Wie stark wächst der Auto-Verkehr in Luzern?

Spange Nord: Experten lassen kein gutes Haar an den Zahlen des Kantons

So wie auf dieser offiziellen Visualisierung könnte die neue Brücke zwischen Reussbühl und dem Autobahnanschluss Lochhof aussehen. (Bild: zvg/Visualisierung Swiss Interactive AG, Aarau)

Ein neues Gutachten von zwei externen Verkehrsexperten zerzaust den kantonalen Bericht zur Spange Nord: Das Wachstum des Autoverkehrs werde über-, die Zunahme von ÖV und Velo unterschätzt. Sie schlagen eine Neuberechnung vor.

Seit Oktober ist die ursprüngliche Spange Nord durch das Maihof-Quartier vom Tisch – es verbleiben die Reussportbrücke und der Autobahnanschluss Lochhof. Doch der Widerstand gegen die Minimalvariante des Zubringers zum Bypass lässt nicht nach: Nach der «Spange No» ruft jetzt die «IG Reussport Nein» zum Kampf gegen das kantonale Verkehrsprojekt auf.

Bis Ende Mai läuft die öffentliche Vernehmlassung zum Projekt. Darum nutzt die IG die Gunst der Stunde und stellt dem kantonalen Bericht ein eigenes Expertengutachten entgegen, das sie bei der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) im November in Auftrag gegeben hat.

Das wenig schmeichelhafte Fazit des Papiers: Das Wachstum des motorisierten Individualverkehrs (MIV) bis 2040 werde überschätzt, Auswirkungen der demographischen Entwicklung unvollständig abgebildet und Veränderungen beim ÖV nicht berücksichtigt.

Wagt eine Verkehrsprognose für Luzern: Alexander Erath, Professor für Verkehr und Mobilität an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). (Bild: jwy)

Experten von Fachhochschule und ETH

Das unabhängige Gutachten wurde von Alexander Erath, Professor für Verkehr und Mobilität an der FHNW, und dem Bauingenieur und Verkehrsplaner Kay W. Axhausen (ETH Zürich) erstellt. Sie empfehlen eine komplette Neubewertung der Situation.

Die beiden Experten haben sämtliche kantonalen Berichte, Verkehrsmodelle und Siedlungsdaten studiert und das zuständige Departement befragt. «Der Bericht ist unabhängig, die IG hat keinen Einfluss darauf ausgeübt, wie wir vorgehen sollen», betonte Erath bei der Präsentation am Mittwoch.

«Viele Experten treten nicht gern gegen ein Projekt des Kantons an.»

Ruedi Schmidig, IG Reussport Nein

Beim Kanton Luzern sei man für die Prognosen zu stark von Infrastrukturbauten ausgegangen, kommen Erath und Axhausen zum Schluss. «Die Wirkung alternativer Massnahmen, die besser im Einklang mit Gesamtverkehrskonzepten und kantonalem Richtplan stehen, wurden nicht geprüft.» Man könnte etwas weniger wissenschaftlich auch sagen: Es braucht mehr Köpfchen statt Beton.

Die IG musste übrigens lange suchen, bis sie eine Fachperson für das Gutachten fand. «Viele Experten treten nicht gern gegen ein Projekt des Kantons an», sagte der ehemalige grüne Politiker Ruedi Schmidig.

Erath betonte, dass es nicht das Ziel des Gutachtens sei, das Projekt abzuschiessen. «Wir bieten eine fachliche Einschätzung auf wissenschaftlichen Grundlagen und wollen die Qualität der politischen Diskussion stärken.»

Diese Visualisierung stellen die Gegner jener des Kantons gegenüber – mit realistischen 24'000 Fahrzeugen pro Tag. (Bild: zvg)

Kanton geht von Entlastung des Zentrums aus

Vonseiten des Kantons war der externe Berater Michel Simon von der Zürcher Firma «S-ce Consulting» bei der Präsentation im Herbst überzeugt: «Die Variante kostet am wenigsten und weist ganz klar das beste Nutzen-/Kosten-Verhältnis auf.» (zentralplus berichtete)

«Wir bauen für Jahrhunderte, die Entwicklung geht aber in Fünf-Jahres-Schritten voran.»

Alexander Erath, Professor für Verkehr

Die Argumente der Luzerner Regierung: Bei Kosten von noch rund 40 Millionen Franken gelinge mit der Brücke und dem neuen Autobahnanschluss eine «Verlagerung des innerstädtischen Verkehrs auf die Autobahn mit Entlastungen westlich der Reuss im Bereich Obergrundstrasse, Hirschengraben, Baselstrasse bis Kreuzstutz sowie Spitalstrasse». Die heutigen Autobahnanschlüsse beim Kasernenplatz und in Kriens würden entlastet, ist der Kanton überzeugt.

Bevölkerungsantrag fordert Widerstand

Ganz anders sieht man das in den betroffenen Stadt-Quartieren: Im Bereich Kreuzstutz und im Quartier Basel-/Bernstrasse (Babel) wird im Gegenteil mehr Durchgangsverkehr erwartet. Nicht von der Hand zu weisen wäre der grosse Einschnitt für das Reussbühl-Quartier mit Bau und Betrieb der neuen Brücke. Zudem provoziert der Einschnitt in die Uferzone den Widerstand von Umweltschützern.

Das Nein-Komitee hat kürzlich einen Bevölkerungsantrag eingereicht, der den Luzerner Stadtrat auffordert, sich bei der Kantonsregierung für die betroffenen Quartiere stark zu machen (zentralplus berichtete).

Perspektiven statt Prognosen

Der Widerstand wird durch das neue Gutachten bestätigt: Die Nachfrage nach dem motorisierten Individualverkehr (MIV) in der Innenstadt nehme seit 2012 kontinuierlich ab, obwohl die Bevölkerung wächst. Und die Zahl der autofreien Haushalte ist in der Stadt Luzern von 37 auf 44 Prozent gewachsen.

Stärker berücksichtigt werden müssten zum Beispiel Verbesserungen im ÖV (Durchgangsbahnhof, neue Busspuren), Ausbau des Veloverkehrs, flexiblere Arbeitswelt, Mobilitätsmanagement, Mobility Pricing oder veränderte Siedlungsentwicklungen in der Stadt. Alexander Erath und Kay W. Axhausen fordern «Verkehrsperspektiven statt Verkehrsprognosen»; und zwar Perspektiven, die mit den Klimazielen und der Energiestrategie kompatibel seien.

«Überschätzung der MIV-Nachfrage führt zur Überschätzung der positiven Wirkung der Infrastrukturbauten», kommen die Autoren zum eindeutigen Schluss. Alternative Massnahmen statt Infrastrukturausbauten seien nicht geprüft worden – ebenso wenig positive Auswirkungen auf den ÖV. Auch langfristige Szenarien wie autonome Fahrzeuge oder wie die Stadtautobahn nach dem Bypass teilweise rückgebaut werden könnte, kommen in den Überlegungen des Kantons nicht vor.

Alexander Erath sagte es so: «Wir bauen für Jahrhunderte, die Entwicklung geht aber in Fünf-Jahres-Schritten voran. Das ist eine riesige Herausforderung.»

Stärkere Verkehrslenkung gefordert

Die Empfehlungen werden von den Spange- respektive Reussportbrücke-Gegnern in politische Parolen umgemünzt: «Wir fordern den Verzicht auf den Basisausbau und den Verzicht auf die Reussportbrücke.» Es brauche eine Gesamtverkehrslösung ohne Autobahnanschluss Lochhof, dafür eine Förderung des ÖV und eine Mobilitätsmanagement-Strategie, sodass sich die «Mobilität und die Lebensqualität im Sinne der Nachhaltigkeit weiterentwickeln». Gefragt seien zudem verkehrslenkende und -steuernde Massnahmen.

Die politischen Entscheide fallen im Herbst: Dann kommt der Planungsbericht das erste Mal in den Kantonsrat. Auch eine Volksabstimmung zur Reussport-Brücke wird es geben.

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3 Kommentare
  • Profilfoto von Adrian
    Adrian, 29.01.2020, 16:20 Uhr

    Ich wünsche mir ein progressives Luzern – d.h. eine zukunftsgerichtete Verkehrspolitik. Darin hat der motorisierte Individualverkehr keinen Platz. Wir brauchen besser ÖV, mehr Platz für 2-Räder und mehr Aktivitäten, um die Autos im Zentrum zu reduzieren (Road-Pricing, weniger Parkplätze, Car-Sharing fördern, etc.). Vision «Autofrei bis 2040» wär was Schönes!

    Ich bin dagegen und mir graut’s, wie man immer wieder versucht, mit alten Ansätzen neu zu denken …

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  • Profilfoto von estermap
    estermap, 29.01.2020, 13:01 Uhr

    Erst liess sich das «unsere» Regierung vom Bund diktieren. Vielleicht kommt sie ja noch zur Vernunft.

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  • Profilfoto von Urs Eggler
    Urs Eggler, 29.01.2020, 12:41 Uhr

    Ich verstehe die Begründung vom Kanton einfach nicht. Selbstverständlich fahren dann einige Autos dann bei diesem neuen Anschluss auf/ab der Autobahn und selbstverständlich hat es dann bei den andern Ein/Ausfahrten am Kasernenplatz und am Seetalplatz ein bisschen weniger Verkehr. Aber damit ist doch eigentlich überhaupt nichts gewonnen. Sonst heisst es doch immer, man wolle nicht zuviele Autobahnanschlüsse, und da will man nun drei davon auf maximal 2 Kilometer Strecke? Das macht doch keinen Sinn.

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