«Mimito» im Kleintheater Luzern

Die Bremer Stadtmusikanten auf Rachefeldzug

Claudia Berg, Melinda Giger, Sylvie Kohler und Christov Rolla stehen mit «Fleisch» auf der Bühne.

(Bild: zvg)

Die Bremer Stadtmusikanten, einst harmlose Besetzer eines Räuberhauses, fahren zurzeit im Luzerner Kleintheater mit gröberem Geschütz auf. Grund der Empörung ist die Frage, wie viel Leid der Mensch mit seiner Fleischeslust dem Tier zufügt. Diese präsentiert das Theaterkollektiv «Mimito» mal barbarisch, mal humoristisch und ästhetisch stets ansprechend.

Nach einem betörend dramatischen Pianoauftakt betreten vier von der Gesellschaft ausgestossene Gestalten die Bühne. Den Nachtwächter haben sie soeben überwältigt und in den Kühlraum gesperrt. Die kampfentschlossene Bande ist gerade dabei, einen stillgelegten Schlachthof zu besetzen. Dann wird erst mal abgehängt, gefeiert und gesoffen. Doch es wird schnell klar, dass hier die Revolution in der Luft liegt: «Wenn ihr die Macht seid, sind wir die Macheten», lautet eine der Kampfansagen der wütenden Rädelsführerin Mira.

Das Theaterkollektiv Mimito beschäftigt sich im aktuellen Stück «Fleisch. Ein Melodarm.» mit unserem Fleischkonsum und letztlich mit der Frage nach der Würde des Tieres. Am Mittwoch war Premiere im vollbesetzten Kleintheater.

Massaker am «Fucking Wunder des Lebens»

Im verlassenen Schlachthof finden die vier Hausbesetzer während ihres nächtlichen Gelages ein Spiel mit Fragen zu Ernährung, Massentierhaltung, Tiertötung und Fleischverwertung. Wie lässt sich der Betäubungserfolg eines Schweines feststellen? Batterie- versus Bodenhaltung: Wo ist dem Huhn mehr Platz vergönnt? Beklemmende Fakten führen dem Publikum vor Augen, wie global die industrielle Fleischproduktion heute ist: Deutschland etwa exportiert pro Jahr 42 Tonnen Hähnchen nach Afrika.

Zur perfekten Verwertung von Tieren gehört auch, dass die ausrangierte Legehenne als Biogaslieferant ihre letzte Bestimmung findet. Moralisch vertretbar oder durchorganisiertes Verbrechen? «Wie tief ist der Mensch geistig oder spirituell gesunken, um ein solches Massaker an unseren Mitgeschöpfen, am Fucking Wunder des Lebens anzurichten?», schreit Mira, schon halb Katze geworden, ins Publikum.

Kultur mit Fondue Chinoise oder industrielles Massaker?

Der Fleischverzehr wird aber nicht nur als barbarischer, unmoralischer Akt dargestellt. In humoristischer A-Cappella-Manier etwa werden Gulasch, Čevapčiči und Cordon bleu besungen und gepriesen. Christov Rolla, ob in der Rolle als syrischer Flüchtling oder als lastentragendes Grautier aus dem Nahen Osten, begleitet die gesanglichen Einlagen hervorragend mit seiner Gitarre und verleiht dem Stück damit eine gehörige Intensität.

Doch auch über der Lobpreisung von fleischlichen Gaumenfreuden hängt die Frage, wie viel Leid der Mensch dem Tier mit seiner unstillbaren Fleischeslust zufügt. Auch im Kanton Luzern findet das stumme Massensterben von sogenannten Nutztieren statt: Die Firma Bell in Zell, welche sich auf die Verarbeitung von Geflügel spezialisiert hat, pflegt eine offene Kommunikation. Dort werden täglich um die 60’000 Masthühner getötet, wie ein Verantwortlicher auf telefonische Anfrage von zentralplus bestätigt. Dies jedoch nur nebenbei, auf der Bühne im Kleintheater wird eine Rechnung anderer Art gemacht. Davon später.

Hervorragende Inszenierung mit einfachen Mitteln

Nicht nur Mira, auch die anderen Darsteller nehmen nach und nach die Gestalt von Tieren an. Bemerkenswert, wie Nina Steinemann, verantwortlich für die Ausstattung, mit einfachen Mitteln die vier Menschen langsam zu Esel und Hund, zu Katze und Hahn mutieren lässt. Da genügen zwei über die Füsse gestülpte, graue Badehauben als Eselshufe oder eine Zimmerpflanze als Schwanzfedern für den Hahn.

Diese einsetzenden optischen Veränderungen gehen mit einer zunehmenden Radikalisierung einher. Ob die vier Gestalten zu Beginn nun mehr Mensch oder Tier sind – oder umgekehrt mehr Tier als Mensch –, muss nicht restlos geklärt sein. Im Gegenteil, es gehört zu den Stärken des Stücks, dass die Grenzen fliessend sind. Denn mehrmals wechseln sich menschliche Erfahrungen und tierisches Erleben ab. Was aber im Verlauf des Stücks immer klarer wird: Die Bremer Stadtmusikanten sind auf einem Rachefeldzug.

Die Bremer Stadtmusikanten als Guerillakämpfer

Anders als die harmlosen Bremer Stadtmusikanten von damals, die sich mit der Beschlagnahmung eines Räuberhauses begnügten, setzen die Schlachthofbesetzer auf die ultimative Abrechnung. Als Erstes knöpfen sie sich den eingesperrten Nachtwächter vor. Nachher rufen sie gar den internationalen Terror gegen die Menschheit aus. Mehr soll hier nicht verraten werden.

Das Stück «Fleisch. Ein Melodarm.» ist makaber, zynisch und radikal. Für die Umsetzung sei ihnen jedoch wichtig gewesen, so die Regisseurin Ursula Hildebrand, auch grässliche Tatbestände ästhetisch ansprechend umzusetzen. Das ist dem Theaterkollektiv Mimito gelungen: ein tolles Stück, sprachlich, musikalisch und theatralisch imposant und wirkungsvoll umgesetzt.

Weitere Aufführungen im Kleintheater finden am 20. und 21. Oktober statt. Nachher geht Mimito mit dem Stück auf Tournee.

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