Der Strich im Ibach ist brandgefährlich – doch die Stadt schläft
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Ein Jahrzehnt Stillstand: Frauen im Ibach verkaufen Sex – noch immer unter gefährlichen Bedingungen. Was tut Luzern? Stellt Container und Notrufsäulen auf. Und analysiert. Unserer Autorin reicht die Warterei.
Im Dezember 2023 sagte Martin Merki, damals noch städtischer Sicherheits- und Sozialdirektor, mit monotoner Stimme, was wir alle längst wissen: «Ibach ist ein schlechter Standort, hat eklatante Sicherheitsmängel, ist abgelegen, im Industriegebiet, es fehlt soziale Kontrolle.»
Das wissen wir längst. Seit Tag 1, seit 2012. Seitdem die Strassensexarbeit vom Tribschen in den Ibach verdrängt wurde.
Lähmender Leerlauf
Von Beginn weg war klar: Dieser Ort ist gefährlich. Und dennoch stehen auch ein Jahrzehnt später die Sexarbeiterinnen immer noch im Industriegebiet, warten auf Freier, steigen ins Auto ein – und fahren irgendwohin.
Die Standortfrage flammte immer wieder auf. Auch nach dem Mord an Emiliya, die auf dem Strassenstrich im Ibach anschaffte und deren Körper an einem Sonntag im Jahr 2014 tot aus dem Vierwaldstättersee bei Stansstad gezogen wurde (zentralplus berichtete). Ihre Kinder: ohne Mutter. Ihr Mörder: noch immer frei.
Ein Ort, der nie sicher war
Seit über einem Jahrzehnt ist klar: Nicht die Sexarbeit ist das Problem. Der Standort ist es. Doch das städtische Reglement über die Strassenprostitution verunmöglicht Alternativen.
Jahre später – in denen eine Frau mit einer Pistole bedroht wurde, eine andere mit einer Axt und wieder eine andere an einem Waldrand im Auto vergewaltigt wurde – spricht man also erneut über einen alternativen Standort.
Klar: Der Ibach wurde «sicherer» gemacht. So wie es an einem abgelegenen Ort eben möglich ist. Die Stadt hat gemeinsam mit dem Verein Lisa, der seit 2013 für bessere Arbeitsbedingungen von Sexarbeitenden kämpft, einen zweiten Container realisiert. Eine Notrufsäule wurde installiert, es wurde für bessere Belichtung gesorgt – und ein offizieller Wegweiser montiert.
Noch besser: Die Stadt sucht nun einen Ort, wo Strassenstrich und Lauf- oder Wohnhaus mit Arbeitszimmern zusammen gedacht werden. Luzernplus analysiert beziehungsweise: lässt analysieren (zentralplus berichtete).
506 Tage ohne Fortschritt
Doch die Mühlen der Politik mahlen bekanntlich langsam. Bereits vor 506 Tagen hat der Stadtrat beschlossen, die Standortfrage erneut aufzugreifen – bis heute gibt es weder einen Zeitplan noch konkrete Vorschläge. Auch die Frage, ob Videoüberwachung zur Sicherheit beitragen oder eher Freier abschrecken könnte, wird seit Monaten geprüft. Mehrere Anfragen von zentralplus führten stets zur gleichen Antwort: Man sei noch dran, man könne noch nicht mehr sagen.
Vielleicht sind wir ungeduldig, ja. Doch während man diskutiert und analysiert, fürchten Sexarbeiterinnen weiter um ihre Sicherheit. Und mit ihnen ihre Familien und Kinder.
Abwarten und Verdrängen sind einfacher. Das gilt vielerorts. Die Drogensüchtigen werden vom Busperron 2 verjagt – damit die Postkartenidylle gewahrt wird. Sexarbeiterinnen landen vom Tribschen im Ibach, wo wir sie nicht sehen und nicht hören können. Damit wir nachts sicher nach Hause spazieren, ohne einem Menschen zu begegnen, der uns an gesellschaftliche Realitäten erinnert.
Alle gehören zu Luzern
Luzern besteht nicht nur aus geputzten Gassen, kultivierten KKL-Konzertfassaden und märchenhaften Museggtürmen. Ins Stadtbild gehören der Banker im massgeschneiderten Anzug genauso wie die Sexarbeiterin im Minirock – und der süchtige Bewohner des Bänklis im Vögeligärtli wie die nüchterne Abstinenzlerin. Das Kindergartenkind im Lüchzgi genauso wie der Rentner mit Rollator.
Sie alle gehören zu dieser Stadt, sie alle haben ihren Platz verdient und sollen nicht darum betteln müssen. Es geht nicht um das «perfekte Stadtbild», ein Strich darf nicht im «Nirgendwo» gesetzt werden. Wir müssen Wege finden, wie wir alle in dieser Stadt miteinander auskommen.
Verdrängt statt geschützt
Nach über einem Jahrzehnt Strassensexarbeit im Ibach ist klar: Ein neuer Ort muss her. Dafür braucht es mehr als Container – nämlich den politischen Willen, das Thema auf die Prioritätenliste zu setzen, das Prostitutionsgesetz zu überarbeiten, die Sperrzonen neu zu denken und dranzubleiben, bis ein neuer Ort und ein neues Haus dafür gefunden wurden. Ohne, dass noch ein Jahrzehnt vergeht.
Basel hat es geschafft. Der Strassenstrich ist dort mitten in der Stadt, trotz anfänglichen Widerstands. Auf den Boden gepinselte Strichfrauen zeigen, wo Anwerben erlaubt ist – klar geregelt, sichtbar, sicherer. Was in Basel Realität ist, wurde in Luzern zerredet – und den Schwächsten zum Verhängnis.
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