Die Rikscha, die niemand wollte

«Der Westen wird immer dicker und unsportlicher»

Die alte Rikscha hat schon so einige Abenteuer hinter sich. Und damit vielleicht auch ihre besten Zeiten? (Bild: jav)

An der Velobörse auf dem Luzerner Nationalquai wechselte am Wochenende so manches Velo seinen Besitzer. Alleine stand eine alte Rikscha auf dem Kiesplatz und wusste nicht wohin mit sich. Wir haben uns mit ihr unterhalten, und auch die inneren Werte der alten, immigrierten Schönheit kennengelernt – ihre Intelligenz, aber auch ihren Trotz.

Es ist kurz vor vier. Enttäuscht steht sie in der kalten Frühlingssonne und rostet vor sich hin. Sie ist nicht mehr die Jüngste, Spinnweben und Beulen verraten ihr Alter. Eine alte Rikscha, unbeachtet steht sie zwischen den glänzenden Bikes an der Velobörse und macht einen herzlich verlorenen Eindruck. Zwischendurch klettert ein Kind auf ihren Schoss, Leute bleiben stehen und amüsieren sich. Doch ernsthaft kaufen wollte sie bis jetzt, eine Viertelstunde vor Ende der Velobörse, niemand. Wir haben uns Zeit für sie genommen, mit einem kleinen Interview.

zentral+: Alte Rikscha, viele Velos sind bereits verkauft. Wie fühlt es sich an, noch immer hier zu stehen?

Alte Rikscha: Sie gibt sich tapfer, reckt den Sonnenschirm in die Höhe. Ich komme klar. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich den Besitzer wechseln muss. Aber die anderen Velos werden immer jünger und frecher. Ein Mountainbike machte sich vorhin über meinen breiten Hintern lustig. Sowas hab ich bisher noch nie erlebt.

zentral+: Bleibst du denn nun bei deinen derzeitigen Besitzern?

Alte Rikscha: Sie lässt deprimiert den Lenker hängen. Ich bin mir unsicher. Ich werde ja grundsätzlich geschätzt, zuhause. Doch ohne Grund werden sie mich kaum hierher gebracht haben. Vielleicht bleibe ich noch ein Jahr bei ihnen. Vielleicht stellen sie mich auch auf Ricardo. Ich hoffe bloss, ich komme nicht zum Schrotthändler. Es gibt doch bestimmt irgendeinen Hippie-Künstler, der mich für sein seltsames Projekt brauchen könnte. Johnny Burn hat ja auch schon mal ein Tuc Tuc adoptiert.

zentral+: Als erfahrenes Velo, wie nimmst du die Entwicklung der Velobörse war?

Alte Rikscha: Erst möchte ich klarstellen. Ich bin nicht einfach ein Velo. Ich habe trotz meines Alters noch so einiges mehr zu bieten. Ich muss jedoch sagen, es geht hier sehr gesittet zu und her. Selbstverständlich typisch schweizerisch. Alles ist geregelt mit Nummern und Schlangenstehen und ehrenamtlichen Beratern. Nur das wilde Probefahren auf der Promenade halte ich für gefährlich. Ich habe heute früh mit dem Tandem gewettet, dass noch einer in den See fällt. Leider werden wir die Wahrheit nie erfahren und die Wette wird ungeklärt bleiben, da uns ja keiner probefährt.

«So viele Hinterteile wie in diesen zwei Jahren haben mich nie wieder besessen.»

Zentral+: Verfolgst du den politischen Einsatz einiger Menschen für deine Spezies, ich spreche beispielsweise von ProVelo?

Alte Rikscha: Selbstverständlich. Nur weil ich nicht abstimmen kann, heisst das nicht, dass ich mich nicht an Diskussionen im Velokeller beteilige. Vor allem die Debatte um die Veloparkplätze an der Zentralstrasse habe ich gespannt mitverfolgt. Obwohl ich dort ja gar keinen Platz hätte. Ich würde auch schrecklich gerne wieder einmal an einer Velodemo teilnehmen. Da bin ich immer sehr willkommen – eine Art Attraktion könnte man fast sagen.

zentral+: Wie bist du überhaupt zur Rikscha geworden?

Alte Rikscha: Ich erinnere mich noch genau an den Tag meines Umbaus. Vom gewöhnlichen Velo wurde ich innert einer Woche zur Rikscha. Ein erster Schock, beim plötzlichen Verlust meines drahtigen Hinterteils, ein zweiter bei der Veränderung meiner ganzen Ästhetik. Doch als mein neues, schönes und bequemes Hinterteil fertig war – da war ich überglücklich. Bestimmt ging es Kim Kardashian und Nicki Minaj nach ihrem Umbau genauso. Sehr zu empfehlen. Sie klingelt vergnügt.

zentral+: Du bist ja nicht mehr die Jüngste. Erzähl uns doch eine spannende Geschichte aus deiner Jugend.

Alte Rikscha: Als ich erst einige Monate eine Rikscha war, im Familienbesitz, wurde ich bereits geklaut und einige hundert Kilometer aus dem kleinen Dorf in die Stadt gefahren. Ein junger Mann wollte sich selbstständig machen und ist schliesslich Tag und Nacht mit mir durch Mumbai gefahren. Ich habe selbst hohe Geschäftsleute transportiert, wenn der Verkehr zu stark war. Das war eine aufregende Zeit. So viele Hinterteile wie in diesen zwei Jahren haben mich nie wieder besessen.

Doch damit ist es vorbei. Nicht einmal betrunkene Jugendliche interessieren sich in der Schweiz dafür, mich zu klauen. Man sieht mich an, man amüsiert sich, man hält mich für zu kompliziert, zu anstrengend. Ich muss mich wohl damit abfinden, dass meine beste Zeit vorbei ist.

Zahlen zur Velobörse
  • 797 Velos standen zum Verkauf
  • 463 wurden verkauft
  • 63 freiwillige Helfer standen bereit
  • 28 Jahre findet die Velobörse bereits statt

zentral+: Weshalb zu anstrengend?

Alte Rikscha: Ich lehne mich nun ein bisschen zum Fenster hinaus. Aber ich behaupte: Es liegt nicht an mir. Es liegt daran, dass der Westen immer dicker und unsportlicher wird. Die Leute haben ja kaum die Kraft sich selbst ohne Elektroantrieb fortzubewegen. Und dann noch jemanden zusätzlich zu transportieren, das ist denen zu viel. Auch die Velostreifen sind einfach nicht Rikscha-gerecht. Wie soll ich mich da integrieren? Ein bisschen entgegenkommen müsste man mir schon. Sie bricht in ein leises, trauriges Klingeln aus.

Zur Beruhigung aller mitfühlenden, nun bestürzten Leser: Nachdem wir uns fünf Minuten die anderen Velos angeschaut hatten, um ihr die Zeit zu lassen sich zu beruhigen, war die alte Rikscha plötzlich verschwunden. Ob sie vom Besitzer zurück nach Hause, oder von einem begeisterten Käufer mitgenommen wurde, wissen wir nicht. Wir hoffen auf ein Happy End.

Einen zweiten und dritten Blick auf die alte Schönheit und die Velobörse können Sie in der Slideshow erhaschen:

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