Zentralschweizer «143»-Geschäftsleiter im Interview

«Die Geschichten, die man zu hören bekommt, relativieren alles»

Klaus Rütschi, Geschäftsleiter der Dargebotenen Hand Zentralschweiz, erzählt von den Herausforderungen in seinem Job. (Bild: wia)

Klaus Rütschi hat einen Job, in dem man viel aushalten muss. Häufig haben er und sein Team etwa mit akut suizidgefährdeten Menschen zu tun. Trotzdem hat der Geschäftsführer der Dargebotenen Hand Zentralschweiz dafür einen sehr gut bezahlten Prestige-Job sausen lassen. Und er bereut es überhaupt nicht.

13’000 Anrufe pro Jahr, allein in der Zentralschweiz. Von Menschen, die krank sind. Die psychische Probleme haben. Zwischendurch von jemandem, der gerade auf einer hohen Brücke steht und sich überlegt zu springen. In vielen Fällen auch von Leuten, die einfach nur sehr einsam sind. Trotzdem sagt Klaus Rütschi, der Geschäftsführer der Dargebotenen Hand Zentralschweiz: «Das ist mein Traumjob.» Wir treffen den 50-jährigen Neuheimer zum Kaffee.

zentralplus: Herr Rütschi, Sie sind vor zehn Jahren Geschäftsführer des «Telefon 143» geworden. Davor waren Sie bei der Credit Suisse im Marketing tätig. Ein sehr unverhoffter Wechsel, so scheint es.

Klaus Rütschi: Ja, das war ein ziemlicher Sprung. Ich wurde damals explizit angefragt, ob ich diesen Job übernehmen möchte, und konnte auf Anhieb keine Antwort geben. Schlicht, weil ich nicht wusste, ob ich mir das finanziell leisten kann. Ich musste erst meine Ausgaben ausrechnen, bevor ich zusagen konnte.

Nehmen Sie nur mal vier Stunden lang das Telefon bei 143 ab. Danach haben Sie keine Probleme mehr.

zentralplus: Und haben sich offensichtlich dafür entschieden, dass es reicht.

Rütschi: Ja. Viele haben das damals nicht verstanden. Zumal ich in meinem vorherigen Job dreimal so viel verdient habe wie jetzt und man damals munkelte, dass mir nicht mehr viel fehle, um in die Geschäftsleitung zu kommen. Nun jedoch komme ich jeden Tag mit einem Lachen ins Büro. Abends weiss ich, dass ich mehr erreichen konnte, als ich es in einer Bank je könnte. Dazu kommt: Nehmen Sie nur mal vier Stunden lang das Telefon bei 143 ab. Danach haben Sie keine Probleme mehr. Die Geschichten, die man zu hören bekommt, relativieren alles.

zentralplus: Diese Telefonate müssen teilweise sehr belastend sein. Gibt es Themen, die für Sie besonders schwierig sind?

Rütschi: Ich habe das Glück, dass ich sehr vergesslich bin. Das kommt mir in diesem Job sehr gelegen. Ich muss zwar im Moment präsent sein und unterstützen. Es macht jedoch nichts, wenn ich das Erzählte und den Namen nach fünf Minuten vergessen habe. Natürlich gibt es trotzdem Geschichten, die einem sehr nahegehen. Gerade, wenn ein Thema mit mir selber zu tun hat. Oder aber es ruft jemand an, der konkrete Suiziddrohungen macht oder geplagt ist von Hoffnungslosigkeit. Jeder Mitarbeiter hat darum seine eigenen Methoden, etwa Rituale, um den Kopf vor der Schicht klarzubekommen.

zentralplus: Wie reagiert man, wenn man einen akut suizidalen Menschen am Telefon hat?

Rütschi: Wir haben einen klaren Leitfaden, nach dem wir vorgehen.

zentralplus: Sobald die Person das Telefon aufhängt, weiss man nicht, was passiert. Ist das nicht brutal?

Rütschi: Doch. Das ist hart. Wir sehen keine Telefonnummern. Vielleicht ist das aber auch gut so. Wir wissen nicht, wer uns angerufen hat und wo sich die Person befindet. Somit kommen wir auch nicht in Versuchung, bei den Todesanzeigen nachzuschauen oder die Person hinter einer  Telefonnummer ausfindig zu machen. So können wir darauf hoffen, dass sich die Person das Leben nicht genommen hat. Ausserdem: Immer, wenn wir es mit Suiziddrohungen zu tun haben, müssen das die Mitarbeiter nachher melden und es gibt ein Gespräch, um es besser zu verarbeiten. Weiter haben wir eine Psychologin, welche die Mitarbeiter bei Bedarf betreut, und zudem eine externe Supervisorin, an die man sich wenden kann.

zentralplus: Und dann wiederum gibt es Fälle, in denen Straftäter anrufen. Pädophile beispielsweise, um Rat zu suchen. Sie sind an eine absolute Schweigepflicht gebunden und dürfen auch niemanden der Polizei melden. Was tun also?

Rütschi: Puh, das sind ganz schwierige Situationen. Doch einerseits rufen diese Menschen ja an, weil sie irgendwie wissen, dass sie nicht richtig gehandelt haben. Anderseits erteilt 143 ja keine Absolution. Wir dürfen sagen, wenn wir es nicht gut finden, wie jemand gehandelt hat. Und wir können jemandem ans Herz legen, sich bei einer entsprechenden Beratungsstelle zu melden.

zentralplus: Gibt es «Stammkunden»? Menschen, die immer wieder anrufen und die man gern bekommt?

Rütschi: Ja, die gibts. Eine Frau – sie ist mittlerweile verstorben – hat regelmässig bei uns angerufen. Sie war dement, konnte sich aber offenbar noch unsere Nummer merken. Wie wir herausfanden, war sie früher Konzertpianistin. Und es war etwas vom Schönsten, wenn wir sie überreden konnten, uns etwas übers Telefon vorzuspielen. Was ebenfalls sehr schön ist: An Heiligabend rufen Leute auch einmal an, um uns für unseren Einsatz zu danken und dafür, dass es uns gibt.

Wir legen zwar grossen Wert auf die eigene Selbstverwirklichung, darunter leidet jedoch das soziale Netzwerk stark.

zentralplus: Es braucht Sie, die Zahlen belegen es: Allein in der Zentralschweiz haben Sie im letzten Jahr mit 13'000 Hilferufen ein Plus von über 9 Prozent verzeichnet. Wie kommt das?

Rütschi: Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Menschen einsam sind. Wir legen zwar grossen Wert auf die eigene Selbstverwirklichung, darunter leidet jedoch das soziale Netzwerk stark. Trotzdem ist Einsamkeit ein Tabu. Selbst Menschen, die bei uns anrufen, tun das manchmal unter einem Vorwand. Etwa einer Krankheit, obwohl es ihnen primär darum geht, mit jemandem reden zu können.

zentralplus: In Grossbritannien gibt es sogenanntes «Social Prescribing». Der Arzt verschreibt Patienten, dass sie sich sozial stärker engagieren, um ihre Gesundheit zu verbessern. Wäre das eine Massnahme, die für die Schweiz sinnvoll wäre?

Rütschi: Warum nicht? Ich weiss zwar nicht, ob sowas verschrieben werden muss. Aber ja, das würde wohl Anklang finden. Wir haben letztes Jahr in Zug den Kafi-Talk eingeführt. Leute, die einsam sind, können dort hin, um miteinander zu schwatzen. Freiwillige Moderatoren sind dabei und begleiten das Ganze, damit nicht immer die gleichen reden. Das ist eine gute Sache. 220 Personen haben schon daran teilgenommen.

Bei uns arbeiten Schweinebauern, Krankenschwestern und Lehrer.

zentralplus: Vor kurzem haben Sie sich an die Öffentlichkeit gewandt, da Sie dringend neue freiwillige Telefonberatende suchen. Was für Leute suchen Sie?

Rütschi: Leute aus allen Bereichen. Bei uns arbeiten Schweinebauern, Krankenschwestern, Lehrer. Tolerante, psychisch belastbare Personen sind bei uns richtig. Im Vorfeld müssen sie einen neunmonatigen Ausbildungskurs besuchen, insgesamt 200 Stunden in Theorie und Praxis, in denen man sich selber sehr gut kennenlernt. So findet auch ein Ausbildungswochenende in einem Seminarhotel statt. Dort dreht sich alles nur um einen selber. Da merkt man schnell, ob jemand geeignet ist oder nicht. Und wenn sie selber zu wenig reflektiert sind, müssen wir es ihnen sagen. Das liegt in unserer Verantwortung.

zentralplus: Die Mitarbeiter leisten Fronarbeit. Sie arbeiten mindestens 10 bis 15 Prozent, machen auch Nachtschichten und sind zudem oft mit sehr schweren Themen konfrontiert. Das klingt nicht allzu verlockend.

Rütschi: Das stimmt. Umso mehr bin ich stolz darauf, dass wir so viele langjährige Mitarbeiter haben. Die durchschnittliche Dauer, über die jemand bei uns arbeitet, liegt bei acht Jahren. Eine Krankenschwester, die nebenbei voll arbeitet und auch Nachtschichten macht, ist bereits seit 20 Jahren bei uns tätig. Ich bin riesig stolz, dass wir 50 bis 60 Leute haben, die ihre Zeit schenken, ohne etwas dafür zu bekommen. Denn nicht einmal Spesen werden vergütet.

zentralplus: Trotzdem haben Sie Ausgaben. Fixe Mitarbeiter, Büro, die Ausbildung, die Sie den Mitarbeitern zahlen. Wie finanziert sich das alles?

Rütschi: Durch Spenden, Stiftungen und wenig kantonale Lotteriegelder. Vom Bund erhalten wir hingegen kein Geld.

In der Schweiz gibt es jährlich 1400 Suizide, doch erhalten wir für unsere Arbeit keine Unterstützung vom Bund.

zentralplus: Das ist erstaunlich. Sie werden von aussen als offizielle Institution wahrgenommen.

Rütschi: Das stimmt. Wir haben letztes Jahr schweizweit 176'000 Beratungsgespräche geführt. Das ist eine riesige Zahl, wenn man sich die Einwohnerzahl der Schweiz von 8 Millionen vor Augen führt und davon all jene Leute abzieht, die nicht telefonieren können. Trotzdem bekommen wir vom Bund kein Geld.

zentralplus: Das klingt etwas frustriert.

Rütschi: Ja. In der Schweiz gibt es jährlich 1400 Suizide, doch erhalten wir für unsere Arbeit keine Unterstützung vom Bund. Zum Vergleich: Jedes Jahr verzeichnet man hierzulande ungefähr 250 Verkehrstote. Für die Prävention von Verkehrsunfällen setzt der Bund Millionen ein.  

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