Luzerner versteht Diäten als Lebenskunst

Ein Plädoyer für die Diät – aber nicht des Körperkults wegen

«Es ist wie ein Seiltanz, der zwar viel Technik braucht, aber trotzdem eine Kunst bleibt», sagt Tobias Brücker über Diäten.

(Bild: ida)

Der Sommer naht, in Badehose und Bikini präsentieren wir unsere Körper. Zeit, eine Diät einzuläuten? Der Luzerner Kulturhistoriker Tobias Brücker sagt Ja – aber nicht wegen des Dünnwerdens.

Vielen wird es beim Gang auf die Waage oder beim Blick in den Spiegel bereits die ersten Sorgenfalten ins Gesicht getrieben haben. Der Sommer steht an, Luzerner Badeanstalten öffnen ihre Pforten – die Hüllen fallen.

Ein Wettkampf gegen die Zeit kündet sich an, viele eifern der «perfekten Bikinifigur» entgegen. Trainieren, den Cocktail durch den Proteinshake ersetzen und den Startschuss für eine Diät abgeben heisst es nun. Der Bierbauch soll schwinden – der Bizeps und der Sixpack sich dehnen. Doch der Kampf gegen die angefressenen Kalorien ist kein einfacher – und steht oftmals in der Kritik.

«Im 18. und 19. Jahrhundert waren Diäten und Kuren nicht so negativ assoziiert, wie sie das heute vielfach sind», erklärt der Luzerner Kulturwissenschaftler Tobias Brücker. Er ist Fachstudienberater an der Universität Luzern. In seiner Dissertation, in der er sich mit Friedrich Nietzsches Sommerkur in St. Moritz auseinandergesetzt hat, ist ihm aufgefallen, dass viele berühmte Menschen wie Immanuel Kant, Richard Wagner und Jean-Jacques Rousseau sich verschiedensten Diäten und Kuren unterzogen haben – und dies offensichtlich genossen.

Eine Diät für den Geist

Diät sei eine Lebenskunst, wie Tobias Brücker erklärt. Eine Kunst, weil sie den richtigen Umgang damit erfordere: «Diäten brauchen ein Mittelmass. Man darf weder unter- noch übertreiben.»

Brücker stellt zum Verständnis von Diäten im Vergleich von damals zu heute einige Unterschiede fest: «Im 18. und 19. Jahrhundert hat man nicht primär Kur oder Diät gemacht, um abzunehmen.» Vom griechischen «díaita» abgeleitet, was so viel wie «Lebensweise» heisst, wurden Diäten nie nur aufs Essen bezogen.

Die zumeist privilegierte Gesellschaft wollte ihr Leben dadurch verlängern und sich selbst eine Tagesstruktur geben. Psychologische Vorteile, die aus einer Diät resultierten und heute weitgehend unbeachtet bleiben, wurden damals bewusster wahrgenommen. Nietzsche meinte, dass er am besten philosophieren könne, wenn er spaziere.

«Lüste und Begierden sind zügellos, nicht planbar und missachten gesundheitliche Aspekte des Menschen.»

Tobias Brücker, Luzerner Kulturwissenschaftler

Diäten heute seien vielfach oberflächlich und auf einen einzigen Zweck gerichtet: schlanker werden. «Wir unterziehen uns einer Diät, um gesellschaftlichen Schönheitsidealen zu entsprechen», sagt Brücker. Dass eine Diät nicht nur dem Körper, sondern auch dem Geist helfen kann, sei den meisten nicht bewusst, weshalb viele eine Diät verurteilen.

Publikation geplant

Tobias Brückers Dissertationsprojekt trägt den Titel «Der Weg zu Autorschaft und Text bei Friedrich Nietzsches Wanderer und sein Schatten». Die Buchpublikation ist in Planung und soll im Frühjahr 2019 im Wilhelm Fink Verlag in der Reihe «Zur Genealogie des Schreibens» erscheinen.

Die (versteckten) Vorteile einer Diät

Nietzsche und Co. seien sich der «wohltuenden Nebeneffekte», die eine Diät mit sich bringt, durchaus bewusst gewesen, wie Tobias Brücker erklärt. Und diese würden auch heute noch gelten: «Wenn ich eine Diät mache, kann ich mein eigener Chef und mein eigener Arzt sein.» Indem man für sich selbst entscheidet und befiehlt, dass es heute beispielsweise keine Naschereien gebe, spüre man eine Art Macht über die eigene Person.

Es tue gut, Reize und Lüste zu kontrollieren und diese gezielt abzulehnen. Auch, den eigenen Körper nach einem vorgegebenen Schönheitsideal mithilfe von Diäten zu modellieren, den eigenen Körper so zu «shapen», wie man es gern haben möchte. Zudem könne man in die Rolle des Arztes schlüpfen, sich selbst Dinge verschreiben. «Dann sage ich mir: ‹Heute darf ich ein Täfeli Schoggi essen.›»

«Ein ausgeglichenes Leben gilt heutzutage in der Gesellschaft als viel cooler als ein massloses.»

Tobias Brücker

Ein geregelter Alltag, in dem man seine Bedürfnisse und Triebe unter Kontrolle hat und beispielsweise süssen Verführungen und Alkohol widerstehen kann, gelte als zufriedenstellender: «Ein ausgeglichenes Leben gilt heutzutage in der Gesellschaft als viel cooler als ein massloses, in dem man hin- und hergerissen ist von den Lüsten und man von einem schlechten Gewissen geplagt wird.»

Lüste auszuleben, mache aber Spass: «Lüste und Begierden sind zügellos, nicht planbar und missachten gesundheitliche Aspekte des Menschen», sagt Brücker.

Stellt man sich eine Diät zusammen, bringe man Ordnung ins Leben. Jedes Menü – morgens, mittags, abends – wird sorgfältig kreiert und nach genausten Kalorienangaben zusammengestellt. So befinde man sich «in einem Programm», wie Brücker meint. Und sich sein Leben einzuteilen, bedeute für viele Leute Wohlbefinden.

Purer Egoismus?

Neben diesen Vorteilen dürfen die Gefahren keineswegs ausgeblendet werden. Diäten greifen in den Alltag ein. Deshalb gäbe es immer wieder Situationen, in denen man aus diesem Rhythmus geworfen werde. Will man sein Leben minutiös planen, erlaubtes und unerlaubtes Essen abgrenzen, werde man unflexibel.

Gerade bei einem Rendezvous könne das schnell problematisch werden: Minutenlang wird über das richtige Restaurant gestritten, in die Essenskarte gestarrt und die Servicemitarbeiterin mit Fragen durchlöchert. Ein Date zum Vergessen.

«Zu dem Zeitpunkt, wo eine Diät ins soziale Umfeld eingreift, zeigt sich die selbstbezogene Haltung dahinter.»

Tobias Brücker

Familie, Partner oder Freunde würden sich vielfach vor den Kopf gestossen fühlen, meint Brücker. Klar, eine Diät dreht sich hauptsächlich um die eigene Person. Doch wenn man mit dem Finger auf andere zeigt und die Kalorienanzahl des Snickers-Riegels nennt, in den der Arbeitskollege gerade herzhaft reinbeisst, werde man vermutlich schnell als nervender Besserwisser abgestempelt.

Oder dann, wenn sich die beste Freundin an der Geburtstagsfeier ihrer Kollegin weigert, mit Champagner anzustossen. «Zu dem Zeitpunkt, wo eine Diät ins soziale Umfeld eingreift, zeigt sich die selbstbezogene Haltung dahinter.»

Zwischen Selbstoptimierung und Gesundheitswahn

Diäten sowie ein regelmässiger Gang zum Fitnesscenter, in Brückers Augen ein «Diätanbieter», kann zur Erschöpfung führen. Eine Diät benötigt Konzentration und Kontrolle, erfordert Kraft. Auch bestehe die Gefahr, dass man weitere Diäten und Tagesstrukturen heranziehe, wenn man sich abgekämpft fühle. Beispielsweise praktiziert man dann Yoga, um Kraft sammeln zu können. Handkehrum steht man dann früher auf und hat weniger Schlaf, wird folglich wieder müder – ein Teufelskreis.

«Wenn man abhängig und versklavt ist von den selbst auferlegten Regeln einer Diät, dann droht der Wahn.»

Tobias Brücker

Und das Paradoxe einer Diät: Gerade im Vorsatz, das Leben zu mässigen und Lüste kontrollieren zu wollen, lauere die Unmässigkeit. «Wenn man abhängig oder gar versklavt ist von den Lüsten, ist man zügellos. Wenn man abhängig und versklavt ist von den selbst auferlegten Regeln einer Diät, dann droht der Wahn.»

Denn wie kann man vermeiden, dass man eine Diät nicht übertreibt und im Exzess landet? «Es ist wie ein Seiltanz», meint Brücker. «Der zwar viel Technik braucht, und trotzdem eine Kunst bleibt.»

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