Studie stellt Luzerner Autobahnzubringer infrage

«Der Nutzen von solchen Infrastrukturen wird überschätzt»

Visualisierung der Spange-Nord-Gegner zur geplanten neuen Reussbrücke. (Bild: zvg)

Ein Gutachten lässt an den Zahlen des Kantons Luzern zweifeln und hinterfragt den Sinn der neu geplanten Reussportbrücke mitsamt städtischem Autobahnanschluss. Der Autor sagt im Interview, wo er die Mängel in bisherigen Berechnungen sieht.

Das Wachstum des motorisierten Individualverkehrs (MIV) werde überschätzt, gesellschaftliche Entwicklungen würden ausgeblendet und Verbesserungen beim ÖV kaum berücksichtigt: Dieses Fazit ziehen die beiden Verkehrsexperten Alexander Erath (Fachhochschule Nordwestschweiz) und Kay W. Axhausen (ETH Zürich).

Sie haben ein unabhängiges Gutachten mit Verkehrsprognosen bis 2040 für Luzern erstellt und hinterfragen die Zahlen des Kantons Luzern – und damit auch dessen Pläne für die Reussportbrücke im Gebiet Fluhmühle mit Autobahnanschluss Lochhof (zentralplus berichtete).

Bedeutende Faktoren kommen in den Prognosen des Kantons bisher nicht vor – etwa die alternde Bevölkerung (– 4 Prozent Verkehrswachstum) oder Lenkungsmassnahmen wie Mobility Pricing (– 9 bis 12 Prozent). Das wäre eine glatte Halbierung des erwarteten Wachstums des motorisierten Individualverkehrs (MIV) von rund 22 Prozent bis 2040. Es gibt also Werkzeuge und Stellschrauben, um den Verkehr zu lenken.

Beauftragt hat die 20’000 Franken teure Studie die Gegenbewegung zum geplanten Autobahnanschluss. Die beiden Wissenschaftler betonen, dass sie unabhängig vorgegangen sind und die IG Reussport Nein keinen Einfluss auf ihre Arbeit geübt habe.

Das neue Gutachten stellt die bisherigen Prognosen infrage, mit denen der Kanton den neuen Autobahnzubringer legitimiert. Wir sprachen mit dem Gutachter Alexander Erath.

Alexander Erath, Professor für Verkehr und Mobilität an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).

zentralplus: Sie betonen Ihre Unabhängigkeit. Wären Sie zum gleichen Schluss gekommen, wenn der Kanton Luzern Ihr Auftraggeber gewesen wäre?

Alexander Erath: Das ist so, ja.

zentralplus: Welche Aspekte hat der Kanton in seinen Prognosen zur Spange Nord hauptsächlich vernachlässigt?

Erath: Es wird davon ausgegangen, dass sich die Nachfrage im motorisierten Individualverkehr (MIV) mehr oder weniger parallel mit dem Bevölkerungswachstum entwickelt. Wenn wir aber sehen, wie sich die Nachfrage in den Städten – auch in Luzern – in den letzten fünf bis zehn Jahren entwickelt hat, dann sehen wir, dass der MIV ab- und der öffentliche Verkehr zunimmt. Das unterscheidet sich vom bisher prognostizierten Nachfragewachstum. Das heisst: Der Nutzen von solchen Infrastrukturmassnahmen wird überschätzt.

«Wollen wir Infrastrukturausbauten oder andere Massnahmen im Mobilitätsmanagement?»

zentralplus: Brauchen wir also die Reussportbrücke als abgespeckte Spange Nord und andere Infrastrukturmassnahmen womöglich gar nicht?

Erath: Wenn wir von keinem Nachfragewachstum im MIV ausgehen, dann sind diese Basisausbauten tatsächlich nicht notwendig. Ich kann nur dazu raten, mit einem neuen Verkehrsmodell diese Fragen neu zu stellen und zu beurteilen.

zentralplus: Trotzdem sagten Sie bei der Präsentation des Gutachtens, dass es nicht Ihr Ziel war, das Projekt des Kantons abzuschiessen.

Erath: Das ist richtig. Das Ziel des Gutachtens ist, die methodischen Grundlagen, die dem Synthesebericht des Kantons zugrunde liegen, nochmals anzuschauen. Wir analysieren, auf welchen Annahmen die Wachstumsprognosen des motorisierten Verkehrs beruhen und hinterfragen, ob das im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung des Stadtverkehrs noch Gültigkeit hat.

Zur Person

Alexander Erath ist Professor für Verkehr und Mobilität an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Zuvor war er am Future Cities Laboratory der ETH Zürich in Singapur tätig und gründete das forschungsorientierte Verkehrsplanungsbüro Erveco. Das Hauptinteresse seiner Forschungstätigkeit liegt in der Erhebung und Modellierung des Verkehrsverhaltens sowie der Weiterentwicklung und Anwendung von Verkehrsmodellen.

zentralplus: Auch der Zuwachs von ÖV-Abos wurde bisher unterschätzt.

Erath: Im bisherigen Verkehrsmodell ist der Zuwachs von Abonnementen im öffentlichen Verkehr nicht adäquat berücksichtigt worden. Auch die demografische Entwicklung wurde nicht vollständig abgebildet.

zentralplus: Die Gesellschaft wird älter, wie wirkt sich das auf das Mobilitätsverhalten aus?

Erath: Bis 2040 gehen wir davon aus, dass der Anteil der Über-65-Jährigen deutlich steigen wird. Diese Personen unternehmen weniger Fahrten pro Tag und ganz wichtig: Sie sind nicht zu Spitzenstunden am Morgen und Abend unterwegs. Unsere Infrastruktur bauen wir für diese Spitzenstunden zu den Hauptpendlerzeiten.

zentralplus: Auch die Verdichtung werde zu wenig abgebildet, kritisieren Sie.

Erath: Die Siedlungsentwicklung nach innen ist ein wichtiger Aspekt. Zwar ist im bisherigen Modell abgebildet, dass Leute, die näher an Bahnhöfen wohnen, eher mit dem ÖV unterwegs sind. Aber es berücksichtigt eben nicht, dass Leute, die nahe am Bahnhof wohnen, auch eher ein ÖV-Abo besitzen und dementsprechend anders entscheiden, wie sie zur Arbeit gehen.

«Wenn sie miteinander geteilt werden, sind autonome Fahrzeuge eine grosse Chance.»

zentralplus: Was empfehlen Sie dem Kanton?

Erath: Das zukünftige Verkehrsmodell sollte die wesentlichen Kritikpunkte, die wir aufgezählt haben, aus dem Weg räumen. Man sollte aber über ein Variantenstudium von Infrastrukturbauten auf der Strasse hinausgehen. Im Kanton Luzern wird noch an anderen Stellen gearbeitet, um die Mobilität in den Griff zu kriegen.

zentralplus: Sie sprechen den Durchgangsbahnhof an.

Erath: Der Durchgangsbahnhof als sehr langfristiges Projekt ist das eine. Das andere sind Mobilitätsmanagement-Massnahmen, etwa die Parkraumbewirtschaftung oder Mobility Pricing. Wir müssen uns als Planer und Gesellschaft je länger je mehr fragen: Wollen wir Infrastrukturausbauten oder andere Massnahmen im Mobilitätsmanagement?

zentralplus: In einem anderen Zusammenhang fiel die Aussage «Mehr Köpfchen statt Beton». Gilt das auch hier?

Erath: Verkürzt und in doppeltem Sinn. Mehr Köpfchen bei der Planung, um dann zu schauen, ob man mit mehr Köpfchen statt Beton durchkommt.

«Je dichter wir wohnen, desto weniger Verkehr verursachen wir.»

zentralplus: Sie sagten, dass wir für Jahrhunderte bauen, sich die Technik aber in Fünfjahresschritten entwickelt. Autos fahren vielleicht bald autonom. Wie beeinflusst das die Planung von Infrastrukturprojekten?

Neues Verkehrsmodell angekündigt

«Wir werden das Gutachten prüfen und uns mit diesen Aussagen auseinandersetzen», heisst es beim kantonalen Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartement auf Anfrage. Es werde voraussichtlich ein Gespräch mit den Autoren geben, wann und wer alles teilnehme, sei noch offen. Auf den Vorwurf von veralteten Zahlen kündigt der Kanton ein neues Gesamtverkehrsmodell an, das voraussichtlich Mitte 2020 erscheint.

Erath: Es ist definitiv eine Möglichkeit. Die Technologie hat sich zwar weniger schnell entwickelt, als von einigen Firmen erhofft. Wir müssen aber davon ausgehen, dass diese Entwicklung längerfristig kommt. Und dann müssen wir damit umgehen können.

zentralplus: Führen selbstfahrende Autos zu weniger Verkehr?

Erath: Es kann vieles passieren, wenn wir autonom unterwegs sind. Es kann zu einer weiteren Zersiedelung führen, weil die Leute längere Pendeldistanzen auf sich nehmen. Man kann aber davon ausgehen, dass wir die Kapazität der Strassen besser ausnutzen können, weil die Fahrzeuge besser aufeinander abgestimmt sind. Es wird zusätzliche Leerfahrten geben, weil man das Auto wieder heimschicken kann oder um die Kinder abzuholen. Wenn sie wie Kleinbusse miteinander geteilt werden, sind autonome Fahrzeuge aber eine grosse Chance.

Auch der massive Bedarf an Parkplätzen kann sich reduzieren. Das bietet wiederum Möglichkeiten für eine weitere Verdichtung nach innen. Und wir wissen: Je dichter wir wohnen, desto weniger Verkehrsleistung und Personenkilometer verursachen wir.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von CScherrer
    CScherrer, 30.01.2020, 07:43 Uhr

    Es braucht auch keine baulichen Massnahmen, weil diese tatsächlich keinen Nutzen bringen. Die Stadt Luzern soll sich die Verkehrsproblematik zu Nutzen machen. Maut-Gebühren sind ein sehr gutes Mittel und generieren Einnahmen. Der Individualverkehr muss aus der Stadt verbahnt werden. Das ist übrigens wirtschaftlich von sehr großem Nutzen und funktioniert in anderen Grossstädten wie London etc. hervorragend. Mit den Einnahmen aus den Maut-Gebühren kann der öffentliche Verkehr subventioniert werden. Hier müssen zwingend Überlegungen gemacht werden, ob der öffentliche Verkehr in der Stadt sogar gratis angeboten werden kann. Anstelle von hunderten Millionen Franken ausgeben, können durch minimale Anpassungen Millionen generiert werden.

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    • Profilfoto von Ram Dass
      Ram Dass, 30.01.2020, 09:15 Uhr

      Ich stimme Ihnen 100%ig zu!! Das Problem ist gerade, dass es nicht so sein soll. Der gewünschte Soll-Zustand, der mit solchen Projekten herbeigeführt werden soll und in erster Linie zum bürgerlichen Polit-Repertoire gehört, ist eben gerade NICHT, Mittel einzunehmen und tragfähige und wirtschaftliche Lösungen zu entwickeln, sondern Mittel auszugeben/investieren (Bauaufträge für die Bauindustrie akquirieren in Millionenhöhe!).

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