Flüchtlinge in Luzern: Solidarität oder Abwehr?

«Die Stimmung hat gedreht»

An der Tribschenstrasse ist eine neue Notunterkunft in der Stadt Luzern eröffnet worden. (Bild: cha)

Plötzlich wollen alle helfen, wo vor kurzem noch Misstrauen gegenüber Flüchtlingen vorherrschte. Was steckt hinter der Solidarität der Luzerner, wo sind die Ängste vor zu vielen Asylsuchenden geblieben? Der Luzerner Philosophie-Professor Martin Hartmann über die innere Diskrepanz zwischen Abwehr und Mitleid – und die Weltoffenheit der Luzerner.

zentral+: Die Bilder aus Deutschland sind eindrücklich. Flüchtlinge werden in München mit Applaus und Wohlwollen empfangen, eine Welle der Sympathie und Hilfsbereitschaft breitet sich aus. Wie würde der Bahnhof Luzern aussehen, wenn Tausende von Flüchtlingen angereist kämen?

Martin Hartmann: Eine hypothetische Frage, zudem ist es nicht so, dass in Deutschland die ganze Bevölkerung so wohlwollend ist. Das wäre wohl hier ähnlich: Es gibt bestimmte Schichten, die dem Thema gegenüber eher offen eingestellt sind, andere weniger. Eine einhellige Begeisterung kann ich mir hier nicht vorstellen, aber es gäbe sicher auch viel Sympathie und Hilfsbereitschaft.

zentral+: Die Hilfsbereitschaft ist in den letzten Tagen auch in Luzern sprunghaft gestiegen (zentral+ berichtete). Das deutet auf eine positive Grundstimmung hin gegenüber Asylsuchenden.

Hartmann: Ich bin zwar kein Flüchtling, bin aber auch vor ein paar Jahren als Deutscher von aussen hierher gekommen. Dabei habe ich eine grosse Offenheit erfahren, von einer fremdenfeindlichen Stimmung merkt man hier wenig. Aber mir ist klar, dass es auch hier Ängste gibt. Das liegt daran, dass man befürchtet, gewisse Privilegien zu verlieren, wenn andere kommen. Statusängste gibt es sicher auch hier.

«Ich warne vor allzu viel Euphorie: Es spielt eine grosse Rolle, woher die Flüchtlinge kommen.»

Martin Hartmann, Philosophieprofessor Uni Luzern

zentral+: Interessant ist, dass zur Zeit die Solidarität klar überwiegt, die Stimmen, die vor kurzem noch vor allem vor den Problemen und Gefahren durch Flüchtlinge warnten, sind momentan verstummt. Warum ist das so?

Martin Hartmann, Professor für Philosophie an der Universität Luzern.

Martin Hartmann, Professor für Philosophie an der Universität Luzern.

(Bild: zvg)

Hartmann: Das Bild von dem toten Jungen am Strand hat sicher viel ausgelöst. Das hat aufgerüttelt, schockiert, die Not wurde sichtbar. In Deutschland waren es auch gerade die Berichte über fremdenfeindliche Demonstrationen, die viele aufgerüttelt haben. Die Stimmung hat ein Stück weit gedreht. Aber ich warne vor allzu viel Euphorie: Es spielt eine grosse Rolle, woher die Flüchtlinge kommen. Die Syrer erhalten sehr viel Solidarität, aber man darf nicht naiv sein und glauben, dass die problematischen Unterscheidungen zwischen «echten» und «unechten» Flüchtlingen einfach weg sind.

zentral+: Die Eritreer sind in Luzern umstritten.

Hartmann: Im Moment sind die Unterscheidungen, warum jemand flüchtet, in den Hintergrund gerückt. Aber sie werden wieder kommen.

zentral+: Wie würde hier reagiert, wenn Tausende plötzlich in Luzern Asyl suchten?

Hartmann: Wie gesagt, erlebe ich Luzern als weltoffen, daher glaube ich nicht, dass die Leute ablehnend reagieren würden. Es könnte eine Willkommenskultur entstehen, die aber sicher nicht von der ganzen Bevölkerung mitgetragen wird. Es hängt natürlich stark von den Zahlen ab. Wenn es Hundert oder vielleicht Tausend sind, mag das gehen, wenn es Zehntausende wären, könnte die Stimmung rasch kippen. Das ist auch sozialpsychologisch begründbar: Wenn überschaubare Gruppen kommen, ist das emotional nachvollziehbar. Wenn es zu viele sind, fällt es schwerer, Anteil an einzelnen Schicksalen zu nehmen. Wenn wir die Geschichten der Menschen kennen, fällt es uns leichter, solidarisch zu sein. Grosse Zahlen an Flüchtlingen führen eher zu Angst und Ablehnung. Dahinter steckt auch ein komplexer Prozess. Es geht nicht zuletzt darum, wie eine solche Welle an Asylsuchenden organisiert wird.

zentral+: Der Stimmungsumschwung ist dennoch erstaunlich. Gibt es auch eine Art innere Diskrepanz zwischen Abwehr und Mitleid?

«Jede Demokratie muss sich überlegen, wie viele Menschen sie aufnehmen kann und will. Es muss legitim sein, darüber nachzudenken.»

Hartmann: Es gibt sicher Menschen, die hin- und hergerissen sind. Die Furcht vor allzu vielen Flüchtlingen geht eher von unteren Schichten der Bevölkerung aus, von Leuten, die sich fürchten, das Wenige, das sie haben, auch noch zu verlieren. Aber es gibt auch in der Mittelschicht solche Denkweisen, da ist zum Teil die Statusangst sogar noch ausgeprägter. Übrigens ist das zum Teil auch legitim: Jede Demokratie muss sich überlegen, wie viele Menschen sie aufnehmen kann und will. Es muss legitim sein, darüber nachzudenken.

zentral+: Das Unbehagen ist jeweils gross, wenn irgendwo ein Asylzentrum eröffnet werden soll oder wenn eine Gemeinde gezwungen wird, Platz für Asylsuchende zu schaffen. Was spielen da für Ängste mit?

Hartmann: Ich selbst war noch nie betroffen, darum wäre es arrogant zu sagen, ihr dürft nicht Angst haben. Ich verstehe die Ängste nicht und finde es schade, wenn daraus Widerstand und Abwehr resultiert. Man sollte nicht vorwegnehmen, wie diese Menschen sind, bevor man sie überhaupt kennen gelernt hat. Verunsicherung verstehe ich, aber ich wünschte mir, dass man sich auf sie einlässt, wenn immer möglich.

«Die Social Media-Kanäle können lawinenartig etwas ausbreiten. Es verursacht eine kollektive Sensibilität.»

zentral+: Auf den Social-Media-Kanälen wird die Flüchtlingsthematik in Luzern eifrig diskutiert und thematisiert. Welchen Einfluss hat dies auf die Meinungsbildung?

Hartmann: Die neuen Kanäle können natürlich lawinenartig etwas ausbreiten. Entsprechend löst das auch bei den Menschen etwas aus, es verursacht eine kollektive Sensibilität. Genau das scheint in den letzten Tagen passiert zu sein. Aber das kann natürlich auch nach hinten losgehen: Auch Neonazis organisieren sich über Social Media und schüren Hass und Polemik. Hinzu kommt die Schnelllebigkeit: Zuerst ist es in aller Munde und nach zwei bis drei Tagen redet keiner mehr davon.

zentral+: Wie lange hält diese Willkommenskultur an?

Hartmann: Dadurch, dass sich alles in Windeseile verbreitet, besteht auch die Gefahr, dass die kollektive Sensibilität auch schnell wieder abebbt. Die Flüchtlinge brauchen aber auch noch in drei Monaten unseren Beistand.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von zombie1969
    zombie1969, 13.09.2015, 15:11 Uhr

    Sache mit den Refugees wird für die Sozialindustrie in der CH ein Bombengeschäft. Die Ungarn werden sich in den Hintern beissen, dass sie sich diese super Gelegenheit durch die Lappen haben gehen lassen.

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  • Profilfoto von Mahatma Andy
    Mahatma Andy, 13.09.2015, 09:25 Uhr

    Ich wohne in einer Gemeinde im Kanton Luzern. Da ist die Hilfe für die Flüchtlinge besser organisiert als für die Leute die hier leben und in Not geraten sind. Würde mich über Solidarität für alle Menschen freuen!

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