Corona-Gefährdete dürfen ihre Zelle kaum verlassen

Für einige Gefangene ist die Pandemie besonders hart

Wer besonders gefährdet ist, darf im Bostadel aktuell nicht arbeiten. (Bild: wia)

Die Pandemie hat nicht nur in der Freiheit, sondern auch hinter Gefängnismauern einen grossen Einfluss. Wer zur Risikogruppe gehört, hat Pech, denn arbeiten ist somit nicht mehr erlaubt.

Die Pandemie ist ein Fluch. Sie verbreitet Verunsicherung, setzt die Wirtschaft mächtig unter Druck, nimmt uns Freiheiten. Interessant: Nicht nur in der breiten Gesellschaft, sondern auch im Gefängnis, also da, wo die Freiheit sowieso schon minimiert wurde, macht die Pandemie den Menschen zu schaffen.

«Das Eingeschlossensein ist ein Faktor, der die Einsamkeit steigert. Durch Corona hat sich diese Tendenz noch zusätzlich verstärkt», sagt Meinrad Rutschmann, der stellvertretende Geschäftsführer des Forensischen Instituts Ostschweiz (Forio). Er ist unter anderem in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bostadel für die Therapie von Straftätern zuständig.

«Das ist insofern problematisch, als Struktur und Rhythmus Überlebensnotwendigkeiten sind.»

Meinrad Rutschmann, stv. Direktor Forio

Rutschmann erklärt: «Gefangene, die zur Risikogruppe gehören, dürfen wegen der aktuellen Lage nun nicht mehr arbeiten, sondern müssen auf ihrer Zelle bleiben.» Eine prophylaktische Massnahme. «Das ist insofern problematisch, als Struktur und Rhythmus Überlebensnotwendigkeiten sind. Hat man externe Strukturen wie die Arbeit, ist der Alltag leichter zu bewältigen.»

Der Therapeut weiter: «Viele Gefangene spüren die Einsamkeit darum im Moment verstärkt. Letztendlich verhält es sich innerhalb der Gefängnismauern ähnlich wie in der Freiheit: Es gibt gesellige Menschen, die den sozialen Kontakt sehr stark vermissen, andere haben lieber ihre Ruhe und leiden überhaupt nicht oder deutlich weniger unter der Situation.»

Hoffnung erhalten trotz Verwahrung: eine Herausforderung

Von den circa 110 Inhaftierten gibt es in der JVA Bostadel etwa ein Dutzend Verwahrte. Gerade für Letztere sei die Situation eine besondere. «Es gibt Verwahrte, die sind bereits relativ alt, haben nicht sehr viele Sozialkontakte und ziehen sich zurück. Durch Corona wird diese Tendenz noch verstärkt.»

«Viele Gefangene beginnen sich mit Büchern zu beschäftigen.»

Meinrad Rutschmann

Weil sich Verwahrte nicht an der Hoffnung festhalten können, je in die Freiheit entlassen zu werden, müssen sie besondere Strategien aufbringen, um den Lebenswillen zu behalten. «Jeder muss es für sich selber schaffen, sein Leben als lebenswert zu definieren», sagt Rutschmann. «Viele etwa beginnen sich mit Büchern zu beschäftigen. Was weiter wichtig ist, ist eine gewisse Routine, körperliche Auslastung sowie gesunde Ernährung.» Viele Verwahrte würden überdies die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie trotz allem irgendwann Anspruch auf begleitete Ausgänge oder gar eine bedingte Entlassung erhalten respektive dass es eine Wendung in der Haftstruktur geben werde.

Neben täglichen Telefonaten sind im Gefägnis trotz der Pandemie auch Besuche erlaubt. «Jedoch nur mit Trennscheibe und in einem grossen Raum. Weil die Abstände eingehalten werden müssen, haben lange nicht so viele Tische Platz wie vorher», so Rutschmann. Darum seien aus einem Besuchstag deren zwei geworden.

Das Beziehungszimmer ist vorläufig geschlossen

«Besucher und Gefangene dürfen sich im Moment nicht umarmen und keinen Körperkontakt haben. Gerade für Menschen mit Familie macht das die Lage sehr schwer», ergänzt Rutschmann. «Auch das Beziehungszimmer steht nicht zur Verfügung.» In diesem dürften Paare – unter normalen Umständen – eine Stunde für sich allein verbringen. «Für Einige ist das sehr einschneidend.»

Seit acht Jahren arbeitet Rutschmann zweimal wöchentlich als Therapeut in der JVA Bostadel. «Es ist nicht so, dass Gefangene zwingend eine Therapie machen müssen. Es gibt zwar verordnete Therapien, etwa im Rahmen einer Massnahme; viele Gefangene jedoch beantragen von sich aus eine freiwillige deliktorientierte und stützende Therapie.»

Rutschmann weiter: «Zum einen, weil sie tatsächlich einen persönlichen Fortschritt anstreben, zum anderen, weil sie sich eine Vollzugsprogression daraus versprechen.» Ein Antrag auf eine therapeutische Behandlung müsse jeweils von der zuständigen Vollzugsbehörde gutgeheissen werden. Er hält fest: «Man muss den Behörden zugutehalten, dass sie diese Anträge in der Regel grosszügig genehmigen.» Neben den Therapien stehen für die Gefangenen Besuchsdienste und Seelsorger zur Verfügung.

Das Personal braucht jetzt besonderes Gespür

Im Moment brauche es im Umgang mit den Gefangenen besonderes Feingespür. «Beim Aufsichtspersonal macht sich insbesondere in der jetzigen Zeit eine gewisse Sensibilität bemerkbar.» Weil einige Gefangene zum Essen oder Arbeiten nicht aus ihrer Zelle dürfen, gelte es, genauer anzuschauen, wie es diesen gehe. «Vor Covid appellierte man bezüglich des eigenen Wohlbefindens und der sozialen Teilhabe an die Eigenverantwortung der Inhaftierten. Nun jedoch ist es sinnvoll, die Gefangenen je nachdem proaktiv anzusprechen. Auch versucht das Aufsichtspersonal eher, Möglichkeiten zu schaffen, die vorher vielleicht nicht da waren.»

«Im Moment kommt es häufiger vor, dass Gefangene bei anderen an die Zelle klopfen und nachfragen, wie es ihnen geht.»

Meinrad Rutschmann

Er konkretisiert anhand eines Beispiels: «Einer der Gefangenen hat ein grosses Interesse an Briefmarken. Nun, da er nicht mehr arbeiten darf, hat er sehr viel Zeit. Durch den Goodwill der Justizvollzugsanstalt konnte ein Weg gefunden werden, damit der Gefangene dieses neue Hobby ausüben kann. Das tut er mit viel Begeisterung.»

Rutschmann gibt zu bedenken: «Ist man im geschlossenen Vollzug, befindet man sich oft sehr lange Zeit in einer Schicksalsgemeinschaft. Daraus entwickeln sich durchaus auch soziale Beziehungen. Im Moment kommt es häufiger vor, dass Gefangene bei anderen an die Zelle klopfen und nachfragen, wie es ihnen geht. Somit hat nicht nur die Einsamkeit, sondern auch die Solidarität ausserhalb wie innerhalb der Gefängnismauern zugenommen seit Corona.»

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