Wie die Schweizer E-Sports-Szene um Anerkennung ringt
Kompetitives Gaming wird vom Bund nicht als offizielle Sportart anerkannt. Während E-Sports bald olympisch werden soll, ziehen sich Sponsoren zurück. Einblick in eine Szene, die um Professionalität und die öffentliche Gunst kämpft.
Genf – das «Kraftwerk des Schweizer E-Sports». Das ist die Vision.
Ein internationales Turnier mit den besten Teams aus Europa, quasi die Champions League für Gaming. Der Schweizer E-Sports-Verband (SESF) lädt über 50 Politikerinnen zum Event ein, um ihnen E-Sports näherzubringen. Das Ziel: E-Sports auf der grossen Bühne präsentieren und so den Weg für öffentliche Förderung bereiten.
So viele Hoffnungen ruhten auf der Veranstaltung – doch die Organisatoren blasen den Anlass kurzfristig ab.
Der Grund: Der Gründer und Namensgeber des Organisationsteams, der belgische Adelsspross Patrice Bailo de Spoelberch, hat auf X einen frauenfeindlichen Beitrag veröffentlicht. «Frauen, die es wagen abzutreiben, sollten das Recht verlieren, jemals Kinder zu haben.» Am nächsten Tag ziehen sich drei internationale Teams und der Verband vom Event zurück. Das Team selbst distanziert sich in einem Statement von der Aussage und zieht dem Anlass den Stecker.
Ein herber Schlag für die Schweizer E-Sports-Szene, die aus dem Image vom «Zeitvertreib für Nerds» hinauswachsen will. Statt als Sport anerkannt zu werden, verbleiben die E-Sportler in ihrer Nische. Noch schlimmer: Mit dem Tweet verstärkt sich das Vorurteil der «misogynen Gamerszene».
Kindergarten statt Stadion
Statt in einem mit Werbebanner drapierten Stadion wie etwa im Fussball spielen kompetitive «Smash»-Spieler in der Schweiz in einem Zürcher Kindergarten, den ein Organisator über seine Genossenschaft mieten kann. Oder in einem Raum in einem Bürogebäude in Dietikon, der einem befreundeten Verein gehört. Oder in einem Luzerner Jugendkulturhaus, das offen für Veranstaltungen ist, die Junge ansprechen. Bildschirme und Konsolen gehören den Organisatoren. Oder sie werden selbst mitgebracht.
Um die Miete zu finanzieren, bezahlen die Spieler eine Teilnahmegebühr. Ein Teil davon fliesst in einen Preistopf. Hoch sind die Gewinne bei den wöchentlich stattfindenden Turnieren nicht. Kommt eine Gewinnerin von ausserhalb der Stadt, reicht es gerade mal, das ÖV-Billett für die Hin- und Rückfahrt zu zahlen. Die meisten gehen leer aus.
Aber die Spieler gehen ohnehin nicht wegen des Preisgeldes an die «Weeklys». Sondern um Freunde zu treffen und Spass zu haben. Oder um zu trainieren.
Von Unis und Arcadehallen bis zu Stadien
E-Sports ist ein Sammelbegriff, ähnlich wie «Ballsportarten». Er steht für «electronic sports», also elektronischen Sport. Gemeint ist damit kompetitives Spielen von Videospielen – ob als Team oder Einzelspieler. Die Spieler und Teams konzentrieren sich dabei auf einzelne Videospieltitel. Die Communitys rund um die einzelnen Spiele unterscheiden sich zum Teil stark, ähnlich wie sich in der Musik Technoliebhaber von Klassikenthusiasten unterscheiden.
Wie und wann wurde Gamen zu «E-Sports»? Der interaktive Zeitstrahl fasst die wichtigsten Stationen der vergangenen 50 Jahre zusammen.
Heute bezeichnen sich in der Schweiz 565’620 Personen als E-Sportler – also knapp 6,5 Prozent. Zu diesem Schluss kommt die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in einer repräsentativen Studie von 2021. Zum Vergleich: Ungefähr ähnlich viele Personen spielen in der Schweiz Tennis, wie Zahlen des Bundes zeigen. Zwei von fünf Personen finden, dass E-Sports eine Sportart sind. Unter 44 Jahren sei es jeder Zweite, heisst es in der Studie weiter.
«Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem die jüngere Generation und die Männer E-Sports als Sport anerkennen und dass dies generell für nachwachsende Generationen mehr und mehr selbstverständlich sein wird.» Gemäss der ZHAW ist es also nur eine Frage der Zeit, bis E-Sports in der Schweiz als Sport anerkannt werden.
E-Sports sind ein globales Phänomen. Weltweit schauen Hunderte Millionen Menschen zu, wenn sich Spieler mit virtuellen Charakteren prügeln oder eine gegnerische Basis in einer Fantasiewelt erobern. Die besten internationalen Spieler kassieren Millionengehälter. Auch in der Schweiz haben Unternehmen noch vor fünf Jahren Hunderttausende Franken in E-Sports investiert. Banken prognostizierten 2019 für den weltweiten E-Sports-Markt Milliardenumsätze.
Doch dann platzte eine Blase: Investoren waren mit der Rendite unzufrieden. Grosse Firmen zogen sich in den vergangenen Jahren zurück, Ligen brachen zusammen, Events fanden zum letzten Mal statt.
Heute sind die Preistöpfe und Ligen kleiner, die Schweizer Spieler sind aber trotzdem hoch motiviert. Sie spielen weiter, bis die Szene in der Schweiz grösser wird. Bis die Schweiz allenfalls E-Sports anerkennt. Doch die Hürden dafür sind hoch.
Ist E-Sports Sport? Wenn du in der interaktiven Grafik auf die weissen Kästchen klickst, hörst du die Meinung verschiedener Protagonistinnen. Achtung: Bevor du dir die nächste Meinung anhörst, zuerst die vorherige ausschalten, sonst laufen beide gleichzeitig.
Gekommen für die Gegner, geblieben für die Freunde
Was die fehlende Anerkennung bedeutet, zeigt sich mitten im Nirgendwo, zwischen Kisten und Kabelrollen. Was für den Laien aussieht wie fein säuberlich aufeinandergestapelte metallene Pizzakartons, ist das Herzstück des Vereins «Lock and Load»: Regale voller Server.
Diese nutzt der Verein, um die Computer der rund 650 Teilnehmer ihrer gleichnamigen LAN-Party in der Stadthalle Sursee miteinander zu verbinden. Dort würden die Anwesenden um einen Preistopf von über 8000 Franken spielen, wie der 29-jährige Luzerner Fabrizio Hobi nicht ohne Stolz erzählt. Der Netzwerkspezialist präsidiert den E-Sports-Verein Sursee und die «Lock and Load». Der Verein hat sich einen Ruf bis über die Landesgrenzen erarbeitet: Er hat zuletzt die LAN-Party an der deutschen Gamescom eingerichtet. 1700 Spieler, an der grössten Videospielmesse der Welt.
Angefangen hat seine Leidenschaft für kompetitives Gaming mit der Veröffentlichung des Spiels «League of Legends» 2009. Zusammen mit Freunden habe er «sehr, sehr viel Zeit in das Spiel investiert». Aus einer Partie von 45 Minuten wurden schnell zwei, drei. Und das jeden Abend.
Das sind die E-Sports-Titel
Typische E-Sports-Titel sind aktuell beliebte, kompetitive Spiele, die eine grosse, aktive Spielerschaft haben. Deswegen wechseln die Titel mit den Jahren, zum Teil auch nach Land. Diese Videospiele zählen derzeit zu den beliebtesten:
- Die MOBA (Multiplayer Online Battle Arena) League of Legends und Dota 2, bei denen es darum geht, mit einem Team von fünf Spielern die Basis des gegnerischen Teams zu erobern.
- Die FPS (First-person Shooter, Schiessspiele aus der Ich-perspektive) Counter-Strike, Valorant und Overwatch, in denen zwei Fünferteams gegeneinander spielen. Gewinnen können Spieler, indem sie das gegnerische Team töten oder indem sie einen Platz erobern.
- Kampfspiele wie Tekken, Dragon Ball FighterZ, Street Fighter oder Super Smash Bros, bei denen Spieler mit Charakteren aufeinander einprügeln
- Rennspiele wie die offiziellen Formel-1-Spiele, Gran Turismo oder Trackmania
- Sportspiele wie das Fussballspiel Fifa oder Rocket League, bei welchem Fussball mit Autos gespielt wird, das Footballspiel Madden oder das Basketballspiel NBA 2K
- Strategiespiele wie StarCraft und Warcraft, bei dem Spielerinnen eine Basis und Armee aufbauen und die des Gegners zerstören
- Andere wie Fortnite, bei dem Spieler in einer immer kleiner werdenden Arena überleben müssen, oder der Landwirtschaftssimulator, bei der Spieler einen virtuellen Bauernhof aufbauen
«Damals haben wir es nicht E-Sports genannt. Du wolltest einfach Spiele gewinnen und hast gemerkt, wie du besser wirst.» Auf der Suche nach herausfordernden Gegnern fanden sie eine LAN-Party im Nachbardorf: die «Lock and Load». Beim ersten Mal wurden sie «total zerrupft». Trotzdem hat ihn die Veranstaltung gepackt. Der Leute wegen: «Ich bemerkte plötzlich, wie viele Leute in dieser Bubble waren. Es war egal, ob Mann, Frau, klein, gross, dick oder dünn. Uns hat das Gaming verbunden.» Als Nerd in der Schulzeit unverstanden und aussen vor, fühlte er sich unter seinesgleichen.
Ein teurer Spass
Auf der Suche nach neuen Turnieren folgte ein Dämpfer: Viele Veranstalterinnen sagten ihre Anlässe kurzfristig ab oder hörten ganz auf. Veranstalten kostet Zeit, die Organisatoren sind oft zwischen 20 und 30 Jahre alt, wenn sie noch keine Familie, Partnerin oder sonstige Verpflichtungen haben.
Damit sein neu gefundenes Hobby nicht schon «Game Over» war, bevor es angefangen hatte, meldete Hobi sich beim «Lock and Load»-Gründer Alexander Räz. So kam er vom Besuchen ins Veranstalten. Nahm aber etwas von der kompetitiven Einstellung mit: «Unsere LAN, die ‹Lock and Load›, muss die beste der Welt sein.» Zu oft habe er andere besucht, bei denen das Spiel mittendrin abbrach, weil das Internet spinnte. Oder er sechs Franken für labbrige Pommes frites zahlte.
Mit dem Organisieren rückten seine eigenen spielerischen Ambitionen in den Hintergrund. «Meine Zeit nutze ich inzwischen mehr, um Events zu machen. Damit andere die gleiche Magie erleben können wie ich damals.»
Die Zauberutensilien dafür: 40 technisch versierte Vereinsmitglieder, ein Raum in Geuensee mit unzähligen Kilometern Kabel, Monitoren, Servern, die sich bis an die Decke stapeln, und viel Einsatz.
Doch solche Events gehen ins Geld. Weil E-Sports offiziell nicht als Sport gelten, profitiert der Verein bei der Miete der Surseer Stadthalle nicht vom stark vergünstigten Sporttarif. Auch profitieren sie nicht von öffentlichen Geldern für Sportförderung. Die 50’000 Franken, die der Verein jeweils pro «Lock and Load» aufwendet, holt er mit Eintritten wieder rein. Die Vereinsmitglieder arbeiten ehrenamtlich, die Helferinnen erhalten einen kleinen Stundenlohn. Den kleinen Gewinn, der herausspringt, investiert der Verein in Material, Reparaturen und Lagerkosten.
In 60 Ländern anerkannt – aber nicht in der Schweiz
Mittlerweile sind E-Sports in über 60 Ländern als Sport anerkannt. Darunter Südkorea, USA und China, aber auch europäische Länder wie Grossbritannien, Frankreich und die Niederlande. In Deutschland bestand unter der vorherigen Regierung die Absicht.
Nicht so in der Schweiz. Der Schweizerische E-Sports-Verband (SESF) hat sich durchaus darum bemüht, E-Sports als Teil des organisierten Sports in der Schweiz anerkennen zu lassen. Bereits vor Jahren reichte er eine Absichtserklärung für den Beitritt bei Swiss Olympics ein, dem Dachverband des Schweizer Sports. So hätten Vereine etwa Zugang zu den Ausbildungs- und Weiterbildungsprogrammen, die Swiss Olympics anbietet.
Zudem ist der Dachverband gleichzeitig das Nationale Olympische Komitee der Schweiz. In dieser Funktion muss sich Swiss Olympic bald sowieso mit E-Sports befassen: 2025 finden in Saudi-Arabien die «Olympic E-Sports Games» statt. Zum ersten Mal, unter offizieller Flagge des Internationalen Olympischen Komitees.
Auf die Fragen, was der Stand des Beitritts ist und wieso kein Gesuch eingereicht wurde, vermag die SESF keine aufschlussreiche Antwort zu geben. Von Swiss Olympic heisst es auf Anfrage, der Verband habe «noch keine abschliessende Haltung». Jedoch beobachte Swiss Olympic die Entwicklung laufend und stehe mit den entsprechenden Organisationen in Kontakt.
Shooter fördern trotz Jugendschutz?
Das Bundesamt für Sport (Baspo), das unter anderem für die Sportförderung zuständig ist, äusserte sich 2019 letztmals zu E-Sports. Zwar erkennt der Bundesrat Videospiele als «weltweites soziokulturelles Phänomen» an, das eine «regelrechte Kultur» entstehen liess. Auch erkennt das Baspo an, dass E-Sports kognitive und strategische Fähigkeiten und Kompetenzen fördern.
Jedoch überwiegen für das Baspo die Gründe gegen eine Anerkennung als Sport. E-Sports erlebten die Spieler in erster Linie im virtuellen Raum, nicht «in direktem Kontakt mit Mitmenschen». Mit der Sportförderung will der Bund eigentlich Gesundheit und körperliche Betätigung fördern.
Im Gegenteil lauern für das Baspo bei E-Sports gesundheitliche Risiken wegen des langen Sitzens oder der Suchtgefahr. Zudem entsprächen gewalttätige Spiele wie der Egoshooter Counter-Strike nicht dem Kinder- und Jugendschutz und den ethischen Anforderungen. Hinzu kommen weitere Bedenken, etwa, dass die ganze Szene stark von den Spieleherstellern abhängt und jene auch die Regeln festlegen. «An der Haltung hat sich nichts geändert», wie Baspo-Mediensprecher Wladimir Steimer auf Anfrage schreibt.
Suchtexperte ist zwiegespalten
Der Suchtexperte Jan-Michael Gerber der Schweizerischen Gesundheitsstiftung Radix kann die Einschätzung des Bundes nachvollziehen – stimmt ihr aber nur zum Teil zu. «90 Prozent der Gamer haben kein Problem», hält der 44-Jährige fest. Und dass sich eine Sucht entwickle, hänge von vielen Faktoren ab. Beispielsweise dem Umfeld einer Person oder ob diese bereits andere Erkrankungen wie Depressionen oder soziale Phobien aufweise.
Allerdings sieht der studierte Sportwissenschaftler bei Videospielen schon Risiken, gerade für Gamesucht. Zum Teil entwickelten Spielehersteller «perfide Belohnungssysteme», um Spieler wieder und wieder ans Handy oder die Konsole zu locken.
Etwa Belohnungen fürs tägliche Spielen, saisonale Pässe, bei denen Spieler immer wieder aufs Neue Punkte für limitierte Inhalte sammeln müssen, oder kostenpflichtige Zufallsboxen, deren Inhalte einem Vorteile im Spiel verschaffen. Gerade Onlinespiele, die Spieler mit Freunden in einer Gruppe spielen, können auch sozialen Druck auslösen. «Wenn die Familie Znacht essen will, stellt sich für Jugendliche die Frage: Wem gegenüber bin ich loyal? Meinen Freunden, die mich fürs Spiel brauchen? Oder meinen Eltern?»
Der Ausgleich zum Zocken
Professionelle E-Sportlerinnen erfüllen gemäss Gerber zwar einige der Kriterien, die eine Sucht ausmachen. Etwa, dass die Interessen verlagert werden und sie andere Hobbys zurückstellen. «Das müssen E-Sportler tun, sonst bestehen sie in der Szene nicht.» Auch die gedankliche Beschäftigung, dass man sich auch vor oder nach dem Gamen damit beschäftige, treffe zweifellos zu.
Doch gerade professionelle Teams hätten die Gesundheit ihrer Spieler im Fokus, gibt Gerber zu bedenken. «Damit der Körper und Geist mithalten können, was auf dem Bildschirm passiert, müssen die Spieler fit sein. Das ist eben mehr als ein bisschen klicken», hält der Sportwissenschaftler fest. Professionelle Spieler spielen nicht acht Stunden am Stück. Sondern beispielsweise in zwei- bis dreistündigen Intervallen. Danach gehen die E-Sportler ins Gym, analysieren ihre Spiele oder trainieren mit einem Mentalcoach. Auch würden sie stark auf ihre Ernährung achten, so Gerber.
Warum E-Sportler fit sein müssen und inwiefern E-Sports sogar die Gesundheit fördern können, erklären verschiedene Protagonisten in der interaktiven Grafik. Zum Anhören klicke auf die weissen Kästchen.
Von daher vergebe der Bund auch eine Chance, wenn er E-Sports nicht fördere. So hätte er die Möglichkeit, die Gelder an Bedingungen zu knüpfen und etwa gesundheitliche Rahmenbedingungen zu fordern. «Solange E-Sports rein von Privaten organisiert sind, überlässt der Bund es den Teams, wie stark sie die Gesundheitsförderung anpacken wollen.»
Teams können sich «gesunde» Strukturen nicht leisten
Ins gleiche Horn stösst Nina Zweifel. Von Amtes wegen – als Vorstandsmitglied des Schweizer E-Sports-Verbands –, aber auch von Berufes wegen. Sie ist studierte Psychologin und hat bei verschiedenen E-Sports-Organisationen die Athleten betreut und gecoacht. Zwar ist sie heute Beraterin in einem Bildungsunternehmen, setzt sich aber noch immer für Gesundheit in E-Sports ein.
Für das Berner E-Sportsteam «mYinsanity» hat sie ein einmaliges Betreuungsteam auf die Beine gestellt: einen Mentalcoach, einen Physiotherapeuten und eine Ernährungsberaterin. Sie halfen den Spielern, wie sie wieder mehr schlafen können, halfen bei Konflikten im Team oder beim Abnehmen. So ein Team ist aber die Ausnahme. «Wir sind als Szene noch nicht parat, einfach fünf Leute anzustellen, damit das Team viel besser und gesünder ist.»
Sie findet, das müsste es mehr geben. Vereine könnten Verantwortung übernehmen und Jugendlichen früh den richtigen und gesunden Umgang mit Gaming beibringen. «E-Sports hätten so viel Potenzial, wenn wir vom gleichen Know-how und von den gleichen Strukturen wie andere Sportarten profitieren könnten.» Nun hofft sie, dass die Diskussion mit den angekündigten Olympic E-Sports Games wieder aufflammt.
Hohe Investitionen, doch was kommt zurück?
Nicht nur für Coaches fehlt Geld, auch für die Spieler. Sie erhalten Spesen für die Turniere und Goodies von Sponsoren. Und Reichweite, um als Spieler bekannter zu werden. «Niemand lebt in der Schweiz von E-Sports», so die 28-Jährige. Dafür seien die Löhne und Preisgelder zu tief und die Lebenshaltungskosten in der Schweiz zu hoch.
Wer davon leben will und wirklich gut ist, zieht ins nahe Ausland, nach Frankreich oder Deutschland. Worunter die Szene leidet. Wenn die «Shaqiris» und «Federers» des E-Sports wegziehen und keine guten Spieler zuziehen, da es nichts zu verdienen gibt, bleibt das Niveau der Schweizer Teams mittelmässig.
Nina Zweifel bezeichnet Geld als grösstes Problem der E-Sports-Szene. «E-Sports selbst generieren zu wenig Geld. Die meisten Teams in der Schweiz und global leben von Sponsoring. Doch der Mehrwert, den die Teams zurückgeben können, ist nicht unendlich gross.»
E-Sports haben beispielsweise keine eigenen Stadien, in denen sie Tickets für Heimspiele verkaufen können – oder die nach dem Sponsor benannt werden könnten. Auch werden E-Sports vor allem über Video- und Streamingplattformen geschaut. In traditionellen Sportarten fliesst viel Geld für Übertragungsrechte, die Fernsehsender kaufen, um exklusiv eine Liga oder eine Veranstaltung zu zeigen.
In der Folge zogen sich viele grosse Sponsoren in der letzten Zeit zurück. Weltweit, aber auch in der Schweiz. «E-Sports befinden sich gerade in einem ökonomischen Winter.» Wer derzeit noch grosse Summen in E-Sports investiert, ist Saudi-Arabien. Was jedoch viele Spielerinnen befremdet, da das Land immer wieder wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik steht. Doch die E-Sportler sind in einem Dilemma, so Zweifel: «Entweder arabisches Geld oder keins.»
Der Hype bröckelt
Dies nach einer Phase des regelrechten Hypes: Banken erwarteten im E-Sports-Markt Milliardenumsätze. Die Raiffeisenbank prognostizierte fürs Jahr 2024 einen weltweiten Umsatz von eineinhalb Milliarden US-Dollar. Goldman Sachs ging 2018 noch von einem viel stärkeren Wachstum aus und rechnete bereits fürs Jahr 2023 mit dem Doppelten. Dem Zürcher Beratungsunternehmen Deloitte zufolge sollen E-Sports 2019 443 Millionen Menschen erreicht haben.
Doch stattdessen berichtete die «New York Times» 2022 und 2023 von enttäuschten Investoren, die sich von einer stark wachsenden Industrie mehr Umsatz erhofft hätten. Besitzer verkaufen ihre Teams, grosse amerikanische E-Sports-Teams entlassen Spieler und andere Angestellte.
Bereits 2019 berichtete der Gamingblog Kotaku in einer längeren Recherche von «zwielichtigen Geschäften» rund um E-Sports. Mehrere Teams fuhren jährlich Verluste in Millionenhöhe ein, zahlten ihren Spielern trotzdem Millionenlöhne. Zuschauerzahlen wurden zum Teil künstlich aufgeblasen, indem Streams auf fremden Websites eingebettet und deren Besucher ebenfalls als Zuschauer gezählt wurden.
Schweizer Sponsoren ziehen sich zurück
Der letztjährige Bericht des Beratungsunternehmens Deloitte ist auch nicht mehr so optimistisch wie die Jahre zuvor. Zwar hätten 40 Prozent der 8000 befragten Personen in Europa mindestens einmal E-Sports-Inhalte geschaut. Doch neue in reguläre Zuschauer umzumünzen, sei eine «Herausforderung», heisst es im Bericht: 2020 schaute noch jeder Sechste mindestens einmal pro Woche E-Sports. Seit 2022 stagniert diese Zahl bei 8 Prozent. In der Schweiz gar bei 6 Prozent.
Auch Schweizer Investoren zogen sich in den vergangenen drei Jahren zurück. PostFinance finanzierte Turniere und stellte 2019 gar für ein Jahr ein professionelles Team. Der Onlinehändler Brack sponserte bis 2022 Teams, Ligen und Turniere. Gleiches gilt für den Kommunikationsriesen Swisscom, dessen Ligen zu den grössten Turnierserien der Schweiz gehörten – und der sich aufs Jahr 2025 von E-Sports verabschiedet. Zu den Gründen nach dem Aus, heisst es von allen drei: Sie hätten ihre Sponsoringstrategie überprüft und angepasst.
Künftige Kunden ansprechen und Personal finden
Allerdings gibt es auch Organisationen wie der TCS, Red Bull oder das Cloud Service Unternehmen Procloud AG, die noch immer in die Schweizer E-Sports-Szene investieren.
Der TCS erklärt sein Engagement mit dem «stark wachsenden Markt» und seiner Verankerung im Bereich Freizeit. Die Organisation hat 2018 die «TCS eSports League with Opel» gegründet, einer der grössten Schweizer Wettbewerbe für Rocket League. Zudem engagiert sich der TCS auch mit Fortnite-Events. Mit ihrem Einsatz will die Organisation ihre Marke bei einer jungen Zielgruppe stärken.
Der Getränkehändler Red Bull will auf Anfrage nichts zu seiner Unterstützung sagen.
Procloud unterstützt verschiedene Events und sponsert ein E-Sports-Team. Zum einen, weil der Geschäftsführer einst selbst in der Szene aktiv gewesen sei, wie dieser auf Anfrage schreibt.
Zum anderen aus wirtschaftlichen Gründen. In der IT-Branche herrscht gravierender Fachkräftemangel – im E-Sports-Bereich sind hingegen viele technikaffine Personen oder IT-Fachkräfte aktiv. E-Sports seien deshalb für Unternehmen durchaus attraktiv.
Doch nicht für potenzielle Arbeiter, sondern auch für neue Kundschaft. E-Sportlerinnen und E-Sports-Enthusiasten sind jung, digital affin, gut gebildet und gemäss der ZHAW willig, 523 Franken jährlich in Spiele, Fanartikel und Computerzubehör zu pumpen. Und Deloitte zufolge sind Fans des digitalen Sports Werbung gegenüber positiv gestimmt. Doch diese lukrativen Kunden schauen weder Fernsehen noch hören sie Radio. Online blocken sie alle Werbung – mit regulären Mittel sind sie also kaum zu erreichen, beschrieb das Marktforschungsunternehmen Nielsen 2019 die E-Sports-Fans.
Für ihn ist Gamen mehr als nur Knöpfe drücken
Einer von ihnen ist der Zuger Mark Walker. Bekannt ist er unter dem Namen «Kepler» – benannt nach dem Exoplaneten, da er zu seinen Anfängen vor acht Jahren sehr interessiert an Astronomie war. Der 26-Jährige ist aktuell fünftbester «Smash»-Spieler der Schweiz. Das Spiel ist eine Art Mischung aus Boxen und Sumo: Mit einer virtuellen Figur prügeln Spieler auf die gegnerische Figur ein und versuchen, diese aus der Arena zu schubsen (zentralplus berichtete).
Anfang 20 nahm er das Spiel sehr ernst. Er reiste nach Dänemark, England, Deutschland, Italien und Frankreich an Turniere. Übte fast jeden Abend eine halbe Stunde lang verschiedene Techniken am Controller. Hat sich eigene Matches angeschaut, um seine Schwächen herauszufinden, und Pläne geschrieben, wie er bei welchem gegnerischen Charakter spielen will. Er zahlte gar für Coaching-Lektionen eines niederländischen Spielers.
Influencer als Nebenjob, um sich Sport leisten zu können
Ins kompetitive Gamen sei er reingerutscht. Einen Plan, davon zu leben, hatte er nie. Das hätte bedeutet, an viel mehr internationale Turniere zu gehen und Videoinhalte zu produzieren. «Anders als in anderen Spielen verdient man bei ‹Smash› bei Weitem nicht genug, um davon zu leben. Es ist mehr wie ein Taschengeld.» Stattdessen setze er – wie fast alle Spieler, die er kenne – auf sein Studium. «In meiner jetzigen Phase im Leben ist es vor allem ein Hobby», wie der Philosophie- und Japanologie-Masterstudent sagt.
Und dies, obwohl Walker beim Berner E-Sports-Team «mYinsanity» unter Vertrag ist, einem der grössten Teams der Schweiz. Doch er sieht seine Zukunft nicht in «Smash». Sondern etwa als Doktorand oder Diplomat, vielleicht auch als Lehrer. Oder im Ausland. Wenn sich das mit dem Spiel verbinden lässt, spielt er wohl weiter. Doch er richtet seine Zukunft nicht danach.
Leidenschaft für Wettkampf und Gaming verbinden
Ähnlich sieht es bei der 25-jährigen Sara Zelda Meier aus, in Gamerkreisen bekannt unter dem Namen «SeLRa», zusammengewürfelt aus ihren beiden Vornamen. Auch sie würde sich nicht als professionelle E-Sportlerin bezeichnen, der Wettkampf sei für sie nur ein untergeordneter Teil. «Dass man zusammenkommt, gemeinsam sein Hobby feiert und Freundschaften fürs Leben schliesst: Das ist das Wichtigste an E-Sports.»
Zu professionell gehöre immer auch beruflich – was bei ihr «absolut nicht der Fall» sei. Sie befinde sich derzeit «zwischen Jobs», sie sei IT-Journalistin gewesen, bis ihr Magazin eingestampft worden sei.
Jedoch sei ihr E-Sports sehr wichtig, sie bringe sich in ihrem Verein ein, den «March Marmots». Zudem spiele sie zwei bis drei Stunden am Tag, an freien Tagen noch etwas mehr. So kämen gut 20 Stunden pro Woche zusammen, so Meier. Zum E-Sports kam sie, weil er ihre Leidenschaften verbinde: Gaming, Wettkampf und Sport.
Wie trainieren E-Sportler? Und was motiviert sie? Das siehst du im Video:
Fake-Stadionsgejubel und Überforderung
Das zeigt sich auch beim monatlichen «Smash»-Turnier in Luzern. Anwesend sind ungefähr zwei Dutzend Personen: Nebst «Kepler» auch Spieler aus Bern, dem Wallis oder gar Österreich. Von knapp 18-Jährigen zu über 30-Jährigen, von Studenten zu bekannten Luzerner Rappern.
Man kennt sich, begrüsst sich, stöpselt den mitgebrachten Controller ein und fängt an zu zocken. Selbst wenn die Spieler nicht am Spielen sind, drehen sich die Gespräche ums Spiel: Man diskutiert interessante Matches, die man gesehen hat, fachsimpelt über Techniken oder beobachtet Spiele.
Als Laie ist das Turnier zunächst überfordernd. Der Lärmpegel ist hoch, eine Kakofonie aus Gesprächen, dumpfen Explosionen, eingespieltem Stadionsgejubel und Soundtracks der Dutzend gleichzeitig laufenden Spiele. Fast wie auf einem Jahrmarkt, nur kleinräumiger. Das Zuschauen wirkt im ersten Moment wie ein Trip: aufflackernde Lichter, Rauch, Blitze, die plötzlich auftauchen und ebenso plötzlich wieder verschwinden. Gewöhnt man sich ans Tempo, lassen sich einzelne Attacken und Bewegungen erkennen. Und die Spieler klären Neulinge auch liebend gern über ihr Spiel auf.
Alles in allem wirkt das Turnier mehr wie ein Treffen von Freunden, die sich regelmässig zum Gamen treffen, als ein Wettkampf, bei dem sich immerhin fünf der besten Spieler der Schweiz messen. Es zeigt auch gut den Stand der Szene: Im internationalen Vergleich steckt die Schweiz noch in den 90er-Jahren fest, als Hobbyisten und Fans Turniere in Wohnzimmern und kleineren Hallen von und für die Szene veranstalteten. Zwar gibt es eine Handvoll Teams, die auch international Erfolge schreiben, doch die grosse Mehrheit sind Vereine von Fans, die sich mit Leidenschaft ihrem Hobby widmen. Der Durchbruch, die Professionalisierung, die Anerkennung blieben (noch) aus.
Muss es mehr sein?
Es müsse auch nicht unbedingt mehr sein, findet Mark Walker. «Ich finde, E-Sports müssen nicht wie Sport sein, um etwas Spannendes, Wertvolles, Tolles zu sein.» Er hoffe gar, dass sich kompetitives Gaming noch etwas von regulärem Sport abgrenze und etwas Eigenes sein könne. Das heisse aber nicht, dass E-Sports nicht gefördert sein sollten. «E-Sports sind sehr sozial. Das ist es wert zu fördern, genauso wie andere Vereine.»
Sara Zelda Meier hofft vorerst nicht auf Gelder oder die Anerkennung von aussen. «In den letzten eineinhalb Jahren ist eine Blase geplatzt. Gerade spüren wir einen Bruch zum vorherigen Hype.» Stattdessen hofft sie auf die Szene selbst. «Jetzt muss wieder etwas Wachstum aus der Community kommen. Wie bei ‹Smash›: Es braucht nur ein bis drei Leute, die Bock haben, etwas aufzubauen.»
Diese Graswurzelbewegung zeichne die Schweizer Szene aus. So müssten E-Sports auch nicht «komplett durchfinanziert» sein, findet die 25-Jährige. «Solange die Community selbst etwas für sich tut, solange es Spass macht, solange sind E-Sports cool.»
Was nach fünf Stunden gamen bleibt
Nach knapp fünfeinhalb Stunden ist das Turnier in Luzern vorbei. «Kepler» besiegt den Berner «Karpador64» im fünften Spiel des «Best of 5». Kurzer Applaus, Kopfhörer runter, auf der Bühne stehen. Weil es ein monatliches Turnier ist, gibts für Walker eine kleine Trophäe.
Die drei Bestplatzierten versammeln sich für ein Foto auf der Bühne. Und posieren zweimal, nach der Erkenntnis, dass ja eine Pressevertreterin anwesend ist und sich der lustig gemeinte Stinkefinger nicht so toll im Bild macht. Der Sieger erntet ein anerkennendes Schulterklopfen, gefolgt von einem «Gömmer? Ech mag nömm». Die welschen Teilnehmer machen sich auf den Heimweg, Walker und weitere Spieler bleiben noch, um zusammen auf den Weihnachtsmarkt zu gehen.
Die kleinen Turniere können zwar mitnichten als «Kraftwerk des E-Sports» bezeichnet werden oder Dutzende Politiker anlocken. Aber vielleicht als Dynamos, die die Szene lange genug am Laufen halten, bis sie sich vom Tief erholt. Bis sie eine nachhaltige Finanzierung findet. Und bis sie allenfalls doch öffentliche Anerkennung findet.
Über diesen Artikel: Autorin Michelle Keller arbeitet seit drei Jahren bei zentralplus. In diesem März schliesst sie die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern ab. Dieser Artikel ist im Rahmen der Diplomarbeit entstanden.
- Website und X-Profil «Take the Throne»
- X-Profil von «Team BDS»
- Studie von Deloitte (2020) zum europäischen E-Sports-Markt
- Studie von Deloitte (2024) zum europäischen E-Sports-Markt
- «Esports Playbook for Brands» von Nielsen (2019)
- Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zu eSports (2021)
- Mietkonditionen der Stadthalle Sursee
- Persönliches Gespräch mit Fabrizio Hobi, Präsident E-Sports-Verein Sursee
- Koalitionsvertrag der CDU/CSU und SPD vom 12. März 2018
- Stellungnahme des Bundesamts für Sport zum Thema E-Sports (2019)
- Schweizer Sportförderungsgesetz
- Telefonat mit Nina Zweifel, Vorstandsmitglied der Swiss E-Sports Federation und Sport Performance Coach
- Persönliches Gespräch mit Jan-Michael Gerber, Suchtexperte bei der Schweizerischen Gesundheitsstiftung Radix
- Schriftlicher Austausch mit Wladimir Steimer, Mediensprecher Bundesamt für Sport
- Persönliche Gespräche mit Mark Walker, Spieler bei «mYinsanity»
- Persönliches Gespräch mit Sara Zelda Meier, Spielerin und Vorstandsmitglied bei «March Marmots»
- Gespräche mit Spielern bei «Smash»-Turnieren
- Artikel von «Kotaku» über aufgeblähte Zahlen in E-Sports (2019)
- Schriftlicher Austausch mit Alexander Wäfler, Leiter Medien Swiss Olympic
- Raiffeisen-Informationswebseite zu E-Sports
- Schriftlicher Austausch mit Stephan Mahler, Geschäftsführer Procloud AG
- Schriftlicher Austausch mit der Medienstelle von Red Bull Switzerland
- Schriftlicher Austausch mit Marco Wölfli, Mediensprecher TCS
- Artikel der «New York Times» zu skeptischen Investoren (November 2022)
- Artikel der «New York Times» zu den Kündigungen und Verkäufen von Teams (Mai 2023)
- Schriftlicher Austausch mit Annina Merk, Mediensprecherin Swisscom
- Schriftlicher Austausch mit Lukas Keller, Mediensprecher Competec (Mutterunternehmen Brack)
- Schriftlicher Austausch mit Rinaldo Tibolla, Mediensprecher PostFinance
- Website «March Marmots»
- Website «mYinsanity»
- Zahlen des Bundesamts für Unfallverhütung zu Tennis
- Medienmitteilung des Internationalen Olympischen Komitees zu den Olympic E-Sports Games
- Studie von MYI Entertainment und Link Marketing Services zu Schweizer Gamern
- Webseite der Southern Illinois University zur Geschichte von E-Sports
- Artikel von «Heise» zur Geschichte von E-Sports
- Eintrag zu «E-Sports» in der Encyclopedia Britannica
- Zeitstrahl von «EsportScholar»
- Diverese historische Websites von E-Sports-Teams und -Events für den Zeitstrahl