«Erben ist in der Schweiz ein doppeltes Tabu»
Wenn es ums Erben geht, dann wird es in vielen Familien ungemütlich. Denn ein Vermächtnis kann nicht nur heftige Konflikte auslösen, sondern auch die ganz grossen Fragen aufwerfen. Persönliche Erlebnisse mit dem oft tabuisierten Thema dienten einer Luzerner Regisseurin als Inspiration für ihr neustes Stück.
Die Wohnung ist verlassen. Es riecht im Bad noch leicht nach Rasierwasser, in der Küche riecht es nach kaltem Kaffee, doch das Radio steht stumm auf der Häkeldecke. Daneben klebt ein rosa Post-It auf dem Sekretär. Auf dem Bild an der Wand ein gelbes Post-It. Jedes Kind und Kindeskind hat eine Farbe zugeteilt bekommen und darf nun markieren, was es gerne mitnehmen möchte.
Erben. Es ist ein Thema, über welches nicht gerne gesprochen wird.
Vom Tod und vom Geld
«Nichts wollen» heisst das neuste Stück der freien Luzerner Theatergruppe «Grenzgänger», das sich genau damit beschäftigt. Inspiriert von der Familienzusammenkunft aus Tschechows Onkel Wanja entstand ein Theaterstück, das die Auswirkungen einer Erbschaft auf die Beteiligten analysiert und reflektiert.
«Wenn es ums Erben geht, kommen unangenehme Gefühle zum Vorschein.»
Bettina Glaus, Regisseurin «Nichts wollen»
Regisseurin Bettina Glaus sagt: «Das Thema Erben ist in der Schweiz ein doppeltes Tabu.» Denn über Geld spricht man nicht und den Tod lassen wir auch nicht gerne an uns heran. Deshalb werde das Thema Erben in vielen Familien so lange totgeschwiegen, bis es unvermeidbar wird. «Kaum ein anderes Ereignis rüttelt derart am Familiengefüge», so Glaus.
Hab ich das verdient?
Auch an ihrem eigenen Familiengefüge wurde gerüttelt. «Es waren persönliche Erlebnisse in den vergangenen Jahren, die in mir den Wunsch weckten, mich damit künstlerisch auseinanderzusetzen», so Glaus. Seit ein paar Jahren hätten sich in ihrem Umfeld und auch der eigenen Familie Haushaltsauflösungen gehäuft. Nachdem Menschen gestorben, in Wohnheime oder kleine Wohnung gezogen sind.
«Wenn es ums Erben geht, kommen unangenehme Gefühle zum Vorschein, die man bei sich vorher nicht erwartet hätte», so Glaus. Es geht um das Loslassen und um das Annehmen. Nicht nur der Verlust eines Menschen, auch eine Erbschaft führe zu existenziellen Fragen: «Was will ich damit – und überhaupt mit meinem Leben? Wie fair ist so eine Erbschaft überhaupt, hab ich das verdient?»
Vom Sterben und Erben
Besonders wenn der Tod eines Angehörigen unerwartet kommt, kann eine Erbschaft zu vielen Problemen führen. «Wenn unverheiratete Partner plötzlich alles verlieren, wenn kein Testament vorhanden ist oder eines, das so nicht erwartet wird.»
Ein weiterer spannender Aspekt des Themas sei die Übergabe von Familienunternehmen an die nächste Generation oder auch die gestiegene Lebenserwartung, so Glaus. So beerben heute oft 50- oder 60-jährige Kinder ihre 80- bis 90-jährigen Eltern. Die Erbschaft komme also, im Gegensatz zu früher, zu einem Zeitpunkt, in dem die Kinder finanziell bereits versorgt seien – die Enkelkinder oft schon aus dem Haus. «Es gibt eine ganze Reihe von spannenden Punkten, die beim Thema Erben verfolgungswürdig sind», so Glaus.
Auch der Bundesrat recherchiert
Autorin Esther Becker nahm für die Erarbeitung des Stücks «Nichts wollen» schliesslich auch Tschechows Onkel Wanja zur Hand und liess ihn in das Stück einfliessen. Die Geschichte einer Familienzusammenkunft, bei der sich schlussendlich alle nur auf die Füsse treten.
Stücktext: Esther Becker
Inszenierung: Bettina Glaus
Spiel: Vivien Bullert, Evelyne Gugolz, Nina Langensand, Nicole Lechmann, Manuel Löwensberg
Bühne: Barbara Pfyffer
Kostüme: Coline Jud & Medea Karnowski
Sounddesign: Giancarlo Della Chiesa
Licht/Technik: Jon Gyr
Auge von aussen: Maja Bagat
Assistenz: Vanessa Krummenacher
Produktionsleitung: Dshamilja Schurtenberger
Nicht nur die Theatertruppe, die das Erb-Stück im Südpol erarbeitet, auch der Bundesrat vertieft sich derzeit in das Erbrecht. Denn das Gesetz von 1912 soll den neuen gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens angepasst werden. 2019 sollen die technischen Details ausgearbeitet werden.
Der Bundesrat schlägt dabei vor, die Pflichtteile für Nachkommen zu senken, damit Erblasser freier über ihr Vermögen verfügen können. So können sie beispielsweise Lebenspartnerinnen und -partner stärker begünstigen. Auch die Nachfolgeregelung bei Familienunternehmen würde damit erleichtert. Eine Härtefallregelung soll zudem die faktischen Lebenspartner nach einem Todesfall vor Armut schützen.
Und die Moral von der Geschichte?
Ihr Ziel sei es, dass sich die Leute in den Figuren auf der Bühne wiedererkennen und dabei vielleicht auch über sich selber erschrecken, so Regisseurin Glaus. Sie wolle damit nicht moralisieren, sondern einfach nur Gedanken anstossen.
Die Premiere des Stücks «Nichts wollen» findet am Dienstag, 23. Oktober, im Südpol statt.
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