Carl Spitteler gab Quai seinen Namen – und sonst?

Einst berühmter Luzerner gerät immer mehr in Vergessenheit

Carl Spitteler als Dandy und Student: Der Intellektuelle (1845–1924) lebte in der Bruchstrasse unter Bauern und Handwerkern.

(Bild: Nachlass Carl Spitteler, zvg)

Der Quai ist nach ihm benannt, es gibt eine Carl-Spitteler-Stiftung und er war neben Hermann Hesse der einzige Literatur-Nobelpreisträger der Schweiz. Der Dichter und Ehrenbürger der Stadt Luzern hatte reich geheiratet, er wetterte gegen Krieg und Waffen. Doch wer war der heute fast vergessene Carl Spitteler, der seine Heimat vielerorts prägte?

2016 erhielt Bob Dylan den Nobelpreis, ein Rockmusiker und Revoluzzer vor dem Herrn. Ein solcher war auch Carl Spitteler (1845–1924): Mit 19 zog er weg von Liestal (BL), wo er aufgewachsen war, aber unter psychischen Problemen litt. Er entschied sich für einen Bleibe bei Bekannten in Luzern, wo der reformierte Pfarrer als Journalist im Feuilleton für verschiedenen Zeitungen und später als Lehrer arbeitete. Er lebte gerne unter Bauern in der Bruchstrasse und war Stammgast im Restaurant Schützengarten. Nach seinem Tod liess er sich als erster Luzerner kremieren, denn Katholiken unserer Stadt war das offiziell erst 1964 erlaubt.

Ehrengrab und Quainame

Nach dem Tod von Carl Spitteler 1924 ehrte die Stadt Luzern den Dichter und Pionier nicht nur mit einem Ehrengrab, sondern auch mit einem nach ihm benannten Quaiabschnitt am Seeufer zwischen dem Hotel Palace und der Hausermatte. Seine Grabstätte zerfiel über die Jahre – die Inschrift war nicht mehr leserlich. So haben sich die Carl-Spitteler-Stiftung und die Stadt vor ein paar Jahren entschlossen, das Grab zu restaurieren. Eine Stiftung in der Stadt erhält sein literarisches Erbe und Ansehen (siehe Box).

Carl Spitteler am Wochenmarkt: Er war nah an den Leuten und für die politische Neutralität.

Carl Spitteler am Wochenmarkt: Er war nah an den Leuten und für die politische Neutralität.

(Bild: Nachlass Carl Spitteler, zvg)

Von dessen Erbe ist Urs Bugmann (67), langjähriger Kulturjournalist («LNN» und «Luzerner Zeitung») und Präsident der IG Kultur Luzern, nicht rundum überzeugt: «Ohne unseren Quai wüsste wohl keiner in der Stadt von ihm. Sein Werk hat nichts Zeitloses: Es ist im Jugendstil verhaftet, Spitteler liebte Ornamente und Verzierungen.» Immerhin attestiert Bugmann, der auch über Zentralschweizer Literaturförderung mitentschied, Spitteler «Geschmeidigkeit im Reim und Sprachkraft».

«Spitteler hat sein wirkliches Leben in Sprache und Dichtung gefeiert.»

Urs Bugmann, Präsident der IG Kultur

Urs Bugmann, der in den 1960er-Jahren in der Primarschule noch Spittelers Kindheitsgeschichte «Die Mädchenfeinde» lesen musste und als Gymeler «Olympischer Frühling» als Privatvergnügen verschlingen wollte, ist beeindruckt von der Fülle Spittelers Arbeit: «Aufgrund seiner Heirat mit der reichen Holländerin Marie Op den Hooff konnte er sich voll der Muse widmen. Spitteler hat sein wirkliches Leben in Sprache und Dichtung verklärt.»

Auch wenn der Poet Spitteler am Markt einkaufte und sich Früchte sowie Gemüse von der Magd nach Hause tragen liess, war sein Leben nicht nur ein Fest. Carl Spitteler dichtete auch ganz schön sarkastisch: «Wir leben mithin politisch im Dunkeln, bestenfalls im Halbdunkel. In Kriegszeiten, wo wir Gefahr wittern, ­befinden wir uns in der Lage des Bauern, der im Walde ein Wildschwein grunzen hört, ohne zu wissen, kommt es, wann kommt es, und woher kommt es.» Oder: «Der Hass hat keine Bedenken und die Waffe kein Gewissen.»

1914 Rede zur Lage der Nation

Am meisten Aufsehen machte Spitteler 1914 mit seiner kontrovers diskutierten Rede «Unser Schweizer Standpunkt» zur Lage der Nation im Ersten Weltkrieg: Sein literarisches Werk ist so gut wie vergessen, die Kampfrede zur Neutralität nicht (die Rede und auserwählte Schriften gibt es hier). Der Hintergrund: Spitteler sah Europa am Abgrund. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs drohte die Schweiz auseinanderzufallen. Die Deutschschweiz hielt es mit den Deutschen, die Westschweiz sympathisierte mit Frankreich.

Ehre in Luzern: zwei Statuen mit Jünglingen und Pferden sind Carl Spitteler gewidmet.

Ehre in Luzern: Zwei Statuen mit Jünglingen und Pferden sind Carl Spitteler gewidmet.

(Bild: hae)

Die Neue Helvetische Gesellschaft, damals gegründet, um innerhelvetische Gräben zu überwinden, lud Carl Spitteler auf den 14. Dezember 1914 als Redner nach Zürich ein. Der Schriftsteller Spitteler nahm an – und hielt eine fulminante Rede auf staatsmännischem Niveau. «Unser Schweizer Standpunkt» ist ein Plädoyer für die Neutralität der Schweiz und ihre Einheit.

Plädoyer für Neutralität

Damals wurde spekuliert, dass Carl Spitteler später den Nobelpreis nur bekam, weil er nach dem Krieg als neutraler Schweizer die politisch unverfänglichste Wahl war. Indes gilt es zu bedenken, dass es just dieser Spitteler war, der durch seine Rede geholfen hatte, eben diese Neutralität zu wahren – gegen viele Widerstände.

Mit seinem Plädoyer zur Neutralität machte er sich aber nicht einmal im Nobelpreiskomitee Freunde: Schon 1915 sollte Spitteler den Preis bekommen – wurde damals aber noch abgelehnt. Für Deutschland und Österreich war die Rede von 1914 ein Affront. Schliesslich erhielt der Dichter den Literatur-Nobelpreis dann doch noch, 1919 als erster Schweizer – 1946 sollte ihm der deutschstämmige Schweizer Hermann Hesse folgen.

100 Jahre nach dem Gewinn des Literatur-Nobelpreises stehen schweizweit Anlässe an. Viel Prominenz ist in der Trägerschaft: Bundesrat Alain Berset oder Ex-Fernsehchef Roger de Weck, Anerkennung gibt es auch aus berufenem Munde. Der Luzerner Peter von Matt, langjähriger Literaturprofessor an der Uni Zürich, sagt: «Spitteler schlug immer eigene Wege ein, in der Welt und in der Kunst. Er riskierte das Unvertraute und lachte, wenn man ihn ablehnte. Unter den Schriftstellern ist er ein Viertausender wie das Weisshorn oder die Dufourspitze. Was diese von unseren Beinen fordern, verlangt er von unseren Köpfen.»

Ehre am See von Luzern: der Quai zwischen Palace und Hausermatte ist Carl Spitteler gewidmet.

Ehre am See von Luzern: Der Quai zwischen Palace und Hausermatte ist Carl Spitteler gewidmet.

(Bild: hae)

Auch Stadtpräsident Beat Züsli ist voll des Lobes: «Der nach ihm benannte Quaiabschnitt gehört zu den schönsten Flanierzonen Luzerns. Ich freue mich, wird das vergessene Erbe wieder in Erinnerung gerufen.»

«Spittelers Texte sind ‹Leuchtschiffe› auf dem Vierwaldstättersee, sind Literatur der Welt.»

Stefan Graber, Präsident der Spitteler-Stiftung

Oder Stefan Graber, Prorektor der Kanti Luzern und Präsident der Spitteler-Stiftung Luzern: «Spittelers Texte sind ‹Leuchtschiffe› auf dem Vierwaldstättersee, sind Literatur der Welt, Literatur mit Untergrund, Literatur, die sich bekennt, sperrig und geschmeidig, unabhängig und eigenständig, befreiend im Schönen. Das macht sie noch heute auch für die Schule lesenswert.»

Carl Spitteler war der Erste, der sich 1924 in Luzern kremieren liess: Grab im Friedental.

Carl Spitteler war der Erste, der sich 1924 in Luzern kremieren liess: Grab im Friedental.

(Bild: zvg)

Carl Spitteler schrieb aber nicht nur übers Vaterland, sondern auch über die Liebe: «Kein Schicksal ist auf Erden noch so graus / die Liebe schöpft ein Körnchen Glück daraus.»

«Jeder Staat raubt, so viel er kann.»

Carl Spitteler

Spitz war Spittelers Feder auch über korrupte Politiker: «Jeder Staat raubt, so viel er kann.» Pessimismus trieb ihn um: «Das Menschengeschlecht von heute: Es ist kein Mannesmark, es ist ein Teig / mit Fäusten tapfer, an Charakter feig. / Es fehlt der Mut, der im Gewissen sitzt / der freie Geist, der frisch die Wahrheit blitzt.»

Mut zur Bescheidenheit

Immerhin wusste Spitteler auch immer Rat aus dem irdischen Jammertal, so etwa diesen in seiner viel zitierten Rede von 1914: «Zum Schluss eine Verhaltungsregel, die gegenüber sämtlichen fremden Mächten gleichmässig Anwendung findet: die Bescheidenheit. Mit der Bescheidenheit statten wir den Grossmächten den Höflichkeitsdank dafür ab, dass sie uns von ihren blutigen Händeln dispensieren. Mit der Bescheidenheit zollen wir dem todwunden Europa den Tribut, der dem Schmerz gebührt: die Ehrerbietung.»

Spitteler-Archiv im Am-Rhyn-Haus

Auf Initiative des ehemaligen Stadtpräsidenten von Luzern, Hans Rudolf Meyer, wurde 1974, als der 50. Todestag von Carl Spitteler gefeiert wurde, eine Stiftung gegründet – mit dem Ziel, das Andenken an Carl Spitteler zu wahren und sein Werk zu pflegen. Als die letzte Vertreterin der Familie Am Rhyn starb, konnte 1978 im umfassend renovierten Am-Rhyn-Haus, Ecke Kornmarkt/Furrengasse in Luzern, im ersten Stock des Hinterhauses ein Zimmer als Spitteler-Archiv eingerichtet werden.

Neben Fotografien aus verschiedenen Zeitabschnitten, Originalmanuskripten und Briefen sind auch verschiedene Faksimiles (darunter die Nobelpreis-Urkunde), Porträts und zahlreiche Erstausgaben ausgestellt. Auch werden eine umfangreiche Sekundärliteratur und verschiedene Urkunden und Dokumente aufbewahrt. Wegen Umbauten ist das Archiv derzeit aber geschlossen. Die Stiftung selbst hat zur Aufgabe, das Werk Carl Spittelers nach Möglichkeit zu fördern. – Anlässe und Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr 2019 finden sich hier.

 

Feingeist mit Rauschbart: Carl Spitteler.

Feingeist mit Rauschbart: Carl Spitteler.

(Bild: Nachlass Carl Spitteler, zvg)

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