OM: Luzerner Pioniere in der Jazzkantine

Eine ganze Stunde Freejazz – und trotzdem ist das Haus ausverkauft

Die Band erschafft auch über 40 Jahre nach ihrer Gründung noch energiegeladene Klangwelten auf der Bühne.

Das Publikum staunte. Das Quartett OM faszinierte am Donnerstag eine volle Jazzkantine. Mit altem Spirit sowie dem Einsatz von elektronischem Equipment war der Event eine Achterbahnfahrt diverser Stimmungen, Grooves und Klangnuancen. Und eine Lektion in «Interplay».

Am Donnerstagabend war die Jazzkantine bereits um 20.15 Uhr bis auf den letzten Platz belegt. Im Freejazz ein seltenes Phänomen, das sich im Jazzkeller der Jazzkantine an der Grabenstrasse 8 in der Luzerner Altstadt abspielte. Vielleicht eine Rarität im Vorkommen, doch keineswegs ein Zufall. Die vier renommierten Musiker von OM präsentierten erneut einen Eindruck ihres Konzepts der neuen Improvisationsmusik.

Das lässt man sich nicht zweimal sagen. Im Publikum befanden sich verschiedenste Leute: Ob im gemütlichen Freundeskreis eine Flasche Merlot getrunken wurde, langjährige gespannte Kenner der Free-Jazz-Szene oder Studenten der Musikhochschule Luzern hatten alle das gleiche Ziel: in eine andere Welt einzutauchen.

Energie als Leitmotiv

Kaum jemand hatte einen derartigen Einstieg in das Konzert erwartet, geschweige denn gefasst. Man wurde regelrecht überrumpelt, als das Kollektiv der Band mit wirren, lauten und ausdrucksstarken Einwürfen in die Klangwelt einstieg.

Man wurde regelrecht überrumpelt, als das Kollektiv der Band mit wirren, lauten und ausdrucksstarken Einwürfen in die Klangwelt einstieg.

Energie wurde mit unterschiedlichen Mitteln erzeugt. Nicht nur die elektrische Gitarre, sondern auch der Kontrabass wurde elektronisch verstärkt und mit einer riesigen Bandbreite an Effektgeräten ausgestattet. Ob Ringmodulator, Delays, einzelne Halleffekte für das Saxophon oder externe Klangsynthese für den Kontrabass – alles war im Werkzeugkasten von Urs Leimgruber (Saxophone), Christy Doran (Gitarre), Bobby Burri (Kontrabass) und Fredy Studer (Schlagzeug).

Das Erlebnis dieses Abends bestand aus einem einzigen Stück, in dem verschiedene Teile und Eindrücke aneinandergereiht waren. Das Konzert dauerte ca. 1 Stunde und war ein wahres Feuerwerk an Energie. Wenn man einen Blick ins Publikum wagte, kam einem nicht ohne Grund das Wort Achtsamkeit in den Sinn.

Auch musste man sich zwischendurch am Stuhl festhalten, um die Achterbahn der Emotionen zu überstehen: Melancholie, Wut, Entsetzen, aber auch Freude und Begeisterung für das Detail. Sehr kreativ wurde mit der Dynamik umgegangen. Es gab klar getrennte Teile und Phrasen, die ebenfalls durch den spielerischen Umgang mit der Dynamik ihre Ausdruckskraft erhielten. Alle diese Merkmale trugen zu einer komplett eigenen Klangästhetik bei.

Interplay und die Kunst der Bipolarität

Unter «Interplay» wird das interne Zusammenspiel und die Interaktion der Musiker untereinander verstanden. Man reagiert also auf jedes noch so kleine Detail des Bandmitglieds und versucht seinen musikalischen Beitrag mit diesem in Relation zu setzen. Die Königsdisziplin der improvisierten Musik und absolutes Spezialgebiet von OM.

Interplay ist die Königsdisziplin der improvisierten Musik und absolutes Spezialgebiet von OM.

Einen wahrscheinlichen Erklärungsansatz dessen finden wir im Background der einzelnen Künstler: Die Band wurde von den vier professionellen Musikern im Jahre 1972 unter dem vorläufigen Namen «Superflex» gegründet, bevor sie dann ihren endgültigen, aktuellen Namen von einer John-Coltrane-Platte übernahmen.

Sie experimentierten ganze zehn Jahre lang an ihrem Sound und spielten unzählige Konzerte. Unter anderem auch am achten Montreux International Jazzfestival im Jahre 1975.

Die Mitglieder entschieden sich 1982 für eine Auflösung der Band, bis sie dann 2006 anlässlich einer Ausstellung des Naturmuseums über die 1960er- und 1970er-Jahre wieder den Draht zueinander fanden. Seither fliessen alle ihre gemachten Erfahrungen als Profimusiker in diversen Bands in dieses Kollektiv ein und formen nachhaltig die Klangästhetik des «Electric Jazz/Free Music».

Bewundernswert war ebenfalls der Aspekt der Bipolarität. Die Ambivalenz der einzelnen Ausdrucks- bzw. Spielweisen trugen zu einem akuten Spannungsfeld bei. Dieses Phänomen tritt zum Beispiel dann auf, wenn Chisty Doran mit der Gitarre ein sehr hektisches und lautstarkes Element in das Stück einbringt, im Gegensatz dazu aber Urs Leimgruber am Tenorsaxophon einen lyrischen und nachdenklichen Klang produziert. So wurde zum Teil bewusst mit vier Polen und unterschiedlichen Spielweisen gearbeitet.

«Alle Genüsse sind schliesslich Einbildung, und wer die grösste Fantasie hat, hat den grössten Genuss.»

Dieses Zitat von Theodor Fontane spricht in diesem Kontext ein präsentes Thema an. Die Welt der reinen Improvisationsmusik lebt von Einbildung und Fantasie der Künstler. «Instant Composing» als Leitkonzept und Dogma dieser Kunstpraktik. Dieser Aspekt fasziniert die Musiker. Keine vorgesetzten Formen, Strukturen, Harmonien und Melodien. Absolute Freiheit. Natürlich ist dieses Kunstkonzept keine Neuheit mehr. 

Seit Ornette Coleman im Jahre 1960 mit seinem Doppelquartett die Platte «Free-Jazz» aufnahm, wurde die Entwicklung der gleichnamigen Szene in der USA sowie in Europa etabliert. Stilistische Merkmale dieser Klangkunst finden wir zum Beispiel in einem freien Umgang mit der Rhythmik. Ebenso die Aufhebung mit dem strikten Trennen von Klang und Geräusch ist omnipräsent.

Christy Doran- frei an der elektrischen Gitarre.

Christy Doran – frei an der elektrischen Gitarre.

(Bild: Emanuel Wildeisen)

Zudem wird die gängige Vorstellung von einer absoluten harmonischen Tonalität über Bord geworfen. Free-Jazz-Gruppen wie OM bedienen sich einer Verwendung von seriellen Tonreihen und praktizieren eine freie Atonalität. Natürlich gibt es somit auch keine Trennung zwischen Solo und Begleitpart. Die Musiker kommunizieren also wortwörtlich in einem absolut freien Kontext und interagieren rein intuitiv auf das gerade Passierte.

Ungewöhnliche Spielweisen

Es wurde mit allen Arten von Spieltechniken experimentiert: einem Streicherbogen für die elektrische Gitarre sowie für einzelne Cymbals von Fredy Studer oder einem Stück Bambusholz, mit dem Bobby Burri seinen Kontrabass perkussiv bearbeitete.

Verschiedene Atmungs- und Blastechniken von Urs Leimgruber liessen ein ungewöhnlich grosses Spektrum an Klangvariationen zu. Weitere Klangressourcen wurden von Studer mit unterschiedlichen Schlagzeugstöcken, Klangschalen, die er ebenfalls für sein freies Spiel verwendete, sowie einer breiten und warmen Bassdrum gewährleistet. Gekoppelt wurden diese ungewöhnlichen akustischen Spieltechniken mit dem Einsatz von elektronischen Effektgeräten und analogen sowie digitalen Synthesizern.

Diese von der Band genutzten Möglichkeiten und Vorstellungen, mit welchen Varianten sie eine Klangwelt angehen, liessen keinen spartanischen Umgang mit dem Equipment zu. Für den Sound, also die interne Organisation, Mikrophonierung sowie Aufstellung und Abmischung der einzelnen Instrumente, war Steffen Peters von der Hochschule Luzern an diesem Abend zuständig. Dessen sorgfältige Planung war unverzichtbar und wurde mit einer ausgezeichneten Balance des Klangs in dem kleinen Keller belohnt.

Nachhaltig nachdenklich

Die Reaktionen der Zuschauer nach dem Konzert waren zu einem grossen Teil dieselben. Man entnahm einzelnen Gesprächen immer das gleiche Hauptthema: Free-Jazz und die Bedeutung, ja sogar Bewertung dieser Art von Kunst. Sicherlich ein spannendes Debattierfeld. Was die einen als Kunst verstehen, sehen die anderen als bedeutungsloses Gedudel an.

Was die einen als Kunst verstehen, sehen die anderen als bedeutungsloses Gedudel an.

So auch Stellungnahmen vereinzelter Besucher im Publikum. Was ist denn eigentlich diese Kunst? In einem Interview der «NZZ am Sonntag» mit dem New Yorker Konzeptkünstler Lawrence Weiner in der Ausgabe vom 13. November 2016 stellten die Redaktoren dem Gewinner des renommierten Roswitha-Haftmann-Preises die Frage, was denn ein guter Künstler sei. Dieser wiederum zitierte Duke Ellington: «Das ist jemand, der jeden Tag übt.» Dies sei eine sehr schöne Erklärung. Ein Künstler zu sein, hiesse nicht unbedingt, dass man virtuos und gut spielt, vielmehr, dass man ehrlich ist.

Die Musiker von OM sind ehrlich. Der Abend hinterliess also nicht nur einen Ohrenschmaus, sondern trug auch aktiv dazu bei, in sich zu kehren und sich der Bedeutung dieser zelebrierten Aussage gewahr zu werden.

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