Was macht eigentlich der Ex-«Mister Tagesschau»?

«Ein Konzert von Heiri Müller – das ist für viele absurd»

«Ich habe heute ein grösseres Qualitätsbewusstsein»: der Sänger Heinrich Müller.

(Bild: zvg)

Heinrich Müller, im Kanton Luzern geboren und langjähriges Gesicht der «Tagesschau», ist mit einem neuen Album am Start. Wieso er die Bühne der TV-Kamera vorzieht, warum er aber keine «Frontgeilheit» kennt – und wieso Musik ein besseres Sackgeld bleibt.

Da sitzt ein alter Bekannter gegenüber, auch die Stimme klingt vertraut. Heinrich «Heiri» Müller flimmert zwar schon seit 10 Jahren nicht mehr um 19.30 Uhr in die helvetischen Stuben, aber der gebürtige Luzerner ist und bleibt für viele der «Mr. Tagesschau».

Müller ist ein überaus interessierter Zeitgenosse, man merkt ihm die 70 Jahre nicht an. Er fragt das Gegenüber nach seinen Plänen, über das Medium und Politik. Kaum ist das Tonband aus, geht das Gespräch weiter, die Themen diesmal: die Wahlen in Frankreich, Europa am Straucheln und der heutige Journalismus. Heinrich Müller gibt zu, dass er gerne politische Songs schreiben würde – dies aber bis heute nicht geschafft hat.

zentralplus: Können Sie den Satz vervollständigen: «Solange ich singen kann …

Heinrich Müller: … geht es mir gut.»

zentralplus: So einfach?

Müller: So einfach ist es. Im aktuellen Titelstück «As Long as I Can Sing» heisst es aber nur «okay». Man darf also nicht zu viel erwarten. Okay ist okay, damit kann man gut leben, gerade, wenn man älter wird. Es wird schwieriger, zufrieden zu sein, und der Körper macht nicht mehr alles mit. «The Power of life slowly slips away.» Aber ich kann noch singen und fühle mich gerade deswegen gut.

zentralplus: Ihr fünftes Album ist in den Startlöchern, wo stehen Sie als Musiker?

Müller: Ich bin ziemlich verankert, ich werde als «renommierter Musiker» vorgestellt, was mich etwas überrascht. Ich selber setze mir keine Ziele. Ich mache einfach gerne Musik und stecke sehr viel Arbeit in meine Musikprojekte.

zentralplus: Was hat sich verändert?

Müller: Dass ich mich entwickelt habe, merke ich jeweils erst, wenn das Album fertig ist. Ich habe heute ein grösseres Qualitätsbewusstsein, ich singe klarer und sauberer. Ich nehme mir auch mehr Zeit für den Gesang, das ist mir das Wichtigste.

zentralplus: Sie haben eineinhalb Jahre an «As Long as I Can Sing» gearbeitet, länger als an den Vorgänger-Alben?

Müller: Nur wenig länger, ich finde das nicht viel. Bis man Ideen hat, die Texte geschrieben und Melodien herausgetüftelt, braucht es viel Energie. Man muss Lust entwickeln und immer ans Projekt glauben – auch das ist eine Kunst. Und zwischendurch muss man auch immer wieder Abstand gewinnen.

Musik hält mich auf Trab: Heinrich Müller ist fast 71.

Musik hält mich auf Trab: Heinrich Müller ist fast 71.

(Bild: jwy)

zentralplus: Das erste Album 2004 hatten sie sogar noch in den USA eingespielt.

Müller: Das war verrückt: Meine allerersten Lieder waren fertig, ich kam zu diesen tollen Musikern nach Nashville und wir hatten vom ersten bis zum letzten Ton gerade mal drei Tage Zeit. Dann musste ich wieder zurück nach Zürich, um zu moderieren. Es gab einfach niemanden, der damals für mich einspringen konnte. Die folgenden Alben haben wir bewusst in der Schweiz gemacht, weil ich mehr Zeit haben wollte.

Verlosung: vier signierte CDs

Heinrich Müller (70) ist in Reiden im Kanton Luzern aufgewachsen. Er ist den meisten Leuten als langjähriges Gesicht der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens bekannt. Vor 10 Jahren kehrte der Pfarrerssohn und gelernte Jurist dem TV nach 25 Jahren den Rücken. 2004 veröffentlichte er sein erstes Album «Footsteps». Mit seiner Band hat er bis heute mehr als 200 Konzerte gespielt.

Sein neues Album «As Long as I Can Sing» erscheint am 31. März – zentralplus verlost vier signierte Exemplare.

Konzert: Am Sonntag, 25. Juni, tritt Heinrich Müller im Duo in seiner Heimatgemeinde in Mehlsecken/Reiden auf und erzählt aus alten Zeiten.

zentralplus: Die ersten Alben entstanden also noch während der «Tagesschau»-Zeit?

Müller: Ja, ich spürte schon Ende der 90er, dass ich etwas Neues machen möchte. Aber ich fragte mich: Getraue ich mich? Kann ich noch gleich gut singen wie als junger Mann? Ich hatte bis 20 Musik gemacht. Nachher kamen Studium, Beruf und Westafrika, der Journalismus und das Fernsehen. Das waren bei mir die 40 Jahre, die man als Karriere bezeichnet. Karriere ist aber für mich kein wichtiger Begriff. Mir war immer nur wichtig, dass mein Leben spannend und lebendig war.

zentralplus: Nach der beruflichen Karriere kam die Musik?

Müller: Ja, das ist jetzt das Sahnehäubchen. Ich habe mich getraut, den umgekehrten Weg zu gehen. Ich war 61 und es war ein bisschen verrückt. Aber das machte gerade den Reiz aus.

zentralplus: Ist das nun Ihr persönlichstes Album?

Müller: Ich habe bis heute 40 Lieder geschrieben und es sind alles sehr persönliche Geschichten und Gedanken von mir. Ich schreibe keine La-la-la-Tralla-la-la-lah-Lieder. Ich versuche immer, Songs zu schreiben, hinter denen ich stehen kann und die man auch versteht. Das Verständnis war mir schon bei der «Tagesschau» ein grosses Anliegen.

zentralplus: Ihre aktuelle Single heisst «Happy for a While»: Was macht Sie glücklich?

Müller: Etwa wie in diesem Lied, einen Strassenmusiker kennenzulernen. Überhaupt Gemeinschaft zu spüren, mit anderen Leuten zu reden, zu diskutieren, argumentieren und politisieren. Im Kreis von guten Freunden macht mich das glücklich, das habe ich sehr gern. Und ich bin glücklich, wenn ich’s geschafft habe, auf eine Bergspitze zu kommen.

«Als Bub habe ich wie wahnsinnig Rock ’n› Roll gesungen und auf der Gitarre rumgehauen.»

zentralplus: Aber Ihre Musik ist ja eher bluesig als happy.

Müller: Ja, aber ein bisschen Glück und Melancholie schliessen sich nicht aus. Tatsache ist aber, dass die Traurigkeit bei mir eine Konstante ist. Aber es gibt auch Fröhliches, etwa das neue Lied «Musical Names». Es versammelt exotische, musikalisch tönende Namen von eingewanderten Frauen:

 «Meena Menda Marzi Sita Wirpi Tiki Nathifa Aisha Nalan Leila Pushpa … Let’s play together in a band.»

Mich hat primär das Musikalische an diesen Namen interessiert. Menschen, die bei uns und unter uns leben. Aber man kann diesen Song auch als Immigrationslied verstehen. Das Lied hört mit einem Juchzer auf.

zentralplus: «Musik verbindet mit Orten und Erinnerungen», schreiben Sie. Entstehen Ihre Songs aus wahren Begebenheiten?

Müller: Immer mal wieder. Gestern etwa habe ich im Zug zwei älteren Menschen zugehört, die über mich und meine Musik redeten. Ich habe mich hinter meiner Zeitung versteckt. Bei solchen Geschichten überlege ich mir, ob ich ein Lied daraus machen kann. Ich habe Fantasie, aber im Kern muss der Text einen Bezug zu meinem Leben haben.

Ein Song vom neuen Album: «Waiting for the Summerwind»

 

zentralplus: Musik sei für Sie ein «Ventil, um Druck abzulassen». Wann und wieso muss Heinrich Müller Druck ablassen?

Müller: Früher war Musik ein extremes Ventil. Ich habe als Bub wie wahnsinnig Rock ’n› Roll gesungen und auf der Gitarre rumgehauen. Jetzt ist Musik eher ein Vehikel zum Ausgleich. Ich nehme vieles cooler, muss Spass haben, Leidenschaft spüren und Energie schaffen.

zentralplus: Man kommt nicht drum herum, von Ihnen als «Tagesschau»-Gesicht zu sprechen. Ist das Fluch oder Segen?

Müller: Wohl von beidem etwas. Am Anfang hatte ich dadurch eher Vorteile, die Bekanntheit hat geholfen. Aber die «Tagesschau» kann auch eine Belastung sein. Viele Leute können sich nur schwer vorstellen, dass man mit Heiri Müller von der «Tagesschau» ein tolles Konzert als Musiker erleben kann. Diese Vorstellung scheint einigen Menschen absurd. Aber Tatsache ist: Ich gebe immer wieder coole Konzerte.

«Bald hiess es: ‹Heiri, du kannst das, du musst vor die Kamera.›»

zentralplus: Ist die Musik ein Ersatzrampenlicht für das TV-Studio?

Müller: Möglich. Schon als Kind stand ich manchmal vorne. Ich spielte und sang schon als Bub auf der Bühne, einmal sogar vor 1000 Leuten mit schlotternden Knien. Mit 17 hatte ich einen Fernsehauftritt in der ersten Talentsendung des Schweizer Fernsehens, heute ist das nicht mehr so speziell. Im beruflichen Leben lief es ähnlich.

zentralplus: … also haben Sie das Rampenlicht gesucht?

Müller: Es ist eher einfach passiert, es war immer irgendwie natürlich und normal abgelaufen. Ich würde nicht sagen, dass es «Frontgeilheit» oder so was war. Ich war beim Fernsehen jahrelang und immer wieder auch «hinten» tätig. Ich bin nicht als Moderator zum Schweizer Fernsehen gegangen, ich wollte erst Reporter werden. Aber bald hiess es: «Heiri, du kannst das, du musst vor die Kamera.»

Ausschnitt aus der «Tagesschau» von 1993:

 

zentralplus: Was ist der grössere Kick: Vor einer Million Zuschauern vor die Kamera zu treten oder als Bandleader auf die Bühne?

Müller: Es ist schöner, Frontmann auf der Bühne zu sein. Weil ich da etwas tue, das Freude macht. Weil ich Leute vor mir habe mit Leib und Blut und Seele. Die «Tagesschau» war im Grunde immer wieder eine Mutprobe. Du arbeitest den ganzen Tag, hast hoffentlich alles verstanden und geschrieben. Und wenn die Kolleginnen und Kollegen die Beine hochlagern, musst du vor die Kamera treten. Es geht recht lange, bis man das locker kann. Man muss alles an sich unter Kontrolle haben. Am Anfang ist es ein Horror.

zentralplus: Beobachten Sie die heutigen Moderatoren genau?

Müller: Nein, ich beobachte sie nicht. Ich war auch froh, dass mich die Leute so genommen haben, wie ich war. Darum halte ich mich zurück mit Urteilen. Ich möchte ein ganz normaler Zuschauer sein.

«Ich muss mein Leben ja irgendwie anständig über die Runden bringen.»

zentralplus: Sie sind in Reiden aufgewachsen. Haben Sie noch einen Bezug zu Luzern?

Müller: Zu meinem Geburtsort Reiden immer wieder. Ich wandere gerne in diesem Gebiet. Ich war in einem reformierten Pfarrhaus aufgewachsen in einem katholischen Gebiet. Das hat mich durchaus geprägt. Zudem habe ich Verwandte auf einem Bauernhof im Hintermoos. Das war schon während der «Tagesschau»-Zeit ein Refugium für mich. Dort konnte ich abschalten.

zentralplus: Sie sagten, dass Sie kein wirkliches Ziel vor Augen haben mit der Musik. Wofür machen Sie es dann?

Müller: Am Geld kann es nicht liegen. Konzerte sind schön, aber letztlich mache ich Musik aus ganz eigensüchtigen Motiven. Ich muss mein Leben ja irgendwie anständig über die Runden bringen. Einfach nur den ganzen Tag CNN schauen, das geht bei mir nicht (lacht). Und immer nur spazieren oder lesen geht auch nicht. Zwischendurch musst du eine Leistung erbringen. Ich merke, dass ich damit Freude hinterlassen kann, aber vor allem habe ich Freude daran. Musik hält mich auf Trab. Ich bin fast 71, habe noch ziemlich viel Energie und bin körperlich «zwäg».

Einst und heute: Henrich Müller als «Tagesschau»-Sprecher (links) und als Sänger.

Einst und heute: Henrich Müller als «Tagesschau»-Sprecher (links) und als Sänger.

(Bild: SRF/zvg)

zentralplus: Sie könnten es auch ruhiger angehen: eine Hobby-Coverband mit Freunden und ab und zu Auftritte.

Müller: Das mag ich eben nicht, ich will mich weiter entdecken und entwickeln. Ich brauche diesen Prozess. Solange das so ist, will ich das nicht bekämpfen, sondern umarme das.

zentralplus: Aber damit Geld zu verdienen, ist trotzdem schön?

Müller: Klar, aber mir kommen die Gagen eher wie ein Sackgeld vor, ein paar hundert Franken pro Konzert. Ähnlich wie damals, als ich als Kind von meinem Vater einen Fünfliber erhielt. Mir ist sehr wichtig, dass meine Mitmusiker auf ihre Rechnung kommen, sie leben davon.

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