Das Privatarchiv des umstrittenen Zuger Bundesrats

Fünfzehn Jahre unter Verschluss: Das steckt nun drin im Etter-Nachlass

Philipp Etter (Mitte) als Bundespräsident bei der Eröffnung der Schweizerischen Landesausstellung 1939 in Zürich. Links Bundesrat Marcel Pilet-Golaz, rechts Bundesrat Giuseppe Motta.

Lange Jahre war der Nachlass des umstrittenen Zuger Bundesrats gesperrt. Kein Wunder, wuchsen bald wilde Theorien darüber, was alles drinstecken könnte. Ein Beweis für den vermuteten Antisemitismus Philipp Etters, hofften die einen. Einen Hinweis auf unheilige Allianzen, andere. Historiker Thomas Zaugg hat den Nachlass durchforstet.

Thomas Zaugg sitzt unter Bergen. Zwölf Laufmeter Akten. Noch ein Jahr Zeit. Und irgendwo dazwischen steckt vielleicht ein Hinweis, Neuigkeiten über die Schweizer Vergangenheit aus der Zeit zweier Weltkriege. Der Historiker sitzt im Staatsarchiv Zug, draussen vor dem Fenster das Kantonsgericht, ein Pharma-Riese, das Gefängnis. Im Blick: Papierschnipsel, Notizen, Büchlein und Briefe, alles gefüllt mit der Schrift eines Jahrhundertmenschen. Zaugg forscht hier seit zwei Jahren im Privatnachlass von Philipp Etter (1891–1977).

Ein Nachlass, der für manche Spekulation sorgte. Der erste Zuger Bundesrat hatte verschiedene Rollen: War geistiger Landesverteidiger, sprachmächtiger Redner an der «Landi» 1939, katholisch-konservative Identifikationsfigur, «knorrig wie eine sturmerprobte alte Eiche» schreibt 2013 der «Bund». Heute ist der Mann umstritten: Im Aufarbeitungsgeist der 90er gewann eine junge Historikergeneration mit ihrer dringend nötigen Aufräumarbeit an Definitionsmacht. Sie beurteilte auch den Zuger Bundesrat zunehmend kritisch.

Mehr und mehr galt Etter als Liebäugler mit autoritären Lösungen. Für linke Historiker wurde Etter zum roten Tuch: Er und andere Mitglieder des Komitees des Roten Kreuzes 1942 hatten einen Appell an die Kriegsparteien verhindert – um nicht zu provozieren, so die Einschätzung der Forschung. Der Appell hätte das Schicksal der Juden in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten anprangern sollen. Der Zuger Historiker Jo Lang vermutete hinter diesem Entscheid einen unausgesprochenen Antisemitismus Etters.

Lange blieben die privaten Dokumente Etters der Öffentlichkeit vorenthalten. Dass man im Etter-Nachlass Hinweise auf unheilige Allianzen finden könnte, hoffte wohl auch der Historiker Georg Kreis, nachdem der Bestand 2014 geöffnet wurde: «Spannend ist schon die Frage, mit wem Etter in den Jahren um 1940 in brieflichem Kontakt stand», sagte Kreis. «Das könnte zeigen, wer in ihm einen Hoffnungsträger sah – und weshalb.»

Und jetzt sitzt Zaugg da und ordnet eben diese Briefe und sieht nicht so aus, als sässe er auf einer Bombe von Skandal. Im Gegenteil.

zentralplus: Was steckt denn jetzt tatsächlich in diesem Nachlass?

Thomas Zaugg: Es handelt sich um einen sehr vielfältigen, um einen ungewöhnlich breiten Bestand: fast ein ganzes Leben in zwölf Laufmetern. Etter arbeitete lange Zeit als Journalist und war innerlich ein Schriftsteller, er schrieb Briefe während Bundesratssitzungen, musste seine Überlegungen dauernd zu Papier bringen und bewahrte vieles auf. Briefkuverts dienten ihm zur raschen Niederschrift seiner Gedanken, auch sie findet man im Archiv. Und immer wieder erklärt Etter sein Handeln, blickt zurück. Auf ein Kuvert, das an die Kinder gerichtete Erinnerungsschriften enthält, schreibt er «Nicht zu publizieren!» und «Konfidentiell!». Es zeugt von einiger Offenheit, dass solches Material nun in einem für alle Interessierten zugänglichen Archiv liegt. Selbst Zeitungen, die er las, oder Artikel, die er annotierte, behielt Etter. Die Briefe an seine Frau Marie Etter-Hegglin umfassen ein halbes Jahrhundert. Darunter finden Sie Liebesbriefe mit getrockneten und gepressten Blumen aus der Grenzbesetzungszeit im Ersten Weltkrieg. Und dann die bundesrätlichen Agenden aus den Schicksalsjahren: 1939 und 1940. Oder freche Zusendungen: Auf das Titelbild einer alten «Schweizer Illustrierten» zeichnete eine Zusenderin auf Etters berühmte Glatze Haare. Das sähe doch so besser aus, meinte die Dame in ihrem Begleitschreiben. Etter hat es aufbewahrt – wie er überhaupt vieles behielt. Eigentlich betrieb er ein autobiografisches Sammeln.

zentralplus: Warum wurde der Etter-Nachlass so lange unter Verschluss gehalten? Weshalb diese grosse Vorsicht?

Zaugg: Es ist ratsam, Nachlässe – gerade die umstrittenen – möglichst schnell zu öffnen. Ansonsten entstehen Verschwörungstheorien. Die Familie Etter hat den Bestand 1999 dem Staatsarchiv Zug als Depot übergeben. Es war ein Zeichen des Vertrauens in das Staatsarchiv. Viele Nachlässe sind noch unter Verschluss, und längst nicht alle Nachfahren bekannter Persönlichkeiten sind den Weg der Familie Etter gegangen. Im Vertrag von 1999 heisst es: «Während 15 Jahren, das heisst bis Ende 2013, ist der Zugriff und jede Einsichtnahme durch Drittpersonen in das deponierte Archivgut ausgeschlossen.» Aber auch: «Ausnahmen von der Archivsperre können in Einzelfällen durch die Delegierten der Deponenten gewährt werden.» Schliesslich ging der Bestand als Schenkung an das Staatsarchiv über. Seit 2014 ist er nun für alle zugänglich und wird erschlossen.

«Im Bestand liegt ein Brief eines mittlerweile verstorbenen Etter-Sohnes aus den Neunzigerjahren an seine Geschwister. Darin setzt er sich mit den antijüdischen Äusserungen seines Vaters auseinander.»

Thomas Zaugg, Historiker

zentralplus: Verschiedene Äusserungen Etters wurden stark kritisiert und brachten ihm den Vorwurf ein, Antisemit zu sein. Das Judentum habe «zu viele zersetzende Kräfte ins deutsche Volkstum hineingetragen», schrieb Etter 1933, das war im Jahr, bevor er Bundesrat wurde. In Deutschland ergriff Hitler die Macht. Gibt es im Privatnachlass neue Hinweise darauf, ob Etter tatsächlich Antisemit war?

Zaugg: Martin Pfister, der heutige Zuger Regierungsrat, hat diese Frage bereits in seiner Lizentiatsarbeit behandelt. Pfister erhielt seinerzeit Zugang zum Archiv, und seine sorgsame Arbeit liegt übrigens nun auch im Nachlass. Vielleicht aber kann ich Ihre Frage mit einem anderen Archivinhalt ansatzweise beantworten. Im Bestand liegt ein Brief eines mittlerweile verstorbenen Etter-Sohnes aus den Neunzigerjahren an seine Geschwister. Darin setzt er sich mit den antijüdischen Äusserungen seines Vaters auseinander. Als störend empfand die Familie vor allem, dass solche Zitate verkürzt wiedergegeben wurden. So umrahmte Etter die Aussage, die Sie gerade zitiert haben, mit zwei Sätzen, die oft ausgeklammert werden: «Wir lehnen jede Verfolgung Andersdenkender aus Gründen der Rasse oder des religiösen Bekenntnisses grundsätzlich ab, die Judenverfolgung so gut wie jede andere.» Und: «Aber alle diese Sünden jüdischer Einflüsse berechtigen nicht zu einer Verfolgung, unter der so und so viel Unschuldige mit den Schuldigen zu leiden haben. Die Verfolgung einer konfessionellen Minderheit hat immer etwas unsäglich Rohes, Unmenschliches an sich und kann von einem gesitteten Menschen nie gebilligt werden.» Der Etter-Sohn schreibt in seinem Brief, man wolle nun schweigen, bis die aufgeregten Neunzigerjahre vorbei seien. Die Furcht der Familie vor Missbrauch hat den Archivzugang für manche Historiker verunmöglicht. Das war die allgemeine Lage vor zwanzig Jahren.

«Hilfreich ist auch, dass Etter heute keine politische Identifikationsfigur mehr ist. Die meisten Parteien haben neue Vorbilder und neue Hassfiguren gefunden.»

zentralplus: Dass dieser Privatnachlass nun so lange verschlossen blieb, hat einige Hoffnungen geschürt. Wagenladungen von Staatsmaterialien steckten darin, vermutete der 1993 verstorbene linke Journalist Niklaus Meienberg, dem die Einsicht in den Bestand verwehrt wurde.

Zaugg: Ja, manche Historiker erhielten Zugang, andere nicht. Hier in Zug liegt hauptsächlich Etters Privatnachlass. Die staatlichen Akten sind bereits seit Jahren im Bundesarchiv in Bern untergebracht und zugänglich. Was Meienberg über Etter geschrieben hätte, sofern er Zugang zum

Die Aufarbeitung des Nachlasses

Thomas Zaugg (Jahrgang 1985) hat eine Doppelrolle, forscht gleichzeitig für seine Dissertation und bringt den Nachlass für das Staatsarchiv Zug in Form. Zu seinen Forschungsergebnissen will der Zürcher Historiker noch nichts sagen. Staatsarchivar Ignaz Civelli, der Zaugg mit der Sichtung des Nachlasses beauftragte, sagte 2013 in einem Interview, man suche für die Archivierung des Nachlasses jemanden, der unvoreingenommen an die Arbeit gehe. Und nicht nur auf der Suche nach Beweisen für ein Vorurteil sei.

Thomas Zaugg schreibt seine Dissertation über Etter und forscht im Privatnachlass im Staatsarchiv Zug.
Thomas Zaugg schreibt seine Dissertation über Etter und forscht im Privatnachlass im Staatsarchiv Zug. (Bild: zvg)

Privatarchiv bekommen hätte, ist eine interessante Frage. Es wäre für Meienberg, der die Klosterschule in Disentis besucht hat, sicherlich auch um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit gegangen. Marianne Fehr berichtet in ihrer sehr lesenswerten Meienberg-Biografie über einen möglicherweise nicht abgeschickten Brief Meienbergs an Etter von 1959. Darin beklagt sich der 19-jährige Meienberg über Manuel Gasser, den damaligen Chefredaktor der Zeitschrift «Du». Dieser sei ein «übler Homosexueller der schlimmsten Sorte», die staatlich geförderte «Du»-Redaktion sei «homosexuell durchseucht». Ich frage mich, ob Meienberg diesen Brief an Bundesrat Etter in seiner Etter-Biografie erwähnt hätte. Ich würde es ihm zutrauen.

zentralplus: Da schiessen Sie auf den Mann, Herr Zaugg. Geht es Ihnen bei Ihrer Arbeit um eine Rehabilitation Etters?

Zaugg: Nein, das wäre auch gar nicht nötig. Es wurde bis jetzt nur wenig über Etter geforscht. Vieles ist noch diffus. Die Kritik an diesem Bundesrat ist überschaubar und unvollständig zugleich. Gut ist, dass die Geschichtsschreibung nicht mehr der staatstragenden Schönfärberei verpflichtet ist, eher im Gegenteil. Es ist ein Privileg der heutigen Generation, befreit forschen zu können. Umso mehr, glaube ich, müssen wir Historiker eine Redlichkeit gegenüber den Quellen entwickeln, vollständig statt verkürzt zitieren, uns in den Archiven aufhalten, im Zweifelsfall eher abseits der heutigen Gegenwart. Hilfreich ist auch, dass Etter heute keine politische Identifikationsfigur mehr ist. Die meisten Parteien haben neue Vorbilder und neue Hassfiguren gefunden. Letzthin sah ich, dass die Etter-Büste, die vor Jahren aus dem Zuger Kantonsratssaal entfernt wurde, nun von den Politikern als Garderobe für Hüte benutzt wird. Wahrscheinlich ist das nicht mangelnder Respekt. Es ist ein gutes Zeichen der Entspannung.

Philipp Etters Büste im Regierungsgebäude des Kantons Zug. Heute werde sie als Hutständer benutzt, sagt Zaugg – ein Zeichen der Entspannung.

Philipp Etters Büste im Regierungsgebäude des Kantons Zug. Heute werde sie als Hutständer benutzt, sagt Zaugg – ein Zeichen der Entspannung.

(Bild: mbe)

zentralplus: Abseits vom Links-Rechts-Schema: Wenn man sich so lange mit dem Privatleben einer Person beschäftigt, wird sie einem da automatisch sympathisch?

Zaugg: (lacht) Nein, das glaube ich nicht. Nicht sympathisch, aber auch nicht unsympathisch. Darum geht es nicht. Der Historiker ordnet Quellen ein und der Biograf stellt sie in den Kontext der Geschichte einer Person. Der Biograf muss der Vergangenheit, über die er schreibt, ein Stück weit ihre ungewisse Zukunft zurückgeben. Natürlich entsteht dabei eine gewisse Nähe, die aber eher ein Gespür für die Person ist. Meine persönliche Meinung über Etter wird durch dieses Gespür nicht beeinflusst. Ausserdem ist es eine sehr hypothetische Frage, auf welcher Seite man damals selbst gestanden wäre oder wie man seinerzeit «gewesen» wäre. Die Flüchtlingspolitik etwa, die Etter als Bundesrat mitvertreten hat, war ein grosser Fehler. Die Schweiz und viele andere Staaten hätten mehr jüdischen und anderen Flüchtlingen helfen können, das Boot war nicht voll. Für mich gilt aber immer: Bevor man kritisiert, muss man verstehen und erklären. Dann fällt einem die Kritik immer schwerer. Und dann erst, wenn sie einem schwerfällt, wird die Kritik interessant.

Wär doch schöner mit Haaren, findet eine Leserin der SI.

Wär doch schöner mit Haaren, findet eine Leserin der SI. Bild: Staatsarchiv Zug.

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