer: Wir müssen für das Programm mehr kuratieren, suchen und dranbleiben. Wir hatten Acts für 10’000 Franken, im Jahr darauf wurden sie im sechsstelligen Bereich gehandelt. So geht das, das ist ein Wahnsinn.

zentralplus: Das Kuratieren und Suchen ist dann die Aufgabe von Ihnen, Thomas Gisler?

Gisler: Ja, ich bin auf der Suche nach Perlen und Newcomern. Ich höre viel Musik, lese Magazine, gehe an Konzerte und tausche mich mit anderen aus. Das ist immer ein Risiko, solche Acts können auch schiefgehen.

zentralplus: Auf welchen Act sind Sie stolz dieses Jahr?

Gisler: Persönlich auf die Newcomer, auch wenn diese noch weniger Tickets verkaufen. Etwa das Blue-Balls-Face Samm Henshaw. Wir präsentieren ihn als Erste in der Schweiz und sind überzeugt, dass er noch grösser wird. Auch Laurel, die vor Boy spielt (29.7., KKL), hat eine grosse Zukunft. Und logisch ist es cool, wenn du eine Patti Smith veranstalten kannst, das ist eine Grande Dame.

Samm Henshaw mit «Our Love»:

 

Leierer: Einen Act, den ich unbedingt wollte, war The Taj Mahal & Keb’ Mo’ Band (23.7., KKL). Da gehen wir Back to the Roots: 1998 im Hotel Union hatten wir Keb’ Mo’ an einem Tag und zum Abschluss Taj Mahal. Dass die beiden jetzt gemeinsam ein Album gemacht haben und zurückkehren, ist eine einmalige Sache. Die Show ist bereits ausverkauft.

zentralplus: Auch Peter Doherty kommt wieder, er ist immer für Überraschungen gut. So hat er kurzfristig angekündigt, dass er mit Band kommt statt alleine. Ist man da nervös?

Leierer: Überhaupt nicht, ich gehe einfach vom Worst Case aus, dann ist das kein Problem (lacht laut).

Gisler: Überraschungen gibt es immer, wir arbeiten mit Menschen. Letztes Jahr etwa mussten zwei zum Zahnarzt …

Leierer: Und wir hatten schon Absagen am Showtag, weil ein Act in der Baselstrasse etwas Schlechtes gegessen hat. Was willst du machen, als Veranstalter trägst du immer das Risiko.

«Wenn Frauen gut sind, können sie 75 Prozent ausfüllen, das ist mir egal.»

Urs Leierer

zentralplus: Es gibt ja Geschichten über schräge Wünsche von Künstlern. Auch beim Blue Balls?

Gisler: Die Bands sind auf Tour und du probierst ihnen das Leben möglichst angenehm zu machen. Aber Sonderwünsche, sorry, das haben wir nicht zu bieten. Also keine M&Ms nach Farbe geordnet oder solche Spässe.

Leierer: Wir haben generell ein gutes Hospitality, wir sind gut organisiert und haben das beste Equipment am Start. Aber wenn wir finden, dass etwas zu viel ist, dann kann ich schon hinstehen und Nein sagen.

zentralplus: Die Frauenquote wird immer mehr zum Thema bei Festivals …

Leierer: Da sind wir gut … ich hab gern Frauen.

zentralplus: Ja, laut Medien (SRF Virus und «Tages-Anzeiger») stehen am Blue Balls bei 40 Prozent aller Acts Frauen auf der Bühne. Der grösste Anteil von den grossen Festivals.

Gisler: Ich habe kürzlich mit meinem Vorgänger auf Facebook darüber diskutiert. Er findet, die grossen Festivals würden zu wenig machen in dieser Beziehung. Das Blue Balls ist da zwar ganz weit vorne, aber ich habe nicht speziell darauf geachtet, möglichst viele Frauen zu buchen. Ich will einfach gute Acts, die zum Festival passen. Ich find’s ein müssiges Thema.

«Wir haben von den grossen Festivals wohl am wenigsten Schweizer im Programm.»

Thomas Gisler

zentralplus: Aber das Musikbusiness ist immer noch von Männern dominiert. Was muss passieren? Braucht’s eine Frauenquote?

Leierer: (seufzt) Ich finde Frauenquoten mühsam, sorry … wenn Frauen gut sind, können sie 75 Prozent des Programms ausfüllen, das ist mir egal.

Gisler: Regulieren ist immer schlecht. Ein Frauenact muss gut sein, genauso wie ein Männeract oder ein gemischter.

zentralplus: Also ist es Zufall, dass das Blue Balls am meisten Frauen hat?

Leierer: Ja, das ist Zufall.

Gisler: Dafür sind wir unter den grossen Festivals wohl jenes, das am wenigsten Schweizer im Programm hat. Da könnte man auch fragen: Muss man die Schweizer Musikszene fördern? Irgendeiner findet dann, man müsse die Vegetarier fördern.

Viele Frauen auf der Bühne am Blue Balls: Katie Melua am 2016 im KKL.

Viele Frauen auf der Bühne am Blue Balls: Katie Melua am 2016 im KKL.

(Bild: zvg)

zentralplus: Auswärtige, die während des Blue Balls nach Luzern kommen, sind meist beeindruckt. Einheimische meckern jedoch gern. Sind Luzerner undankbar?

Leierer: Viele sehen nicht, was wir hier leisten. Sie können es nicht sehen, weil sie nicht dahinter sehen.

zentralplus: Aber man muss es ja auch nicht sehen.

Leierer: Aber man muss es wertschätzen. Ein Luzerner, der ums Seebecken läuft und keinen Pin hat, ist für mich kein Luzerner. Für die Wurst wird bezahlt, für das Bier auch, aber für die Musik? Im Journalismus ist es ja dasselbe, seit der Mensch sich im Internet bewegt. Dieser Wertezerfall wird uns noch ganz andere Probleme bescheren.

zentralplus: Man meckert über das Blue Balls, aber geht trotzdem hin …

Leierer: … und viele wissen nicht, dass ein ehrenamtlicher Verein der Veranstalter ist. Dieser Verein generiert 400 ehrenamtliche Helfer, die 15’000 Stunden leisten. Das wird als selbstverständlich angeschaut. Wir sind von Grund auf defizitär, wir sind ein Kulturbetrieb. Das ist eine gute Headline (lacht).

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