Neue Forschung über die Zuger Rohstoffhändler

Die unheimliche Macht der Rhizome

Die Soziologen Ueli Mäder (links) und Ganga Jey Aratnam. (Bild: mbe.)

Wie gross ist der Einfluss von Marc Richs Nachfolgern in Zug? Und wie benutzt der Rohstoffkonzern Glencore seine Macht? Der Soziologe Ganga Jey Aratnam geht dieser Frage im neuen Buch «macht.ch» nach. Ein Interview mit ihm und Soziologieprofessor Ueli Mäder über Geld, Abhängigkeit und das wachsende soziale Ungleichgewicht.

«1989 besassen die 300 Reichsten in der Schweiz 82 Milliarden, Ende 2014 bereits 589 Milliarden. Hat ihre Macht entsprechend zugenommen?», liest man auf dem Klappentext des neuen Buchs «macht.ch – Geld und Macht in der Schweiz». 

Dieser Frage sind der bekannte Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder und sein Team nachgegangen. Sie haben mit über 200 Personen gesprochen, darunter auch mit vielen aus Zug. Das Werk gilt als gründlich recherchiert und dokumentiert. Doch es polarisiert auch. Ueli Mäder sei «auf einem Auge blind», schrieb die «NZZ». Sie lobte aber die Fremdtexte als sachlich-fundiert.

Einer davon handelt von Zug. Der Soziologe Ganga Jey Aratnam, ein Mitarbeiter Mäders, hat im 500 Seiten dicken Werk eine aufschlussreiche Fallstudie über den Einfluss der Rohstoffbranche verfasst: «Glencore oder die Rhizome der Macht. Eine Spurensuche in Zug.»

Im Mai und Juni finden zwei Veranstaltungen zu «macht.ch» in Zug und an der Uni Luzern statt (siehe Kasten am Schluss des Textes). Zentralplus hat Ueli Mäder und Ganga Jey Aratnam getroffen.

zentralplus: Herr Jey Aratnam, Ihre Fallstudie im Buch von Ueli Mäder trägt den Titel «Glencore oder die Rhizome der Macht». Ein Rhizom ist ein knapp über dem Boden wachsendes Pflanzengeflecht. Etwas Kriechendes, ein wenig Unheimliches. Was wollen Sie mit diesem Vergleich ausdrücken?

Ganga Jey Aratnam: Ich möchte damit ausdrücken, dass die Macht nicht eindeutig lokalisiert werden kann. Zwar hat Glencore seinen Hauptsitz in Baar. Aber die Wurzeln und Triebe des Rohstoff-Rhizoms wuchern und schlagen an vielen Orten aus. Diese Grosskonzerne kann man nicht mehr an einem Ort fassen.

zentralplus: Man weiss immer noch nicht genau, wie viele Firmen vom Kanton Zug aus im Rohstoffhandel operieren.

Jey Aratnam: Das stimmt, es gibt keine präzisen Erhebungen. Weder sind solche Daten für die Politik und Behörden greifbar, wie die Antwort der Zuger Regierung auf eine SP-Interpellation aufgezeigt hat, noch über den Branchenverband. Von ihm stammt aber die Schätzung von 200 bis 300 Firmen. (zentralplus hat 2013 einmal selbst nachgeforscht und eine Rohstoffkarte von Zug kreiert).

zentralplus: Das ist keine sehr genaue Zahl.

«Ein Teil der Aktivitäten der Rohstoffkonzerne wird bewusst unsichtbar gemacht.»
Ganga Jey Aratnam

Jey Aratnam: Die Hauptstrategie der Rohstofffirmen ist eben Opakisierung, das beschreibe ich in meiner Fallstudie. Opak heisst trüb, dunkel, verschwommen. Diskretion und Intransparenz sind per se ein Teil der Geschäftsstrategie der Rohstofffirmen. Das hat mit dem harten Wettbewerb zu tun. Ein Teil der Aktivitäten wird bewusst unsichtbar gemacht. Die Zuger Regierung macht mit bei dieser Opakisierung. Ich kenne keine Aktivitäten des Kantons, dagegen anzugehen.

Ganga Jey Aratnam beim Interview im Soziologischen Institut Basel.

Ganga Jey Aratnam beim Interview im Soziologischen Institut Basel.

(Bild: mbe.)

zentralplus: Das ist ein happiger Vorwurf. Haben Sie ein Beispiel für Ihre These?

Jey Aratnam: Das neue Video fürs Standortmarketing auf der Webseite der Kontaktstelle Wirtschaft bei der Volkswirtschaftsdirektion. Der Film trägt den Titel «Zug: small world – big business». Darin kommt Ashwath Mehra zu Wort, als «CEO Astor Management AG». Mit seinem Bild und seinen Aussagen beginnt und endet das Video. Was der Betrachter nicht erfährt: Ashwath Mehra ist in Zug länger verankert als Ivan Glasenberg, war früher bei Philipp Brothers und dann bei Glencore. In diesem Film wird aber nicht augenfällig, über wie viel Erfahrung Ashwath Mehra im Rohstoffhandel verfügt. Diese Tatsache spricht für meine Opakisierungsthese. Es gibt eine Verflechtung zwischen den staatlichen Stellen und den Netzen der Rohstofffirmen. Heute spricht man von Cluster. Und diese Cluster beinhalten im Fall von Zug auch Finanzdienstleister, IT-Firmen, Schulen und Charity.

zentralplus: Sie erwähnen auch die «Schweizerische Stiftung für den Doron Preis». Sie wurde von Marc Rich 1986 ins Leben gerufen. Welche Rolle spielt diese Stiftung im Kanton Zug?

Jey Aratnam: Alt-Regierungs- und FDP-Nationalrat Georg Stucky – ein wichtiger Netzwerker im Kanton Zug – präsidiert die Stiftung. Vor seiner politischen Karriere war Stucky als Rechtsanwalt für die Erdölfirmen in Libyen unterwegs, später sass er im Verwaltungsrat der Marc Rich AG. Im Stiftungsrat für den Doron-Preis sitzen weitere Zuger Persönlichkeiten wie die ehemalige Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz oder der ehemalige Zuger Stadtpräsident Christoph Luchsinger. Diese Stiftung verteilt Gelder, teilweise auch an gemeinnützige Organisationen.

Zu den Autoren

Ueli Mäder (65) ist Professor für Soziologie an der Universität Basel und an der Hochschule für Soziale Arbeit. Seine Schwerpunkte sind soziale Ungleichheit und Konfliktforschung. Mäder politisierte früher in der POCH und sass zehn Jahre im Kantonsparlament Basel-Stadt. Heute ist er politisch nicht mehr aktiv und noch Mitglied bei «BastA!», einer linken ökologischen Basler Partei.

Ganga Jey Aratnam (44) ist Sozialmediziner und Wissenschafter am Soziologischen Institut Basel. Seine Forschungsschwerpunkte sind soziale und ökonomische Ungleichheit. Ebenso Reichtum, Migration, Musik und Menschenrechte. Im Buch «macht.ch» verfasste Jey Aratnam die Fallstudie über Zug. Er hat fast 20 Jahre in Zug gelebt und sich dort auch sozialpolitisch und ehrenamtlich engagiert. Seine langjährige Lebenspartnerin stammt aus Baar.

zentralplus: Sie thematisieren in der Studie auch die Abhängigkeit der Zuger Kirchen von Unternehmenssteuern. Ist die Zuger Kirche unkritisch gegenüber der Herkunft ihrer Gelder?

Jey Aratnam: Der Kirchendiskurs ist spannend. Es gibt kritische Stimmen wie zum Beispiel Monika Hirt in der reformierten Kirche. Gleichzeitig gibt es einen anderen Diskurs. Ein Beispiel, das ich erlebt habe: Das Forum «Kirche und Wirtschaft» organisierte die Veranstaltungsreihe Ethik und Wirtschaft. Sie lud den «Weltwoche»-Journalisten Daniel Ammann ein, der die Biografie «King of oil – Marc Rich» geschrieben hatte. Auch ein Kritiker war eingeladen. Doch sobald er den Mund öffnete, wurde er von den anderen Teilnehmern mundtot gemacht. Die Diskussionsrunde war leider nicht ausgeglichen.

«Die Kirchen sollten selbstkritischer sein.»
Jey Aratnam

zentralplus: Was verlangen Sie denn von den Kirchen?

Jey Aratnam: Die Kirchen sollten selbstkritischer sein. Doch davon spürt man wenig. In der Stadt Zug ist bereits jede fünfte Person konfessionslos. Wenn die Zahl Konfessionsloser steigt, wächst die ökonomische Abhängigkeit der Kirchen. Denn Steuereinnahmen fliessen den Kirchen zu 45 Prozent durch Unternehmen zu. Es gab 2004 einen Vorstoss von Jo Lang. Die Alternativen schlugen eine Mandatssteuer für Unternehmen vor, welche an eine soziale Einrichtung nach Wahl gehen sollte. Sie wurde abgelehnt. Seither ist nichts mehr passiert.

So sieht ein Rhizom aus.

So sieht ein Rhizom aus.

(Bild: PD)

zentralplus: Die Kultur und die Gemeinnützigkeit sind ein Bindeglied zwischen der Rohstoffmacht und Zug. Wer profitiert alles in Zug von diesen Geldern?

Jey Aratnam: Glencore ist Gönner erster Kategorie der Gemeinnützigen Gesellschaft Zug. Ebenso Grosssponsor des EV Zug. Glencore hat auch die Lichtinstallation im Bahnhof Zug unterstützt. Das zeigt exemplarisch diese rhizomatische Verflechtung zwischen Rohstoffgeschäft, Kultur und Sozialleben.

zentralplus: Ist es denn schlecht, wenn Glencore lokale Künstler, soziale Projekte oder den Sport unterstützt?

Jey Aratnam: Nein. Aber es sind Peanuts für Glencore. Eine Firma wohlgemerkt, die 2011 und 2012 keine Steuern im Kanton Zug bezahlt hat. Doch ich möchte Glencore nicht diffamieren … Das wäre billig. Denn ohne Rohstoffe würde unsere Wirtschaft auf Grund laufen. Aber gerade deshalb, weil das Rohstoffgeschäft so wichtig ist, muss man genau hinschauen.

zentralplus: Haben Sie eigentlich auch mit Glencore selber gesprochen oder nur mit deren Kritikern?

Jey Aratnam: Natürlich haben wir auch mit Glencore-Akteuren gesprochen.

Ueli Mäder: Wir hatten mit der Gruppe engen Kontakt, die mit Ivan Glasenberg nach Kolumbien gereist ist, und von ihr erfahren wir immer wieder Neues. Sie sind inzwischen recht ernüchtert über die erzielten Ergebnisse (zentralplus berichtete darüber ebenfalls).

zentralplus: Aber Glencore-Vertreter äussern sich nicht direkt in Ihrem Buch?

«Wir sprachen mit Firmenvertretern. Aber Glencore hat die Interviews nicht autorisiert.»
Ueli Mäder

Mäder: Wir haben mehrere Gespräche geführt mit Glencore-Vertretern. Aber sie haben die Interviews nicht autorisiert.

zentralplus: Glencore kommuniziert offener in den letzten Jahren, Ivan Glasenberg stellt sich der Kritik. Ist das geschicktes Marketing oder ernst zu nehmen, als Wille zu mehr Transparenz?

Jey Aratnam: Es ist Notwendigkeit. Und natürlich auch ein Stück weit Fair-Marketing. Der Rohstoffhandel florierte seit 2000. Seit 2013 fällt das Geschäft zusammen. Das Phänomen heisst Commodity Super Cycle. Ich denke, diese Krise kostet Glencore sehr viel Geld. Und Glencore hat auch Schulden in zweistelliger Milliardenhöhe. Aber sie erzielen auch so, und trotz der hohen Kapitalintensität ihres Geschäfts, immer noch grosse Profite.
Seit 2013 stehen die Rohstofffirmen auch unter internationalem Druck. Damals hat die EU erstmals ein Gesetz erlassen, das Rohstofffirmen zur Offenlegung ihrer Rechnung verpflichtet. Die USA hat dies im selben Jahr ebenfalls eingeführt. Deshalb hat Bundesrat Johann Schneider-Ammann – nicht aufgrund von Selbsterkenntnis, sondern unter diesem Druck – erstmals einen Rohstoffbericht vorgelegt.

zentralplus: Wenn Sie eine Prognose wagen: Wird die Kritik an Glencore in Zukunft zunehmen, auch von bürgerlicher Seite? Sie zitieren im Buch CVP-Stadtrat Urs Raschle, der sich laut fragte, ob solche Firmen Zug am Ende mehr schadeten.

«Wenn sich die CVP unkritisch verhält, ist der Zug halt abgefahren.»
Jey Aratnam

Jey Aratnam: Ich hüte mich vor Prognosen. Aber ich denke nicht, dass es grosse Änderungen geben wird. Vor allem wegen der CVP, die sehr rechts politisiert im Kanton Zug. Es gab eine Tendenz von Urs Raschle und Martin Pfister, wo sie kritischer wurden. Aber sie sind jetzt beide in die Exekutiven eingebunden. Im Kanton Zug haben CVP, FDP und SVP zusammen drei Viertel der Wähleranteile. Wenn die CVP sich da unkritisch verhält, dann ist der Zug halt abgefahren.

zentralplus: Die Linke macht aber auch wenig Hoffnung auf eine Änderung. Die Alternative – die Grünen büssten an den Eidgenössischen Wahlen 2015 die Hälfte ihres Wähleranteils ein. Dafür ist die Zuger SP jetzt doppelt so stark. Kämpft die SP auch gegen die «Rhizome der Macht»?

Jey Aratnam: Es gibt kritische Stimmen wie Hubert Schuler. Aber trotzdem hat die SP nicht so viel gemacht wie die Alternativen. Diese haben von Anfang an zusammen mit manchen Kirchenvertreterinnen gegen die Rohstofffirmen gearbeitet. Ob diese Kritik aber die Glencore-Macht erschüttert hat, sei dahingestellt. Im Übrigen sehe ich für die Grünen nicht schwarz, weil sie in den Gemeinden ein gut verankertes gruppistisches Sammelsurium sind.

Ueli Mäder bezeichnet sich selbst als «Professor mit sozialistischer Grundhaltung».

Ueli Mäder bezeichnet sich selbst als «Professor mit sozialistischer Grundhaltung».

(Bild: mbe.)

Mäder: Glencore ist nach unseren Recherchen nicht einfach ein einheitlicher Moloch. Da ist schon eine gewisse Heterogenität vorhanden, selbst innerhalb der Glencore. Wir haben mit einer recht wichtigen Person gesprochen, welche leider die kritischen Aussagen nicht autorisiert hat. Aber das Faktum, dass auch hinter vorgehaltener Hand Kritik geübt wird, ist ein kleines Zeichen, dass sich etwas bewegt. Es gibt auch andere Leute, in Banken und Konzernen, die sagen, dass Glencore ihnen das Geschäft und den Ruf kaputt macht, wenn sie so weiter kutschieren. Dann gibt es eine Spirale, die nach unten geht. Diese Faktoren und inneren Widersprüche gehören ebenfalls zum Druck, den Ganga Jey Aratnam erwähnte.

zentralplus: Trotz aller Kritik: Die Zuger haben bisher ganz gut von diesen Firmen gelebt und sich ruhig verhalten. Glauben Sie, dass sich diese Einstellung einmal ändern könnte?

«Peter Hegglin dachte darüber nach, die Steuern anzuheben. Da musste ich schmunzeln.»
Ueli Mäder

Mäder: Ich habe mit Peter Hegglin in seiner damaligen Funktion als Finanzminister und Präsident der Finanzdirektorenkonferenz gesprochen. Damals hielt er den Steuerwettbewerb sehr hoch. Einige Wochen später musste er darüber nachdenken, die Steuern anzuheben. Da musste ich ein wenig schmunzeln.

zentralplus: Die Zuger Politiker in Bern sind alle bürgerlich und politisieren teilweise sehr weit rechts. Vertreten sie die Interessen der Rohstofffirmen auf nationaler Ebene?

Jey Aratnam: Das brauchen sie nicht mehr. Die Zeiten, wo Parlamentarier wie CVP-Nationalrat Peter Hess mit 80 Mandaten in Bern sassen, sind vorbei. Der letzte solche Politiker war Rolf Schweiger von FDP. Der neue Trend ist, dass die Firmen und die Rohstofffirmen ihre eigenen Vereinigungen haben. Die Rohstoffbranche hat die Zuger Commodity Association (ZCA).

zentralplus: Aber die Verbände und Lobbyisten können ja nicht direkt Politik machen in Bern.

Mäder: Es gibt schon direkte Drähte ins Bundeshaus und zur Exekutive. Ich habe zwar immer gesagt, man soll keine Verschwörungstheorien konstruieren. Aber manchmal frage ich mich, ob ich naiv bin. Ich rede öfters mit Bankdirektoren. Und ich merke dann, wie diese oft minutiös gucken, wer mit wem zur Schule gegangen ist und wen man auf welchen Bundesrat ansetzen könnte, wenn sie etwas erreichen wollen.

«Vor 260 Jahren haben die Kolin-Brüder auch einen Rohstoffhandel in Zug aufgezogen. Gleichzeitig bekleideten sie in der Politik hohe Ämter.»
Jey Aratnam

zentralplus: Wie verbandelt sind die lokalen Zuger Politiker mit der Rohstoffbranche?

Jey Aratnam: Der Umgang zwischen Politikern und Vertretern der Wirtschaft wie Martin Fasser, Präsident der Zug Commodity Assocation, ist äusserst kollegial, wie ich an einer Veranstaltung beobachten konnte. Da muss der Politiker nicht mehr im Verwaltungsrat einer Firma sitzen.

zentralplus: Ueli Mäder, warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Mäder: Das Herzblut war die wachsende soziale Ungleichheit. Wir haben eine Reihe von Studien über Armut gemacht. Dann hat uns interessiert, wie es am anderen Ende der sozialen Ungleichheit aussieht. Für «macht.ch» hat uns die Frage interessiert, wer seinen Einfluss wie wahrnimmt und ob es im Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise eine Änderung gegeben hat. Wie gehen Banken und die industrielle Welt mit ihrem Einfluss um? Uns interessierte auch, ob wirklich Geld der entscheidende Machtfaktor ist.

zentralplus: Wie fällt Ihre Antwort aus?

Mäder: Es gibt in der Schweiz Leute, die haben viel Geld und nicht so viel Einfluss. Und es gibt Leute, die haben nicht so viel Geld und doch Einfluss. Entscheidend ist unter anderem, wie die Leute vernetzt sind und welchen Hintergrund sie haben. Auch Haltungen spielen eine wichtige Rolle. Man hat in der Schweiz immer ein relativ starkes liberales politisches Verständnis gehabt. Kennzeichen davon ist, dass Arbeit etwas wert ist und in einem ausgewogenen Verhältnis zum Kapital stehen soll. Seit 1989 hat sich das geändert. Die Finanzlogik überlagert das Politisch-Liberale ein Stück weit. Das hat eine neue Gläubigkeit in unsere Gesellschaft hineingebracht. Deren Hauptaussage lautet: Wie viel wert die Arbeit ist, sagt uns doch der Markt. Wir haben den Eindruck, dass diese Haltung durchschlägt, bis hin zu den sozialen Institutionen.

zentralplus: Haben Sie ein Beispiel dafür?

Mäder: Eine Studentin berichtet mir, dass ein älterer Mann in der Studienbibliothek hingefallen ist und blutüberströmt auf dem Boden liegt. Sie informiert den Notfall und das Altersheim, wo der Mann wohnt. Im Altersheim heisst es als Erstes: «Oh, das kostet wieder!» Damit will ich ausdrücken: Das Geld und die Ökonomisierung werden auch als Machtfaktor eingesetzt und höher veranschlagt als das Soziale.

Zentralplus: Hat das soziale Ungleichgewicht in der Schweiz zugenommen?

Mäder: Im Vermögensbereich hat die Ungleichheit sehr stark zugenommen. Beim frei verfügbaren Einkommen hat ein Teil der Bevölkerung zurückbuchstabieren müssen, während die oben hinaus mehr zugelegt haben. Wer schon viel hat, bekommt noch mehr dazu.

«Wer schon viel hat, bekommt noch mehr dazu.»
Ueli Mäder

Zentralplus: Und wie sieht es mit dem sozialen Gleichgewicht im Kanton Zug aus?

Jey Aratnam: Zug ist einer der Kantone mit der grössten Dichte an Millionären. Was Ueli Mäder gerade gesagt hat mit dem frei verfügbaren Einkommen, trifft auf Zug besonders zu. 2006 war Zug von allen Kantonen an fünfter Stelle, aber 2011 war der Kanton an 19. Stelle und damit fast das Schlusslicht. Diese Studie stammt nicht von uns, sondern von der Credit Suisse.

Ueli Mäder: «Die soziale Ungleichheit in der Schweiz ist stark gewachsen.»

Ueli Mäder: «Die soziale Ungleichheit in der Schweiz ist stark gewachsen.»

(Bild: mbe.)

Zentralplus: Was bedeutet das einfacher ausgedrückt?

Jey Aratnam: Dass den Leuten am Schluss nicht so viel Geld im Portemonnaie bleibt. Die Steuern sind zwar tief. Aber wenn wir die gesamte Bevölkerung und vor allem die Mittelschicht nehmen, lohnt es sich ökonomisch nicht, im Kanton Zug zu wohnen. 2010 sorgte diese Credit-Suisse-Studie für Aufsehen in Zug und man sprach von einem «einmaligen Effekt», es ist aber immer noch so. Am extremsten sieht man es in Walchwil und Oberägeri, dort gibt es ein kontinuierlich steigendes Ungleichgewicht. Es ist ein Verdrängungseffekt. Wenn mehr Reiche kommen, wird es für die anderen teurer.

Mäder: Weil die Preise ja auch steigen …

Zentralplus: Zum Schluss Ihr Fazit: Wer regiert Zug – die Politik oder die Grosskonzerne?

Mäder: Die einen mit den anderen. Aber nicht nur.

Jey Aratnam: Ich kann Ihnen ein historisches Beispiel geben. Vor 260 Jahren haben die Kolin-Brüder auch einen Rohstoffhandel in Zug aufgezogen. Mit Florettseide. Gleichzeitig bekleideten die Brüder in der Politik höhere Ämter, etwa als Zuger Ammann. Das zeigt für mich exemplarisch: Politik und Wirtschaft zu trennen war immer schwierig im Kanton Zug.

Zwei Veranstaltungen zum Buch

Am 19. Mai findet an der Universität Luzern ein Diskussionsabend über «macht.ch» statt. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Buch im Fokus» diskutieren der ehemalige Freiburger CVP-Ständerat Urs Schwaller, der frühere Economiesuisse-Präsident Rudolf Wehrli und die Studentin Cora Alder über das Ziel eines «gutes Lebens für alle» und wie man es erreichen kann. Moderiert wird der Anlass von Antonius Liedhegener, Professor für Politik und Religion an der Uni Luzern. Donnerstag, 19. Mai 2016, 18.15 bis 19.45 Uni Luzern, Frohburgstrasse 3, Hörsaal 5.

Am 13. Juni ist in Zug ein Anlass mit Ueli Mäder und Ganga Jey Aratnam geplant. Unter der Leitung des Journalisten Ernst Meier diskutieren sie über das Buch und legen dabei einen speziellen Fokus auf den Wirtschaftsstandort Zug. Der Abend ist eine Kooperation zwischen der Stadtbibliothek und «Doku-Zug». Montag, 13. Juni, 19.30 bis 21 Uhr in der Stadtbibliothek Zug, St. Oswaldgasse 21. Anschliessend Apéro vis à vis bei «Doku-Zug», St. Oswaldgasse 16. Anmeldung nicht notwendig, freier Eintritt.

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