Luzerner Gewaltberater über zuschlagende Väter

«Die meisten Väter sind sich nicht bewusst, dass die Kinder alles mitansehen mussten»

Rund 30 Frauen haben an diesem Mittwoch Aussagen von Frauen aufgegriffen. (Bild: Natalie Boo)

Schweizweit startet heute die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Auch in Luzern wurde ein Zeichen gegen Gewalt gesetzt. Gewaltberater Roland Reisewitz zeigt eine Realität fernab der Familie im Hochglanzprospekt.

«Er sollte aufhören. Aber er wollte unbedingt Sex. Er hat meinen Kopf an die Wand geschlagen.»

«Er drohte, unseren Sohn vom Balkon zu werfen.»

Wer an diesem Mittwoch durch die Pilatusstrasse und den Theaterplatz geschlendert ist, dürfte einige Male leer geschluckt haben. Rund 30 Frauen standen da, still, trugen ein Schild auf sich. Mit privaten oder veröffentlichten Aussagen von Frauen, die Gewalt erlebt haben.

Organisiert wurde die Aktion vom Frauenstreik Luzern. «Durch diese Aussagen wird Gewalt sichtbar, die einem übel werden lässt, die Wut auslöst und Hilflosigkeit», schreibt das Komitee in einer Medienmitteilung. Diese Gefühle sollten nicht nur die Betroffenen – und in vielen Fällen auch deren Kinder – erleben müssen. «Diese sollten auch wir spüren, die betroffene Gesellschaft. Damit uns klar wird, dass definitiv mehr getan werden muss.»

Mit der Aktion wird der Start der schweizweiten Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» markiert. Dieses Jahr beleuchten die Aktionstage Mutterschaft und Gewalt. Denn auch Väter können zuschlagen. Das weiss man bei der Gewaltberatungsstelle Agredis.

Grosser Teil bei Gewaltberatungen sind Väter

Den «typischen Klienten» gibt es aber nicht. Gewalt taucht in allen Altersgruppen, Gesellschafts- und Berufsschichten sowie sozialen Strukturen auf, sagt Roland Reisewitz von Agredis. «Es ist nicht nur der tätowierte Mann, der am Stammtisch Bier trinkt, der gewalttätig werden kann. Genauso kann es auch ein liebevoller, gebildeter Familienvater sein.»

Ein sehr grosser Teil der Männer, welche die Beratung aufsuchen, seien Väter. Denn auch die Familiensituation, mit all den vielen Anforderungen und unerwarteten Situationen, können ein möglicher Risikofaktor sein.

Einer, der die Beziehungen verändert, neue Aufgaben, Erwartungen und Unerwartetes auf den Tisch bringt. Fragen tauchen auf, wie man das mit den Finanzen regelt, wer mitten in der Nacht aufsteht und sich um das schreiende Kind kümmert, wie man die Kinder erzieht – und wie man reagiert, wenn ein Kind nicht das tut, was man will.

«Das alles sind Fragen, die zu Meinungsdifferenzen und in vielen Situationen zu einer Krise führen. Zu Auseinandersetzungen, Unsicherheiten und ungelösten Fragen.»

Und manchmal eben auch zu Gewalt.

Wenn es im Kopf zu einem wilden Karussell kommt

Doch: Wann schlägt jemand zu? «Zu Gewalt kann es kommen, wenn ein inneres, wildes Karussell sich zu drehen beginnt, wenn jemand keinen inneren Halt und keine Orientierung mehr hat und sich derart hilflos und überfordert fühlt in einer Situation», sagt Reisewitz.

In einer solchen Situation von Ohnmacht und Not müsse alles weg, was als unangenehm erfahren werde. Eine Möglichkeit, sich zeitnah von diesem Druck zu lösen, sei die Anwendung von Gewalt. Dabei würden längerfristige Konsequenzen in der Regel ausser Acht gelassen.

Hier findest du Hilfe

Wenn du als Mann selbst Gewalt ausübst und damit aufhören willst oder merkst, wie aggressive Gefühle in dir aufkommen, kannst du dich an Agredis wenden. Hier erhältst du persönliche Gewaltberatungen von Mann zu Mann. Telefonisch über die Nummer 078 744 88 88, täglich von 7 bis 22 Uhr.

Du bist selbst von Gewalt betroffen? Das Frauenhaus Luzern bietet gewaltbetroffenen Frauen – mit oder ohne Kinder – Schutz, Unterkunft und Beratung. Rund um die Uhr kannst du auf die Helpline 041 360 70 00 anrufen.

Auch die Opferberatungsstelle ist für gewaltbetroffene Menschen da. Zögere nicht, auf 041 228 74 00 anzurufen, wenn du Hilfe bei der Bewältigung einer bestimmten Situation brauchst.

Für Notfälle und Hilfe vor Ort ist die Polizei für dich da (Notruf-Nummer 117).

In den Beratungen reflektiert Reisewitz mit seinen Klienten das Geschehene. «Die meisten Männer sind sich gar nicht bewusst, dass die Kinder beim Gewaltvorfall im Raum waren und alles mitansehen oder mitanhören mussten.»

Erst versuchen viele, auszuweichen, dieses Bild auszublenden oder zu bagatellisieren. Doch wenn sie dann realisieren, was sie angerichtet haben, werden sie häufig erst einmal still. «Viele erschrecken über sich selber, erwachen aus ihrer Erstarrung.»

Nicht selten sei das ein sensibler und schöner Moment, in dem die Männer sich in Verbindung sehen zu ihren Kindern und so auch eine erste Motivation zur Veränderung erfahren, die einen wichtigen Boden für die Gewaltberatung bilden könne, so Reisewitz.

Wie man gewaltbereite Männer abholen kann

«Viele Männer in Krisen schimpfen über ihre Partnerinnen und stellen vorerst Argumente in den Vordergrund, warum es so weit gekommen ist», sagt der Berater.

«Häufig werden Taten bagatellisiert und die Schuld von sich gewiesen.» Ganz anders, wenn Männer realisieren, was sie ihren Kindern angetan haben. Dass diese mitbetroffen sind, wenn er ausrastet und die Partnerin angreift.

«Einen Grund, Gewalt auszuüben, gibt es nie.»

Männer in einer Krise seien insbesondere dann erreichbar für eine Verhaltensänderung, wenn sie in der Beratung auf ihre Rolle als Vater angesprochen werden. Fast jeder Vater wolle ein guter Vater sein. Nicht selten sei das ein rührender Moment, der bei den betroffenen Männern auch in Trauer enden könne.

Abschied nehmen von alten Normen und Rollen

Spielen auch Feminismus und Emanzipation eine Rolle, wenn es zu häuslicher Gewalt kommt? «So würde ich es nicht formulieren», sagt Reisewitz. «Sicher gibt es Männer, die bei uns in den Beratungen sagen, dass Frauen heute ja alles bestimmen wollen.»

Wenn sich eine Gesellschaft verändert, traditionelle Rollenverteilungen in Frage gestellt werden und sich Frauen neu positionieren, könne das bei einigen Männern Unsicherheit und Widerstand auslösen.

Selbstverständliche Privilege als Mann, die früher Halt gaben, fallen weg. Doch Roland Reisewitz betont: «Eine Frau ist nie schuld, wenn es zu Gewalt kommt. Einen Grund, Gewalt auszuüben, gibt es nie. Auch wenn es zu Streit kommt, zu heftigen Auseinandersetzungen und das Gegenüber provoziert  oder selber sehr beleidigend oder verletzend ist. Es gibt keine Legitimation für Gewalt. Nie.»

In den Beratungen komme dieses hierarchische Denken öfter mal aufs Tapet. Häufig darf Reisewitz die Männer dabei begleiten, wie sie ihr Denken zu einem partnerschaftlichen Denken hin verändern. «Das bedeutet zugleich auch Abschied nehmen von Normen und Rollen und dem Profit, den Männer manchmal davon hatten.»

Ansturm bei Agredis bleibt während Corona aus

Expertinnen befürchteten zu Beginn der Corona-Pandemie, dass es zu einem Anstieg an häuslicher Gewalt kommen könnte.

Auch Agredis hat sich für einen Ansturm gewappnet – und ein «Survival-Kit» für Männer unter Druck angefertigt. Die Gewaltberater werden aber nicht mit Anfragen überrannt. Aktuell sei die Lage sogar eher ruhig, sie erhalten wenig Anrufe von Direktbetroffenen. Wie auch das Frauenhaus Luzern stellt man derzeit noch keinen Anstieg an häuslicher Gewalt fest (zentralplus berichtete).

Doch die Realität dürfte anders aussehen. Roland Reisewitz vermutet, dass es in vielen Familien während Corona zu grossen Meinungsverschiedenheiten und Krisen gekommen sei. In den Köpfen einiger Männer beginnt sich das innere Karussell zu drehen, wenn das Bild von «echten Familien» von demjenigen aus dem Hochglanzprospekt abweicht. Das untermauern erste Zwischenergebnisse einer Langzeitstudie von zwei Forscherinnen der Hochschule Luzern (zentralplus berichtete).

«Solange wir das Bild vertreten, dass es hinter verschlossenen Türen nicht zu Gewalt in den eigenen vier Wänden kommt, solange ist die Anzahl derer, die sich bei uns melden, marginal klein.»

Hier erhältst du weitere Einblicke der Aktion des Frauenstreiks Luzerns:

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