Iris Studer-Milz tritt zurück

«Diese Delinquenten haben so viele Ideen»

Mit ihr geht ein ganzes Kapitel der Zuger Justiz in den Ruhestand: Iris Studer-Milz will wieder mehr Freizeit, wie hier in den Ferien. (Bild: zvg)

Als Iris Studer-Milz bei der Zuger Justiz angefangen hatte, konnten alle Gerichte noch an einem Tisch Kaffee trinken. So klein waren sie. Und dann wurde der Kanton von Wirtschaftskriminalität quasi überrollt. Mit dem Rücktritt der Obergerichts-Präsidentin geht ein Kapitel zu Ende, Zeit für eine Werkschau.

Wenn Iris Studer-Milz zurückblickt, dann ist das ein weiter Blick: 33 Jahre lang hat sie am Zuger Gericht gearbeitet. «33–einhalb, um genau zu sein», sagt sie. Und jetzt kommt das Ende bald: Studer tritt per nächsten Frühling zurück vom Obergericht, dessen Präsidentin sie die letzten zehn Jahre lang gewesen war. «Ich will wieder mehr Freizeit haben», sagt sie und lehnt sich zurück im Stuhl, «und nicht mehr jeden Tag im Büro verbringen.»

Mit ihrem Rücktritt geht ein Kapitel an Justizgeschichte zu Ende. Eines, das im Kanton Zug sehr turbulent verlaufen ist. Angefangen hat es beschaulich: «Man muss sich vorstellen: Als ich als junge Gerichtsschreiberin angefangen habe, da gab es gerade mal drei Richter im Vollamt am Kantonsgericht. Heute sind es 18», sagt Studer und verwirft die Hände, «damals ist das ganze Obergericht und das Kantonsgericht in der Pause am selben Kaffeetisch gesessen.» Heute muss der Gast eine sichere Schleuse zwischen Gerichtskasse und Sekretariat passieren, bevor er ins Innere des Obergerichts gelangt. «Es ist alles massiv grösser geworden. Der Kanton ist überdurchschnittlich gewachsen. Und wo es mehr Leute gibt, gibt es natürlich auch mehr Delinquenten.»

«Das Blaue vom Himmel versprochen»

Nicht nur mehr Leute, auch mehr Firmen. Die Wirtschaftskriminalität habe den Kanton in ihrer Zeit quasi überrollt: «Heute haben wir 30’000 Firmen hier. Der Kanton Zürich hat zwar zwölf mal mehr Einwohner als wir, aber nur drei Mal mehr Firmen.» Gross geworden ist die Wirtschaftskriminalität in Zug unter anderem mit Telefon-Betrügen: Ominöse Firmen, die den Leuten in den 90ern am Telefon Aktienpakete, Optionen und dergleichen verkaufen wollten, ihnen «das Blaue vom Himmel herunter versprochen haben, und das Geld war weg». Die Masche hat sich in der Zwischenzeit immer weiterentwickelt: «Diese Delinquenten haben so viele Ideen, auf was die alles kommen», sagt Studer. «Und die Staatsanwaltschaft und die Polizei hinken gezwungenermassen immer einen Schritt hinterher.»

In den 80er Jahren, als Studer ihre Laufbahn am Gericht startete, war Wirtschaftskriminalität die Ausnahme: Einen grösseren Betrugs-Fall habe es ab und zu gegeben, sonst nichts. Mittlerweile ist sie an der Tagesordnung: «Da passiert viel, auch im Rohstoffhandelsbereich, da laufen zum Teil seltsame Dinge.»

Die Kompetenz im Umgang mit solchen Fällen mussten sich das Gericht und die Staatsanwälte erst erarbeiten, denn sie sind umfangreich: «Ein Betrugs-Fall zum Beispiel, an den erinnere ich mich gut», sagt sie und zückt das Urteil, ein Buch von 360 Seiten. Es ist die letzten zehn Jahre quasi als Warnung im Regal gelegen. «Wir mussten beim Kantonsrat einen Ersatzrichter beantragen. Er hat ein Jahr lang hundert Prozent an dem Fall gearbeitet. Das sind so unglaublich komplexe und umfangreiche Fälle.»

Gerichtsschreiberin und Oberrichter in einem

Gab’s nicht, als Studer angetreten ist. Damals war das Zuger Gericht so klein, dass sie sich als Gerichtsschreiberin mit allem befassen konnte. Sie war zusammen mit einem Kollegen gleichzeitig für Kantons- und Obergericht zuständig. Es gab damals am Obergericht keine vollamtlichen Richter. Es waren alle im Nebenamt tätig, hatten daneben einen Hunderprozent-Job. «Wenn wir Urteile entworfen und motiviert, also begründet haben, hatten wir schon grossen Einfluss.» Sie waren quasi Gerichtsschreiber und Oberrichter in einem. Vier Jahre lang war Studer Gerichtsschreiberin, dann wurde sie ans Kantonsgericht gewählt, später ans Obergericht. «Das Gericht hat mich immer fasziniert. Ich habe mich da mit strafrechtlichen Fällen, aber auch mit Zivilrecht beschäftigt, mit allem. Das geht heute nicht mehr.»

Denn es entstand aufgrund des wachsenden Drucks eine Spezialisierung: «In den 90er Jahren sind wir in Arbeit fast ertrunken», sagt Studer, «bis das Parlament eine Stellenerhöhung beschlossen hat.» Dabei wurden auch Zivil- und Strafgericht getrennt, es gab mittlerweile einfach zu viele Fälle für zu wenige Richter.

Das war aber nicht die einzige kleine Revolution, die Studer erlebt hat. Sie war dabei, als die Zuger Gerichtsbarkeit zur Selbstverwaltung überging: Zuvor waren die Gerichte administrativ dem Regierungsrat und der Justiz- und Polizeidirektion unterstellt, wie in den meisten Kantonen. Die Zuger Justiz hat sich emanzipiert: «Seither können wir selber ans Parlament gelangen, wenn wir etwa Personalbegehren haben, und müssen nicht mehr über den Regierungsrat gehen. Wir konnten im Zusammenhang mit der Einführung der schweizerischen Prozessordnungen auch das Gerichtsorganisationsgesetz selber ausarbeiten.»

In der «Zickenzone»

Da gab es aber auch Krisenzeiten in Studers Karriere. Sie wurde von einem Richterkollegen persönlich angefeindet, aber das sei schon so lange her: «Das ist für mich erledigt.» Es sahen es auch nicht alle gern, dass ich Präsidentin am Obergericht wurde. Ich bin halt direkt, und das kommt nicht überall gut an.»

Und dann der Streit am Kantonsgericht, den einzelne Kantonsräte als «Kindergarten» und «Zickenzone» bezeichneten: Zweieinhalb Jahre lang beschäftigten die Streithähne im Kantonsgericht auch das Obergericht. «Wir haben von Anfang an versucht, intern eine Lösung zu finden, haben alle Beteiligten angehört und versucht, den Konflikt zu lösen. Das habe Energie gekostet. «Und es ist ja mal wieder bezeichnend, dass die Kantonsräte von Zickenzone gesprochen haben», sagt Studer, «dabei waren das am Kantonsgericht überwiegend Männer.»

Fräulein Richter

Männer, gegen die sie sich als Frau auch hat durchsetzen müssen. «Ich war gerade zwanzig, als das Frauenstimmrecht angenommen wurde. Man musste damals als Frau auch auf die Hinterbeine stehen. Gesetzliche Gleichberechtigung kam ja erst 1981.» Auf die Hinterbeine stehen, aber mit Humor: Nach dem Abschluss eines Falls, erzählt Studer, habe der Patron eines Baugeschäfts alle Beteiligten zur Versöhnung auf ein Bier eingeladen. «Und dann sagt er zu mir, der Richterin: Und Sie, Fräulein, kommen Sie auch mit? Ich musste laut lachen. Für die warst du als junge Richterin trotzdem das Fräulein.»

«Nationalrätin will ich nicht werden»

Und jetzt ist Schluss. Frühpensionierung. Anwaltskanzlei will sie keine eröffnen, wie das andere machen. Das hat ihr schon am Anfang der Karriere nicht gefallen, nur auf der einen Seite zu stehen. Stattdessen? «Ich reise gerne, will wieder mehr Töff fahren.» Studer ist 63 Jahre alt, aber macht in ihrer Freizeit Töfftouren durch halb Europa und sogar bis ins Argentinische Outback, fährt eine grosse BMW-Maschine, «eine R1150R, falls Ihnen das etwas sagt.» Ist Schweizerbeauftragte der International Fellowship of Motorcyling Rotarians. Aber ist es das, nach all den Jahren, mit der Justiz? «Ich kann das Amt gut abgeben. Aber es gibt schon noch Dinge, die nicht gut laufen.»

Sagt sie und da kommt sie, die Leidenschaft fürs Thema: Die schweizweite Vereinheitlichung der Prozessordnungen habe nicht nur «eitel Sonnenschein» gebracht, im Gegenteil: «Es ist – vor allem im Strafprozess – alles komplizierter geworden, viel mehr Formalismus. Und am Schluss läuft es eins zu eins auf Täterschutz hinaus», sagt Studer bestimmt. Die neue Gerichtsordnung lasse es zum Beispiel nicht mehr zu, dass man Täter, die zusammen delinquiert haben, einzeln verhöre: «Die Polizei muss alle zusammen verhören. Die Täter können sich so absprechen. Das macht es fast unmöglich, die materielle Wahrheit herauszufinden. Dabei wäre das die Aufgabe der Justiz. Und ich könnte noch viele weitere Beispiele aufführen.» Da steckt offenbar viel Energie dahinter, kann sie die Justiz wirklich ganz aufgeben? Oder steigt sie in der Politik ein? «Wer weiss, vielleicht engagiere ich mich am einen oder anderen Ort. Aber Nationalrätin will ich nicht werden», sagt sie und lacht, «dafür bin ich zu alt.»

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