Hört auf, die Geisteswissenschaftler fertigzumachen
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Die öffentliche Diskreditierung von Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften an der Universität Luzern ist zur Mode geworden. Dabei wird nicht nur mit falschen Zahlen manipuliert, sondern Bildung als Ganzes durch den Dreck gezogen.
Studenten waren schon immer eine leichte Angriffsfläche. Für politische Richtungen von links bis rechts. Für die Bürgerlichen sind sie Faulenzer, die nicht anständig schuften. Für die Liberalen ist es eine Quelle von Ineffizienz, wenn nach dem Studium nicht mindestens für eine Grosskanzlei gearbeitet wird. Und für die Linken sind Studenten eigentlich ganz okay – solange es nicht darum geht, das Gewerkschaftsklientel zu bespielen. Dann wird auch von ihnen gegen die «Langzeitstudenten» ausgeteilt.
Doch im Kern der Debatte befinden sich längst nicht alle Studenten, auch wenn häufig pauschal von ihnen die Rede ist. Kaum je hört man einen FDP-Politiker über angeblich faule Jus- oder Wirtschaftsstudenten klagen oder dass diese dem Steuerzahler auf der Tasche liegen würden. Als Zielscheibe dienen die Geistes- und Sozialwissenschaften. Und damit verbunden die Unklarheit über die ökonomische Verwertbarkeit ihrer Fertigkeiten.
Stimmung machen gegen Geisteswissenschaftler
Auch der Luzerner FDP-Kantonsrat Gaudenz Zemp schlägt in diese Kerbe. Mit einer Fragenliste an die Regierung, in der er sich suggestiv danach «erkundigte», wie gut die Geisteswissenschaftler der Universität Luzern auf das Berufsleben vorbereitet würden. Als ob dieser Qualitätsmassstab nicht auch für andere Studiengänge in Luzern gelten müsste.
In der Liste enthalten: Vorwürfe, die besagten Studenten seien teuer, ineffizient, würden nur Teilzeit arbeiten oder kaum eine Arbeit finden. Und wenn sie mit viel Glück dann doch eine Anstellung erhalten, seien dies nur Jobs, für die sie nie hätten studieren müssen. So zumindest lautet der Tenor seiner Anfrage. Die Regierung rechnet dem Direktor des Luzerner KMU- und Gewerbeverbandes in einer neunseitigen Antwort vor, verfälschende Zahlen zu verwenden (zentralplus berichtete).
Doch mit seiner demagogischen Anfrage trifft er einen Ton, der in Luzern nicht unbekannt ist. Vergangenen Mai hatte die Wirtschaftsprofessorin Andrea Franc in einem Interview mit der NZZ heftig gegen die Studenten der Geisteswissenschaften ausgeteilt (zentralplus berichtete). Sie seien «faul und bekifft». Ausserdem würden sie fast nur in Teilzeit arbeiten – auf Kosten der Steuerzahler. Ihre Aussagen führten zu landesweiten Kontroversen.
Falsche Quelle führt zu Falschaussagen
Schon damals verfasste der Dekan der Kultursozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern, Martin Hartmann, einen Meinungsbeitrag zur Causa. Die Aussagen entbehrten einer statistischen Grundlage. Bei genauerer Konsultierung der Daten zeige sich, dass auch Geisteswissenschaftler fünf Jahre nach ihrem Abschluss zu einem grossen Teil in Vollzeit oder aber in hohen Teilzeitpensen arbeiten.
Diese «Gegenrede» scheint Gaudenz Zemp nicht gelesen zu haben. Denn Zemp wirft wild mit Daten des Bundesamts für Statistik um sich. So schreibt Zemp beispielsweise, dass in der Philosophie 10–20 Prozent der Absolvierenden ein Jahr nach Masterabschluss auf Stellensuche seien. Oder dass 60 Prozent der Kommunikationswissenschaftler für ihren Job keine Uni hätten besuchen müssen.
Der Regierungsrat reagiert in seinem Bericht nüchtern: So seien etwa nur 3 Prozent der Philosophie-Absolvierenden auf Stellensuche. Und lediglich 30 Prozent der Kommunikationswissenschaftler gaben an, ihren derzeitigen Job auch ohne Hochschulabschluss ausführen zu können.
Geisteswissenschaftler sind Fachkräfte
Doch warum halten sich die Falschaussagen so hartnäckig in den Köpfen der Kritiker? Der Grund ist einfach: Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften bieten eine leichte Angriffsfläche. Während Gleichaltrige bereits voll im Berufsleben stehen, das Brot über die Theke reichen oder beim Arzt das Telefon abnehmen, lässt sich der gesellschaftliche Mehrnutzen von Studenten schwerer einschätzen.
So behauptet Zemp zum Beispiel, ein Studium koste 100'000 Franken. Ob es nicht ineffizient sei, wenn am Ende ein Job gemacht wird, für den es kein Studium gebraucht hätte. Abgesehen davon, dass ein Studium in den Geisteswissenschaften im Schnitt die Hälfte kostet, teilt die Regierung ihm auch mit, dass Geisteswissenschaften «grundlegende Fähigkeiten und Kompetenzen» vermitteln, die im gesamten Arbeitsmarkt relevant sind.
Doch nicht nur das. Es stimme, dass Geistes- und Sozialwissenschaftler ein Jahr nach Abschluss häufiger auf Stellensuche seien als andere Studenten. Das liege aber an ihrer breiten Ausrichtung, die viele Möglichkeiten offenhalte. Schon nach fünf Jahren sei der Unterschied in der Erwerbslosenquote gleich null. Und die Geisteswissenschaftler erfolgreich im Arbeitsmarkt integriert.
Denn auch eine Kulturwissenschaftlerin in der Kommunikationsabteilung der Stadt Luzern ist eine Fachkraft. Oder ein Ethnologe in einem Verlag. Eine Soziologin in einer PR-Abteilung. Oder ein Philosoph bei der Stadtbibliothek.
Bildung ist mehr als Ausbildung
Es nervt, dass Bildung fast ausschliesslich in einem Atemzug mit Arbeit verwendet wird. Gaudenz Zemp fragt nach der «Bildungsrendite», also dem zusätzlichen Einkommen durch ein Studium. Es seien neun Prozent pro zusätzlichem Jahr Bildung, antwortete ihm die Regierung. Doch viel wichtiger ist, was die Betonung solcher Kriterien bedeutet.
Die Bildung von jungen Menschen nur nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit zu bemessen, ist ein Trauerspiel. Denn Bildung ist mehr als Ausbildung. Bildung macht dem Menschen die Welt begreiflich, sie verbindet Menschen und verleiht Verständnis. Sie trägt eine Gesellschaft und einen politischen Gemeinsinn. Sie ist Fundament von Verständnis, Geschichte, Forschung und Neugier. Bildung ist das, was uns zusammenhält.
Das soll nicht bedeuten, dass jeder studieren muss. Fähigkeiten und Interessen sind verschieden. Wer Lust hat, im Wald Bäume zu fällen, Bus zu fahren oder eine Mauer zu bauen, verdient die gleichwertige gesellschaftliche Anerkennung wie ein Arzt oder eine Anwältin. Dasselbe gilt aber auch für eine junge Frau, die sich dafür entscheidet, drei Jahre ihres Lebens den Geheimnissen der Ethnologie zu widmen: Sie verdient Anerkennung und Akzeptanz.
Geisteswissenschaftler suchen Sinn, nicht Geld
Denn sie wird es wohl kaum machen, um später viel Geld zu verdienen. Sondern aus intrinsischer Motivation, der Lust aus dem Bauch heraus, ohne Anreize von aussen. Das ist, was Gesellschaft und Arbeitsmarkt heute brauchen: Menschen, die Dinge tun, weil sie es wollen und weil sie einen Sinn darin sehen.
Vielleicht wäre es an der Zeit, dass sich auch ein Arbeitgeberverband darüber Gedanken macht, wie er dem immer grösser werdenden Fachkräftemangel zukünftig begegnen könnte. Allenfalls sogar zusammen mit einem Geisteswissenschaftler, der ihm korrekte Daten liefert. Denn Statistik gehört bei den meisten von ihnen zum Grundstudium.
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