Neuer Stadtteil «Luzern Nord» (Teil 2)

Die andere Realität von Reussbühl

Monika Halter-Ineichen führt die Velohandlung Ineichen in dritter Generation. Sie hat an der Hauptstrasse 58 einen neuen Laden gefunden.

Quartierbewohner leiden unter Lärm und Dreck der Bauarbeiten rund um den Seetalplatz. Manche wissen nicht einmal, ob ihr Haus in einigen Jahren noch stehen wird. Fakt ist: Im Zug des Megaprojekts verschwindet in Luzern weiterer günstiger Wohnraum. Ein Augenschein in einem Haus an der Hauptstrasse in Reussbühl.

Zwei baufällige Häuser an der Hauptstrasse sind schon verschwunden. Die Häuser gehörten der Baugenossenschaft Reussbühl und standen dem Strassenbauprojekt des Kantons im Weg. In den letzten Jahren wohnten vor allem Studenten dort, es war günstig. «In einem halben Jahr mussten alle raus und etwas Neues finden», erinnert sich Monika Halter-Ineichen. Sie ist in Reussbühl aufgewachsen. Ihr Grossvater gründete um 1918 das Velogeschäft Ineichen. Fast 100 Jahre befand es sich am selben Ort, im Haus mit der Nummer 60, das abgerissen worden ist.

Veloladen wurde heimatlos

Monika Halter-Ineicheichen musste rasch ein neues Lokal finden. Gleich nebenan, an der Hauptstrasse 58, wurde sie fündig und ist seit 2014 dort. Das Haus ist nunmehr das letzte Gebäude vor dem Seetalplatz und steht neben der Baustelle irgendwie im Niemandsland. Auch seine Zukunft ist momentan offen. Wir haben uns in der Liegenschaft umgeschaut – und ganz viel spannendes Leben darin entdeckt.

Beginnen wir im Erdgeschoss. Obwohl das Lokal kleiner ist, zahlt Monika Halter-Ineichen, die den Veloladen ihrer Familie in dritter Generation führt, nun mehr Miete. «Früher zahlte ich 500 Franken», sagt die junge Frau. Jetzt sind es fast drei Mal mehr. Beklagen will sie sich aber nicht. «Ich bin froh, wieder etwas im Quartier gefunden zu haben.» Im Gegensatz zu anderen, die über die Verkehrsberuhigung frohlocken, fragt sich die Gewerblerin, ob nachher noch jemand den Weg zu ihr finden wird. «Heute halten Automobilisten immer wieder mal bei mir und posten rasch ein Velo.»

Moschee in Liegenschaft

Im selben Haus Nummer 58 befindet sich seit 1977 auch eine Moschee. Die vielen Schuhe vor der Wohnung im ersten Stock zeugen davon. In der zum Gebetsraum umfunktionierten Wohnung treffen sich täglich rund 20 Männer. Zum Freitagsgebet können es bis zu 80 sein. «Wir waren die erste Moschee in der Zentralschweiz», sagt Eskim. Am Anfang trafen sich Moslems aus der Türkei, Albanien, Bosnien in Reussbühl. Mittlerweile haben sie eigene Gebetshäuser in Luzern und Umgebung. Im Vereinslokal treffen sich seither vor allem türkische Männer zu Gebet und sozialer Kontaktpflege. Zur Zukunft der Liegenschaft sagt der Sprecher: «Bis 2018 können wir mindestens hier bleiben, hat man uns gesagt.»

Interesse an Blockrandbebauung

Im Haus befand sich einst der Konsum (heute Coop), später die Druckerei Suter. Heute gehört die Liegenschaft den Söhnen des Druckers. Alex Suter, Hausarzt in Hergiswil, gibt zentral+ Auskunft über den Stand der Dinge. Er erklärt, dass das Haus eigentlich nicht mehr in den Perimeter für die geplante Blockrandbebauung Reussbühl-Ost gehöre. Man habe aber bei der Stadt und den Grundeigentümern angefragt, ob man sich allenfalls an der Überbauung beteiligen könne. Die Grundeigentümer im Areal sind daran, eine Interessengemeinschaft zu gründen (zentral+ berichtete).
Ob sich die Besitzer der Liegenschaft am Bauprojekt beteiligen, hängt unter anderem von der möglichen Ausnützungsziffer eines Neubaus ab, sagt Suter. Momentan sei alles noch offen, sagt Suter. «Entweder lassen wir das Haus stehen und renovieren es. Wenn das Angebot interessant ist, könnten wir aber auch beim Projekt der Blockrandbebauung mitziehen.»

Es geht also vor allem um finanzielle Aspekte. Generell haben einige Hausbesitzer im Areal viel Geld gemacht in letzter Zeit, indem sie ihre Liegenschaften gut verkauften, erfahren wir bei Immobilienspezialisten.

Mieter möchten bleiben

Wenn sich die Hauseigentümer Suter doch für die Beteiligung an der Blockrandbebauung entscheiden, wird das Haus Nummer 58 ebenfalls verschwinden, und einige Familien im Haus verlieren ihr Dach über dem Kopf. Eine Mieterin zeigt zentral+ ihre Wohnung, möchte aber aus Angst vor Konsequenzen nicht namentlich genannt werden. Die 4,5-Zimmer Wohnung kostet netto nur rund 1000 Franken. «Eine Superwohnung für uns», sagt die Mieterin. Die Familie hat auf eigene Kosten einiges renoviert. «Wir haben uns letztes Jahr einmal umgeschaut. Man findet in Luzern nur kleinere Wohnungen, die in noch schlechterem Zustand sind als diese.»

Die Bauarbeiten um den Seetalplatz 2014 seien eine Tortur, sagt die Frau. «Doch man gewöhnt sich an alles». Das ganze Haus habe gezittert, als Pfähle in den Boden gerammt wurden. «Lüften könnte man in dieser Zeit auch vergessen.» Momentan ist es ruhig, doch das kann sich schnell wieder ändern.

Was sie aber am meisten fertig macht, ist die Ungewissheit, meint die Mieterin. «Wir würden gerne wissen, ob wir in zwei bis drei Jahren noch hier bleiben können.» Doch die Hausbesitzer wissen das ja momentan selber nicht so genau. Was hält die Mieterin von den Diskussionen um Baupläne und Wettbewerbsverfahren im Gebiet? «Ich verstehe da nur Bahnhof», sagt unsere Gesprächspartnerin. «Das ist auch nicht von allzu grossem Interesse für mich. Wir wollen einfach nur bleiben können.»

Keine Neubau-Pläne in anderen Liegenschaften

zentral+ hat sich auch erkundigt, was die anderen Grundeigentümer an der Hauptstrasse für die Zukunft planen. Haus Nummer 54 gehört Sinnathurai Gameshalingam. «Ich habe keine Neubaupläne», sagt der Besitzer aus Sri Lanka auf Anfrage. Die Liegenschaft Hauptstrasse 52 gehört laut kantonalem Grundbuchamt der Ubinas AG aus Kriens. «Wir warten ab und haben momentan keine Pläne», sagt eine Firmensprecherin. Das Haus erfahre eine Wertsteigerung momentan. Im Erdgeschoss befindet sich ein grosser indischer Kleiderladen mit einem langjährigen Mietvertrag. Oben im Haus sind 3,5- und 4,5-Zimmer Wohnungen, das Haus hat eine langjährige Mieterschaft. «Unsere Mieten bewegen sich zwischen 1300 und 1400 Franken», sagt die Firmensprecherin. Eine Mietzinserhöhung sei nicht geplant, diese müsste man ja rechtfertigen können.

Quartierverein: «Positive Entwicklung»

Was sagt der etablierte Quartierverein Reussbühl zu all dem? Der Verin mit rund 550 Mitgliedern, darunter viele Familien und Firmen, begrüsst laut Präsident Fabrizio Laneve die Entwicklung im Quartier. «Wir betrachten sie positiv und sind froh, dass das Projekt Seetalplatz, die Umfahrung und der Hochwasserschutz endlich realisiert werden. Das Projekt ist eine riesige Chance, unseren Ortsteil nachhaltig zu entwickeln», fügt Laneve hinzu.

Dass günstiger Wohnraum im Quartier teilweise verschwinde, sei sozialpolitisch schwierig, sagt Laneve. Aber viele Liegenschaften seien in einem baufälligen Zustand, in den letzten Jahren sei wegen der Pläne des Kantons nicht mehr viel investiert worden. Die Mieten in den geplanten neuen Liegenschaften hätten wohl nicht mehr die gleiche Preislage wie heute, meint Laneve. «Aber wir rechnen mit einer Verschiebung. Leute aus anderen Teilen des Quartiers könnten in die moderneren neuen Wohnungen nach Reussbühl-Ost ziehen. Dadurch wird günstiger Wohnraum an anderen Lagen frei.»

Die Gentrifizierung wird bald auch in Reussbühl Einzug halten.

Wohnen Sie im Reussbühlquartier? Sind Sie dort aufgewachsen? Was halten Sie von den geplanten Veränderungen beim lange vernachlässigten «Eingangstor Luzerns»? Teilen Sie Ihre Geschichten, und schreiben Sie uns Ihre Meinung mit der Kommentarfunktion.

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