Ein Fotograf hinter Luzerner Theaterkulissen

Er richtet den Fokus auf die Verletzlichkeit

Der Fotograf Sylvan Müller zwischen zwei seiner liebsten Bilder. Sie stammen aus einem Projekt fürs Luzerner Theater. (Bild: jav)

Der Luzerner Sylvan Müller fotografierte alle Ensemblemitglieder des Luzerner Theaters gleich nach ihren Auftritten. Eine sehr intime und intensive Arbeit, erzählt der renommierte Fotograf im Interview mit zentral+. Und eine, die ihn einmal mehr über Macht und Astrid Lindgren nachdenken liess.

Der Applaus ist vorbei, die Schauspielerin tritt von der Bühne, Schweiss und Kunstblut rinnen an ihr herunter. Die Anspannung fällt ab, die einverleibte Rolle verschwindet langsam, das Kostüm wird abgelegt. Das ist der Moment, in welchem Sylvan Müller die Kamera auf sie richtet.

Für die letzte Spielzeit der Ära Dominique Mentha begleitete Müller alle 27 Ensemblemitglieder des Luzerner Theaters hinter den Kulissen. Jede Sängerin, jeder Schauspieler und jede Tänzerin wurde porträtiert.

zentral+: Was war die Idee des Projekts, und wie kamen Sie dazu?

Sylvan Müller: Der Auftrag kam vom Luzerner Theater. Sie wollten eine Porträt-Serie zum Thema «Abschied». Abschied vom Intendanten Dominique Mentha und damit auch von einigen Mitgliedern des Ensembles. Eine sehr freie Aufgabenstellung eigentlich. Wir entschieden uns schliesslich gemeinsam, dass ich die Darsteller unmittelbar nach ihren Auftritten fotografieren würde. Im Moment des Abschieds von einer Rolle.

zentral+: Ein Porträt aller Ensemblemitglieder – wie aufwändig war das Projekt schlussendlich?

Müller: Zeitlich sehr aufwändig, obwohl ich die Porträts alle in drei, vier Minuten machte. Aber ich verbrachte für jedes der Porträts einen ganzen Abend im Luzerner Theater. Ich traf die Künstlerinnen und Künstler am Bühneneingang, ging mit ihnen in die Maske, verbrachte die Aufführung zum grössten Teil direkt hinter der Kulisse, stand beim Schlussapplaus hinter dem Vorhang und war dabei, wenn in der Garderobe Rolle und Anspannung nach und nach abfielen. Die Idee war dabei, dass sie sich an mich gewöhnten bis zum Moment der Porträtaufnahme. Ich und die Kamera sollten verschwinden, unwichtig werden. Und das 27 Mal – verteilt auf die Zeit von Anfang Dezember 2014 bis Mitte März 2015.

zentral+: Wie viel war vorher geplant?

Müller: Kaum etwas. Erst während des Abends entschied ich mich für einen Ort, an welchem ich die Künstler fotografieren wollte, und suchte mir eine Ecke im Haus aus. Nach dem Applaus zog ich sie sofort dorthin, inszenierte minimal, richtete ganz wenige Dinge ein und gab ihnen manchmal etwas Hilfestellung. Ein Ausziehen der Schuhe zum Beispiel – ein Entfernen von Teilen des Kostüms. So fiel während diesen Momenten die Rolle von ihnen ab.

«Es sind Bilder, die eine grosse Verletzbarkeit der Künstler zeigen.»

zentral+: Wie verhielten sich die Künstler in solchen Momenten?

Müller: Die Verfassung war sehr unterschiedlich. Einige brauchten einen Moment, um sich von der Aufführung zu erholen und von der Rolle zu lösen. Andere waren sehr schnell wieder bei sich, begannen gar zu posieren. Ich habe das alles so in diesem Moment angenommen und festgehalten.

zentral+: Was war das Besondere bei dieser Arbeit?

Müller: Es hört sich vielleicht absurd an, aber ich habe mich, da ich so viel Zeit mit Warten verbrachte, vor allem mit mir selbst beschäftigt. Mehr als mit den Künstlern. Ich sass teilweise stundenlang hinter den Kulissen und habe dabei sehr wenig fotografiert. Besonders war, dass ich eine grosse Freude an den kleinen Ritualen der Darsteller bei mir entdeckte. Es hatte etwas sehr Persönliches und Intimes, solche eigene, schöne Rituale zu beobachten. Zum Beispiel wie ein Künstler sein Kostüm in sorgfältigster, fast manischer Art geübt und perfekt bereitlegte, um hinterher schnell hineinschlüpfen zu können. Ich habe das Haus hinter seinen Kulissen als sehr warmen Ort empfunden.

zentral+: Wie unterschiedlich waren die Reaktionen der Porträtierten auf die Bilder?

Müller: Es haben sich nicht alle gefallen. Es sind Bilder, die eine grosse Verletzbarkeit der Künstler zeigen. Man muss diese eigene Verletzbarkeit auch annehmen können. Bei dieser Fotografie geht es nicht um das oberflächliche Schönsein. Die Schönheit zeigt sich hier in der Verletzlichkeit. Die Schauspieler haben allgemein weniger Mühe damit, diese Seite annehmen zu können. Sie gefielen sich in dieser Situation.

zentral+: Zeigen Sie uns ein Beispiel?

Müller: Ein gutes Beispiel ist das Poträt von Wiebke Kayser.

Wiebke Kayser, Schauspielerin (Bild: Sylvan Müller)

Wiebke Kayser, Schauspielerin (Bild: Sylvan Müller)

Man sieht darin – sie war völlig am Ende. Sie hatte die Grippe und eine Doppelvorstellung hinter sich. Das war an der Grenze. Gerade zuvor wirbelte sie noch als Pippi Langstrumpf über die Bühne. In diesem kurzen Moment gleich danach, wenn die Rolle abfällt und die Erschöpfung kommt, und die eigenen Gedanken wieder, kennen sich die Darsteller selbst auch nicht von aussen. Ich glaube, das machte es für sie auch sehr spannend.

Da fällt mir ein Zitat von Astrid Lindgren dazu ein. Eines, das mich auch schon lange begleitet. Lindgren sagte: «Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.»  Und bei der Fotografie geht es oft um Geduld – um Beobachten und Wahrnehmen. Darum, auf etwas zu warten. Auf etwas, das man nicht kennt und auch nicht weiss, ob es überhaupt kommt.

zentral+: Sie sind als Fotograf sonst vor allem im kulinarischen Bereich tätig, was verbindet solche Projekte mit diesem?

Müller: Tatsächlich habe ich mit 16 Jahren mit der Theaterfotografie angefangen. Ich hatte damals vor lauter Fotografie auch keine Zeit mehr für die Schule und habe dann die Kanti abgebrochen. Danach war ich zwanzig Jahre in der Werbefotografie tätig – vor allem dadurch werde ich mittlerweile als Kulinarik-Fotograf wahrgenommen. Mir geht es aber auch bei den kulinarischen Themen immer um die Geschichten dahinter, die Menschen. Es sind immer sehr viele Porträts dabei. Reine Kochbücher sind es eigentlich nie.

«Ich gehe zwar weit für Bilder, aber nie so weit, dass ich die Macht missbrauche und Leute blossstelle.»

zentral+: Und wie kamen Sie dazu, Geschichten über Kulinarik zu vermitteln?

Müller: Durch das Reisen: Wenn man in fremden Kulturen unterwegs ist, spricht man über gewisse Themen weniger gerne: Politik oder Religion sind beispielsweise oft heikel. Übers Wetter und das Essen hingegen kann man immer sprechen. Nur ist das Wetter langweilig. Aber über das Thema Essen wird man schnell privat oder auch politisch. Es ist eine gute Art, um Geschichten zu transportieren. Man muss natürlich auch sagen: Kulinarische Bücher verkaufen sich.

Aber ich bin immer auch gleichzeitig an Langzeitprojekten dran. Eines dauert zum Beispiel jetzt schon sechs Jahre. Es handelt sich um Porträts, die ich von schlafenden Menschen mache. Ein sehr spannendes Projekt. Denn im Schlaf hat der Porträtierte keine Möglichkeit, Einfluss auf das Bild zu nehmen. Und es braucht grosses Vertrauen. Ich warte, bis die Person schläft, und fotografiere sie dann. Dabei geht es auch um die Frage der Macht. Ich gehe zwar weit für gewisse Bilder, aber nie so weit, dass ich die Macht missbrauche und Leute blossstelle. Das ist oft ein schmaler Grad. Auch bei dem Projekt im Luzerner Theater.

Sylvan Müller

Sylvan Müller (*1973 in Luzern) schloss 1994 die Ausbildung zum Fachfotografen ab. Er realisierte zahlreiche grosse Reportagen, unter anderem in Tschernobyl, der DDR, Äthiopien, Japan und Istanbul. 1996 gründete er mit zwei Freunden und seinem Bruder «fabrik studios», deren Mitinhaber er bis 2011 war. Sie machten sich vornehmlich mit ihren Still-Life- und Foodaufnahmen einen Namen und arbeiten mit Studios in New York und der Schweiz. 2011 wurde «fabrik studios» aufgelöst.

Sylvan Müller arbeitet seit dieser Zeit fast ausschliesslich an Langzeitprojekten. Bekannt wurde er mit seinen kulinarischen Arbeiten, die in mehreren, international ausgezeichneten Büchern zu bewundern sind. Er lebt und arbeitet in Luzern.

zentral+: Dort entstanden neben den Porträts auch andere Bilder aus dem Theaterbetrieb.

Müller: Die Reportage hinter den Kulissen ist spontan enstanden. Sie ist eigentlich ein Kollateralschaden der Porträts. Aber sie gibt ihnen gleichzeitig noch mehr Kraft. Es ist jedoch nur ein kleiner Teil, der es davon in die Ausstellung geschafft hat. Und es finden sich auch nicht alle der Porträts im Spielzeit-Heft, da einige der Darsteller vom letzten Winter bereits diesen Sommer an ein anderes Haus weiterzogen – wie Juliane Lang beispielsweise, deren Bild ich auch sehr mag.

zentral+: Was geschieht mit den Bildern aus der Ausstellung und denen, die es nicht in die Ausstellung geschafft haben?

Müller: Die Bilder kommen nach der Ausstellung, die noch bis zum 5. Dezember dauert, ins Luzerner Theater. Die anderen verschwinden mit der Zeit irgendwo im Daten-Nirwana. Wie gewisse Bilder aus dem Kopf verschwinden, so tun sie es schliesslich auch im digitalen Gedächtnis. Früher lagen sie unter Bergen von Negativen, heute zuhauf auf externen Festplatten, und irgendwann verschwinden sie ganz. Das ist auch gut so. Wegwerfen ist super.

(Bild: Sylvan Müller)

(Bild: Sylvan Müller)

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