Luzerner Exil-Türke spricht über seine Heimat

«Es ist keine Demokratie, wenn man nur für oder gegen Erdogan sein kann»

«Ein psychologischer Druck ist schon da»: Ali R. Celik im Helvetiagärtli in Luzern.

(Bild: jwy)

Täglich lesen wir über die Türkei: Putschversuch, Massenverhaftungen, Kurdenkonflikt. Ali R. Celik hat das alles miterlebt: nach dem Putsch 1980. Seit 30 Jahren lebt er nun in der Schweiz und brachte es bis zum Kantonsrat. Die Türkei ist ihm fremd geworden – und an Erdogan lässt er kein gutes Haar.

Ali R. Celik weiss, was ein Militärputsch für ein Land bedeutet. Nach dem Putsch 1980 in der Türkei folgten Repression, Massenverhaftungen, Folter. Auch Celik – linker Gemeindepolitiker, Gewerkschafter und Kurde – landete hinter Gitter. 1985 flüchtete er in die Schweiz und erhielt hier Asyl. Celik hat die Sprache gelernt, hat studiert, wurde eingebürgert und hat es für die Grünen bis in den Kantonsrat gebracht.

Wenn er heute in die Türkei reist, ist ihm das Land fremd. Und auch als linker Politiker und Migrant im bürgerlich dominierten Rat ist Celik ein Exot. Wie schaut er heute auf die Türkei – das Land, das nach dem jüngsten Putschversuch wieder eine Säuberungswelle erlebt? Mit welchem Gefühl reist er in das Land? Und wie gespalten sind die Türken in der Schweiz? Mit diesen aktuellen Fragen trafen wir den 64-jährigen Ali R. Celik zum Gespräch.

zentralplus: Die Türkei ist momentan das grosse Thema in der Berichterstattung – leider seit einer Weile kaum mehr positiv. Wie verfolgen Sie die Nachrichten?

Ali R. Celik: Nun gut, dass sich die Lage verschlechtert, ist nicht neu. Auch die jetzige Situation trägt natürlich nicht zur Verbesserung bei (schmunzelt). Schon nach dem Militärputsch von 1980 haben die Machthaber die linksliberalen Kräfte im Land destabilisiert und eingesperrt. Man hat die Gesellschaft mental verändert und islamistische Kreise gefördert. Diese Kräfte haben an Macht gewonnen, die AKP mit Erdogan an der Spitze ist jetzt seit 14 Jahren an der Macht. Sie haben das Bildungssystem verändert, es gibt immer mehr theologische Gymnasien. Und im Staatsapparat und in der Justiz haben sie ihre Leute platziert.

zentralplus: Sie sind 1985 in die Schweiz gekommen, zuvor waren Sie viereinhalb Jahre als Gemeindepolitiker in der Türkei aktiv …

Celik: … ich bin als Asylsuchender gekommen. Nach dem Militärputsch 1980 war ich bis 1982 im Gefängnis. Zwischen 1980 und 1986 wurden 640’000 Menschen in der Türkei aus politischen Gründen eingesperrt und es wurde gefoltert. Ich kam dann zwar wieder frei, aber wurde später wieder gesucht und lebte bis 1985 im Untergrund. Und dann bin ich in die Schweiz gekommen.

«Jetzt haben wir in der Türkei ein Ein-Mann-System: Alle Institutionen erfüllen die Befehle von Erdogan.»

zentralplus: Auch jetzt gibt es wieder eine Verhaftungswelle – Tausende Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, der für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird und im US-Exil lebt, werden verhaftet. Wie beurteilen Sie das?

Celik: Dabei haben Erdogan und Gülen durchaus Gemeinsamkeiten: Sie haben die Islamisierung der Gesellschaft zusammen eingeleitet, sie strebten beide keine demokratische Gesellschaft an. Sie haben die Armee destabilisiert, Generäle unter Verdacht gestellt und Tausende von Kurden verhaftet, das war ein gemeinsames Projekt. Aber wenn man kein demokratisches System hat, kommt irgendwann die Frage, wer der Stärkere ist, es begann ein Machtkampf und Erdogan begann Gülen schliesslich zu schwächen. Jetzt haben wir in der Türkei ein Ein-Mann-System: Alle Institutionen erfüllen die Befehle von Erdogan.

zentralplus: Leidet vor allem die Demokratie unter dem Putschversuch?

Celik: Man kann in der Türkei eigentlich nicht von Demokratie sprechen. Es ist keine Demokratie, wenn man nur für oder gegen Erdogan sein kann. Es gibt keine funktionsfähigen Strukturen eines demokratischen Systems, das ist das Problem.

zentralplus: Hätten Sie so einen Putschversuch noch für möglich gehalten?

Celik: Ich habe Versuche für möglich gehalten, aber nicht in dieser Dimension. Ich habe gewusst, dass die Gülen-Bewegung an der Basis stark ist, hätte aber nicht damit gerechnet, dass sie so tief in der türkischen Armee organisiert ist. Ich hätte eher damit gerechnet, dass der kemalistische Flügel (nach Republik-Gründer Kemal Atatürk benannte politische Richtung, Anm. d. Red.) der Armee so etwas versucht. Oder dass es ein Attentat auf Erdogan geben könnte.

zentralplus: Die Türkei ist ein extrem gespaltenes Land – haben Sie als Demokrat noch Hoffnungen für die Türkei?

Celik: Man könnte erwarten, dass nach einem solchen Ereignis zumindest eine Normalisierung beginnt. Aber Schritte in Richtung Demokratisierung erwarte ich von Herrn Erdogan nicht. Aber zumindest, dass das Parlament wieder funktionsfähig wird, aber im Moment gibt es wenig Hinweise darauf.

Zur Person

Ali R. Celik (64) ist seit Mitte März Kantonsrat und Mitglied der Grünen Fraktion. Schon 2011 wurde er ins Stadtparlament gewählt, diesen Sitz gibt er jedoch Ende August ab, Parteikollege Marco Müller rückt nach.

Celik ist 1985 als Asylbewerber aus der Türkei in die Schweiz geflüchtet. Er arbeitete zehn Jahre als Maler und zwei Jahre in der AIDS-Prävention im Kanton Luzern. Während dieser Zeit studierte er berufsbegleitend Soziale Arbeit und anschliessend Soziologie mit Geschichte und Philosophie im Nebenfach. Seit 18 Jahren ist er nun als Sozialarbeiter u.a. für die berufliche, sprachliche und soziokulturelle Integration von anerkannten Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Personen im Asylbereich tätig.

Als politischer Mensch – er war bereits in der Türkei viereinhalb Jahre Gemeindevorsteher – war für Ali R. Celik klar, dass er auch in der Schweiz aktiv die Politik mitgestalten will. Er war ab 2002 acht Jahre Vorstandsmitglied der Grünen Kanton Luzern und sieben Jahre Mitglied der Integrationskommission der Stadt Luzern. Nach einem zehn Jahre dauernden Einbürgerungsverfahren wurde er 2007 Schweizer Bürger.

zentralplus: Aber hat der Putschversuch nicht zumindest zu einem Zusammenrücken im Parlament geführt?

Celik: Man versucht zumindest miteinander zu sprechen, was zuvor nicht der Fall war. Aber wenn man die Situation wirklich normalisieren möchte, müsste man auch mit der prokurdischen und linken HDP (Demokratische Partei der Völker) zusammenarbeiten, doch die ignoriert man. Und erstaunlicherweise hat auch die Oppositionspartei CHP (kemalistische und sozialdemokratische Partei) sich bisher nicht klar geäussert; sie müsste mehr tun, um die Lage zu normalisieren.

zentralplus: Haben Sie noch Kontakt zu türkischen Politikern?

Celik: Ja, aber nicht zu den Kreisen der Gülen-Bewegung, die vor allem von der Verhaftungswelle betroffen ist. Ich habe mit Menschen Kontakt, die ein Teil der Demokratisierung der Türkei sein könnten – aber sie sind im Moment nur Beobachter. Erdogan bringt nicht nur Gülens Kreise zum Schweigen, er nutzt den Ausnahmezustand als Gelegenheit, um Gewerkschafter im öffentlichen Dienst zu entmachten.

zentralplus: Was machen junge, demokratisch gesinnte Leute in der Türkei jetzt? Haben sie resigniert? Denken sie ans Auswandern?

Celik: Ans Auswandern denken sicher die Gülen-Kreise. Die Linken befinden sich in einer Art Beobachtersituation. Sie sind momentan nicht in der Lage, sich bemerkbar zu machen. In links-liberalen Kreisen herrschen Angst und Ungewissheit.

zentralplus: Wie gehen Türken hierzulande mit der aktuellen Situation um? Sind sie auch so gespalten in Erdogan-Anhänger und -Gegner?

Celik: Ja, sie sind gespalten, aber das hat mit der aktuellen Lage nichts zu tun. Meine Beobachtung ist: Die Menschen aus der Türkei haben quasi keine gemeinsame Identität. Die verschiedenen Kreise – Islamisten, Rechtsnationalisten, linke Kräfte und Kurden – haben hier kaum miteinander zu tun. Das ist einmalig, ich weiss nicht, ob’s das bei anderen Landsleuten auch gibt. Auch ich habe kaum mit religiösen Türken oder Rechtsnationalisten zu tun – und sie nichts mit mir. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich bin ja jetzt schon lange hier in der Politik, ich war acht Jahre im kantonalen Vorstand der Grünen, seit fünf Jahren im Grossstadtrat und nun im Kantonsrat. Es gibt türkische Zeitungen in der Schweiz, aber noch nie hat jemand von denen mit mir gesprochen.

«Auch ich habe kaum mit religiösen Türken oder Rechtsnationalisten zu tun – und sie nichts mit mir.»

zentralplus: Wieso nicht?

Celik: Weil sie wissen, wo ich stehe. Obwohl ich zum Beispiel bei der Minarett-Initiative in einem Komitee dabei war und Stellung pro Minarette genommen hatte. Aber trotzdem ignorieren mich diese Kreise. Aber das ist nichts Neues, neu ist vielleicht, dass sich jetzt die Erdogan-Kreise zum Beispiel in Deutschland sichtbar machen. Sie gehen total in die Offensive und es ist auffällig, dass Oppositionskräfte und die kritischen Türken kaum Stellung beziehen.

zentralplus: In Deutschland werden Erdogan-Kritiker bedroht. Wird es auch hier gefährlich, den türkischen Präsidenten zu kritisieren?

Celik: Alles ist möglich, das muss man in Kauf nehmen. Ich spreche jetzt über diese Frage, und es ist nicht garantiert, dass ich nicht betroffen sein könnte. Aber trotzdem finde ich, dass man klar Stellung beziehen muss.

«Ich reise morgen wieder in die Türkei, jedes Mal überlege ich, ob etwas passieren könnte. Ein psychologischer Druck ist schon da.»

zentralplus: Aktuell gibt es einen Vorstoss des Urner FDP-Ständerats Josef Dittli. Er will wissen, ob es in der Schweiz Drohungen gegen Erdogan-Kritiker gibt.

Celik: Mir ist im Moment nichts bekannt. Aber auch wenn es sich juristisch vielleicht nicht um Drohungen handelt, wirkt die soziale Kontrolle trotzdem. Ich habe einmal für das Schweizer Fernsehen Leute für eine Sendung empfohlen, am Schluss habe ich erfahren, dass niemand etwas sagen wollte. Dieser Druck ist auch eine Bedrohung. Ich reise morgen wieder in die Türkei, jedes Mal überlege ich, ob etwas passieren könnte. Ein psychologischer Druck ist schon da.

Ali R. Celik hat den türkischen Pass noch, reist aber immer mit dem Schweizer Pass in die Türkei.  (Bild: jwy)

Ali R. Celik hat den türkischen Pass noch, reist aber immer mit dem Schweizer Pass in die Türkei.  (Bild: jwy)

zentralplus: Sie haben den türkischen Pass noch?

Celik: Ich bin Doppelbürger, aber ich reise mit dem Schweizer Pass in die Türkei.

zentralplus: Wie häufig besuchen Sie selber die Türkei?

Celik: Jährlich ein- bis zweimal.

zentralplus: Wann waren Sie das erste Mal wieder in der Türkei nach Ihrer Flucht?

Celik: Das war 2003, also nach 18 Jahren.

«Es hatte etwas Bedrohliches, weil ich jahrelang an der Grenze zurückgehalten wurde.»

zentralplus: Und wie war das für Sie, als Sie zurückkehrten?

Celik: Vieles war für mich fremd, es hatte etwas Bedrohliches, weil ich jahrelang an der Grenze zurückgehalten wurde. Ich war einmal mit neun Leuten aus der Schweiz da und bei der Kontrolle kam eine Gruppe Polizisten, die mich rausnahmen. Es werde irgendjemand mit meinem Namen gesucht, sagten sie. Sie versuchten wohl einen Grund zu finden, um mich da zu behalten. So ging das fast fünf Jahre, jedes Mal dasselbe, irgendwann haben sie mich wahrscheinlich von der Liste genommen. Ich fühle mich gesellschaftlich noch immer fremd in der Türkei. Ich habe mich anders weiterentwickelt und meine Einstellung hat sich verändert. Ich fühle mich nur schon fremd, wenn ich versuche, eine Strasse zu überqueren, das ist ein Problem (lacht).

zentralplus: Ein anderes Thema: Sie sind neu im Kantonsrat und noch bis Ende August im Stadtparlament. Wie ist das für Sie, wenn man dauernd auf Migrationsthemen reduziert wird?

Celik: Ich bin im Stadtparlament in der Sozialkommission und bin Sozialarbeiter – soziale Fragen sind für mich genauso aktuell. Aber ich habe halt viel Erfahrung mit Migrationsfragen: Ich habe einen Asylhintergrund und habe ein langes Einbürgerungsverfahren erlebt, elf Jahre dauerte das. Darum habe ich im Parlament oft dazu Stellung genommen. Ich habe mich jedoch nie aufgedrängt. Ich will nicht, dass man mich und Migration gleichsetzt.

Ali R. Celik in der SRF-Sendung «Kulturplatz» vom 6.1.2016:

 

zentralplus: Sie sind im Kantonsrat ein Exot: Sie sind einerseits als Grüner in der Minderheit und andererseits als ehemaliger Flüchtling. Wie ist das?

Celik: Das kann ich noch nicht beurteilen, das kantonale Parlament ist mir noch etwas fremd. Es ist grösser als in der Stadt, dort ist es kollegialer. Aber ich hatte bis jetzt noch nie das Gefühl gehabt, dass man mich ignoriert oder banalisiert hat. Es ist bis jetzt sehr korrekt gelaufen. Ich habe im Juni zum KP17 – zu Bildungs- und Sparfragen – Reden gehalten, darauf wurde ich auch von anderen Parteien angesprochen.

zentralplus: Aber Ihr Gestaltungsspielraum ist im Kantonsrat gering?

Celik: Klar, in der Stadt gibt es eine Balance zwischen den Parteien, im Kanton sind wir als Linke in der Minderheit. Und sowieso dominiert momentan die Finanzfrage alles, da sprechen die Bürgerlichen je nachdem nicht mal mit uns. Das macht es schwierig, unsere Anliegen wie Umwelt, Soziales oder Bildung durchzubringen.

zentralplus: Sie haben einen beeindruckenden Weg zum Kantonsrat zurückgelegt, wie geht es weiter?

Celik: Ich bin weniger Utopist, sondern mehr Realist, und mit meinem fortgeschrittenen Alter habe ich keine grossen Erwartungen. Ich leiste einen Beitrag in der Gesellschaft. Ich finde es wichtig, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund da Platz nehmen, da haben wir heute noch ein Defizit. In der Politik wie auch in der Gesellschaft. Aber das hat mit beiden Seiten zu tun: Einerseits sind viele Parteien nicht an diesen Fragen interessiert. Andererseits ist aber leider auch die Migrationsbevölkerung bei politischen Fragen zurückhaltend.

«Wenn Medien zu meinen Vorstössen etwas wissen wollten, haben sie nicht mit mir gesprochen, sondern mit meinen Kollegen. Es kann Absicht sein oder auch nicht, aber es kommt vor.»

zentralplus: Weil sie ja auch nicht mitbestimmen können, oder?

Celik: Ja gut, Personen mit Ausländerstatus können im Kanton Luzern nicht mitbestimmen. Aber es gibt auch einen grossen Kreis, der eingebürgert ist. Es ist nicht so einfach, ernst genommen zu werden. Dazu kommt, dass Personen aus der ersten Generation wie ich sprachlich nicht ganz so eloquent auftreten … vielleicht werden sie auch deswegen weniger ernst genommen.

zentralplus: Inwiefern merken Sie das?

Celik: Ich habe in der Stadt sehr wichtige Themen in der Sozialkommission vertreten: etwa die ganze Auslagerung der Heime und Alterssiedlungen. Ich habe in fünf Jahren 53 Vorstösse gemacht, wahrscheinlich von allen am meisten. Aber wenn die Medien zu meinen Vorstössen etwas wissen wollten, haben sie nicht mit mir gesprochen, sondern mit meinen Kollegen in der Kommission oder der Fraktion. Es kann Absicht sein oder auch nicht, das kann ich nicht beurteilen, aber es kommt vor.

zentralplus: Ist das frustrierend?

Celik: Ich frage mich einfach, warum das so ist. Denn ich war es, der den Vorstoss eingereicht und vertreten hat. Warum geht man dann zu den Kollegen? Ich möchte jetzt natürlich nicht gegen meine Kollegen treten, aber es ist immer wieder passiert.

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