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Ornella Pessotto von der FCB-Fanarbeit erklärt, was am Samstag mit den FCB-Fans so gewaltig schiefgelaufen ist. Sie verurteilt diese Vorfälle. Allerdings sei das Verhalten der Luzerner Polizei daran nicht ganz unschuldig. Doch die Ordnungshüter rechtfertigen sich.
Ornella Pessotto kennt die äusserst lebendige und aktive, aber auch berüchtigte Fanszene in Basel bestens. Seit 18 Jahren arbeitet sie als Fanarbeiterin eng mit dieser zusammen. Dank des regen Austauschs kennt sie die Ansichten, Bedürfnisse und die Strukturen der Muttenzerkurve wohl so gut wie kaum jemand anderes.
zentralplus möchte von Pessotto wissen, was denn am Samstag schiefgelaufen sei. FCB-Fans demolierten auf dem Weg zur Swissporarena einen Zug der S-Bahn derart, dass dieser aus dem Verkehr gezogen werden musste (zentralplus berichtete). Pessotto verurteilt diese Vorfälle. Doch diese ohne jeglichen Kontext zu betrachten, greift für Pessotto zu kurz.
Luzerner Polizei rückt von jahrelanger Praxis ab
Pessotto stellt zum Einstieg die Frage: «Wieso kam die Luzerner Polizei plötzlich, ohne eine Rücksprache mit den Involvierten, von ihrer jahrelang erfolgreichen Praxis ab, die Basler kompakt und begleitet zum Stadion marschieren zu lassen?» Denn, so Pessotto weiter: «Hätte die Polizei die Basler marschieren lassen, wären diese am Samstag nicht in die S-Bahn oder auf die Linienbusse gegangen, hätten im Januar 2022 keine VBL-Busse beschädigt und es wäre kein schwerverletzter FCB-Fan zu beklagen gewesen.»
Ein Blick zurück: Zwei Wochen vor dem Heimspiel vom 30. Januar 2022 wurde der Fanarbeit per E-Mail in einem Zweizeiler kurz und knapp mitgeteilt, dass der Fanmarsch künftig nicht mehr geduldet würde und die FCB-Fans stattdessen mit VBL-Bussen zum Stadion befördert würden. Ein Gespräch habe nicht stattgefunden. Die Fans habe Pessotto aber über diese Neuerungen informiert.
FCB-Fans beschliessen individuelle Anreise
Um einer allfälligen Eskalation aus dem Weg zu gehen, reisten etwa 500 Fans individuell und im Auto nach Luzern. Auf dem Extrazug waren gemäss der SBB 364 Fans. Die entsprechende Kommunikation findet sich auf der Webseite der Muttenzerkurve.
Nach dem besagten Spiel eskalierte die Situation rund um die Swissporarena komplett: Die FCB-Fans randalierten. Die Polizei setzte Gummischrot ein. Im Nachgang erhoben die FCB-Fans schwere Vorwürfe gegen die Luzerner Polizei, bemängelten die Verhältnismässigkeit und sprachen von der Polizei als Aggressorin. Diese habe grundlos mit Gummischrot in die Menge geschossen, wobei sich ein FCB-Fan schwer am Auge verletzte (zentralplus berichtete).
Wurde Beweismaterial gelöscht?
Pessotto bat zwei Tage nach den Geschehnissen ein erstes Mal um ein Debriefing bei der Swiss Football League (SFL), was diese sofort und aktiv unterstützte. Es sei wichtig, solche Zwischenfälle schnellstmöglich sauber aufzuarbeiten, herauszufinden, was warum geschehen war und abzuschliessen, um dann so quasi «Stand Null» wieder nach vorne schauen zu können. Das Debriefing fand erst nach mehrmaligem Nachhaken neun Monate nach den Ereignissen und zwei Wochen vor dem nächsten Heimspiel des FC Luzern gegen den FC Basel statt.
”«Manchmal könnte man fast den Eindruck bekommen, die Polizei hätte ein Interesse am Erreichen der nächsten Eskalationsstufe.»
Ornella Pessotto, Fanarbeit Basel
Ein Debriefing im Sinne einer Aufarbeitung sei das allerdings nicht gewesen, so Pessotto. Die Einsatzvideos der Luzerner Polizei seien bis auf zwei Videos, die für Schulungszwecke behalten worden seien, gelöscht worden. Gezeigt wurden aber auch diese nicht. Dafür wurde der FCB-Delegation rund um David Degen und der Fanarbeit für das bevorstehende Spiel ein Vorschlag unterbreitet. Dieser habe wie folgt gelautet: Wird kein Gesuch um Marschbewilligung gestellt, wird die Anreise im Extrazug verboten.
Das Gesuch wurde nicht wie gewünscht eingereicht. Die Fans reisten mittels Regelzug ans Spiel. Der Extrazug fuhr ebenfalls nach Luzern – komplett leer. Auf dem Trottoir dann ein rotblauer Tatzelwurm, der vom Bahnhof fast bis zum Stadion reichte und bei jedem Fussgängerstreifen die Strasse überquerte.
Seit 2022 knallt es bei jedem Gastspiel des FCB
Seither hat es rund um die Gastspiele des FCB in Luzern jedes Mal geknallt. Nachdem die Polizei die FCB-Fans jahrelang ohne Bewilligung marschieren liess, werde nun verlangt, dass irgendwer eine Bewilligung einreicht – mit absurden Auflagen, wie Pessotto sagt. Ein Beispiel: Den Fans wäre ein Singverbot vom Bahnhof bis nach der Langensandbrücke auferlegt worden.
”«Wie soll denn das personalisierte Ticket Sachbeschädigungen in einer S-Bahn oder Ausschreitungen ausserhalb der Stadien verhindern?»
Ornella Pessotto, Fanarbeit Basel
Man habe ihr mitgeteilt, die Bewilligung sei nur pro forma einzuholen – um gesetzeskonform zu agieren. Doch zu einem Gesuch ist es nie gekommen. «Nebst dem, dass ich weder Veranstalterin noch Verantwortliche dieses Marsches bin, wurde mir auch juristisch dringend davon abgeraten, in meinem Namen den Fanmarsch anzumelden.»
Zudem müssten, so Pessotto, an oberster Stelle doch der Auftrag und das Interesse nach Sicherheit, Planbarkeit und die Unversehrtheit von Personen und Sachwerten stehen. «Aufgrund eines ‹Law and Order›-Gedankens wurde ein Problem erzeugt, das zuvor nicht bestanden hat, was schliesslich zum Nachteil aller Beteiligten wurde.»
Die Fanarbeit Basel wünscht sich die Rückkehr zur bewährten Praxis
«Wir wünschen uns eine Rückkehr zur altbewährten Praxis, die – bis auf zwei, drei Ausreisser – über zehn Jahre prima funktioniert hat.» Seit man von dieser Praxis abgekommen sei, hätten drei Spiele in Luzern stattgefunden, wobei es dreimal ausgeartet sei. Doch Pessotto glaubt nicht an ein Einlenken der Luzerner Polizei.
«Manchmal könnte man fast den Eindruck bekommen, die Polizei hätte ein Interesse am Erreichen der nächsten Eskalationsstufe», so Pessotto. Denn: «Wie lässt sich erklären, dass sich die Polizei am 9. November 2022 bloss im Hintergrund der Zone 5 aufgehalten hat, obwohl sie sonst immer – getreu dem Motto ‹Klare Fantrennung› – davorgestanden ist? Und wie ist es möglich, dass sich fast zwei Minuten lang 100 Personen eine Massenschlägerei liefern können, ohne dass die Polizei einschreitet, obwohl sie da ist?» – Kommt hinzu: Auch in der Luzerner Fanszene wird vermutet, dass die Polizei die Schlägerei bewusst zugelassen hat.
Appell an den gesunden Menschenverstand
Zu den Massnahmen, die die Politik nun fordert, hat Pessotto eine klare Meinung. «Wie soll denn das personalisierte Ticket Sachbeschädigungen in einer S-Bahn oder Ausschreitungen ausserhalb der Stadien verhindern?», und: «Glaubt man wirklich, dass die Fans einfach zu Hause bleiben, wenn man den Gästesektor schliesst?», fragt die Fanarbeiterin, als zentralplus ihr den von der Mitte geforderten Massnahmenkatalog vorliest (zentralplus berichtete).
Die Mitte fordert auch eine Überwälzung der Kosten auf die Vereine. Hier winkt Pessotto ab und appelliert an den gesunden Menschenverstand: Es sei doch schlicht unmöglich, dass ein Verein seine Abertausenden von Fans ausserhalb des Stadions kontrollieren könne.
Abschliessend betont Ornella Pessotto noch einmal, dass die Fanarbeit die entstandenen Sachschäden «klar verurteilt und bedauert». Sie habe null Verständnis dafür, sagt Pessotto.
Polizei nimmt Stellung zur Kritik der Fanarbeit
Die Luzerner Polizei möchte gegenüber zentralplus zu den Vorgängen im Januar 2022 keine Stellung nehmen. Das habe man damals bereits getan. Tatsächlich: Die Luzerner Polizei äusserte sich gar zweimal zu den damals seitens der FCB-Fans erhobenen Vorwürfen. Dabei änderte sie laut dem Onlinemagazin «Bajour» das Narrativ, nachdem die FCB-Fans mithilfe von Videos die Plausibilität der ersten Polizeimeldung infrage stellten (zentralplus berichtete).
Dennoch wehrt die Polizei sich gegen den Vorwurf, sie habe die Schlägerei vor der Zone 5 vom 9. November 2022 bewusst eskalieren lassen. Als es zu einem Aufeinandertreffen der Fangruppen kam, habe die Polizei innert weniger Sekunden reagiert und die Fanlager getrennt. Die Polizei sei bei der Zone 5 mit einem grossen Aufgebot präsent gewesen.
FCB kehrt im Herbst nach Luzern zurück
Zum späten Zeitpunkt des Debriefings lässt die Polizei sich wie folgt zitieren: «Die Luzerner Polizei hat, wie immer nach jedem Polizeieinsatz, kurz nach dem Spiel intern ein Debriefing durchgeführt. Für ein Debriefing mit aussenstehenden Organisationen braucht es jeweils Terminvereinbarungen.» Auch streitet die Polizei ab, belastende Videos gelöscht respektive Beweismaterial unterschlagen zu haben. Weiter habe die Luzerner Polizei nie mit einem Verbot der Extrazüge aus Basel gedroht. Dazu sei die Polizei gar nicht befugt.
Zudem ist die Luzerner Polizei nicht einverstanden mit der Aussage, es habe vor den Vorfällen im Januar 2022 kaum Probleme gegeben mit den Fans des FC Basel. Unklar bleibt hingegen, wieso die Polizei von ihrer bewährten Praxis, nämlich der Duldung der unbewilligten Fanmärsche des FC Basel, weggekommen ist. Sie weist lediglich darauf hin, dass Fanmärsche von Gesetzes wegen – analog zu Demonstrationen – bewilligungspflichtig seien. Die Bewilligungsinstanz sei die Stadt Luzern.
Das nächste Heimspiel gegen den FCB spielt der FC Luzern – sofern er die Lizenz für die Super League erhalten und nicht absteigen sollte (zentralplus berichtete) – erst im nächsten Herbst wieder. Ob die Basler dann ohne Bewilligung marschieren dürfen, ist zu bezweifeln. Die Zeichen stehen nach dem vergangenen Samstag wohl eher auf Eskalation.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version war fälschlicherweise von einer Schlägerei am 30. Januar 2022 die Rede. Wir haben diesen Fehler angepasst. Es handelte sich hierbei um die Schlägerei vom 9. November 2022.
- Telefonat mit Ornella Pessotto, Fanarbeit Basel
- Schriftlicher Austausch mit der Luzerner Polizei
- Webseite der Muttenzerkurve
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