Ritterschlag für Luzerner Regisseur Livio Andreina

Der kleine Mann hinter dem grossen Welttheater

Seit 30 Jahren als Theatermann unterwegs: Livio Andreina in seinem Bauernhaus. (Bild: hae)

Der Luzerner Theaterschaffende Livio Andreina erhielt nach 30 Jahren Arbeit seinen Ritterschlag: Als Regisseur darf er das Welttheater auf dem Einsiedler Klosterplatz 2020 aufführen – zusammen mit Starautor Lukas Bärfuss. Ein halbes Jahr vorher steckt er schon tief im künstlerischen Prozess.

«Man kann nichts Grösseres machen in der Schweiz», sagt Livio Andreina, mahlt frischen Kaffee und macht auf seiner alten ECM-Maschine kleine, aber höchst intensive Espressi. Der kleine Luzerner Theatermann lächelt verschmitzt, wenn er im grossen alten Bauernhaus ausserhalb Meggens durch seine Künstlerateliers führt. Hier, wo er und vor allem seine Frau täglich werken: er an Texten, sie an Kostümen und Ausstattungen. 

Dabei kommt der 65-jährige Livio Andreina auf sein neuestes Projekt zu sprechen. Es ist eines, das ihn lange umtreibt: das Welttheater Einsiedeln. Er gerät darüber unweigerlich ins Schwärmen. Schon ein halbes Jahr vor der wie immer gross angelegten Aufführung, denn erst im Sommer 2020 findet diese statt. Premiere ist am 17. Juni. Dieser Tage ist der Vorverkauf gestartet.

Kämpfer für die Meinungsfreiheit

Doch Andreina steckt bereits voll in der Vorbereitung, in enger Zusammenarbeit mit Schriftsteller und Dramaturg Lukas Bärfuss – für die einen ist der Thuner ein Starautor, andere sehen in ihm eher einen umstrittenen und eigenwilligen Kämpfer für die Meinungsfreiheit. Bärfuss erhielt 2014 für «Koala» den Schweizer Buchpreis, nachdem schon «Hundert Tage» für Aufsehen gesorgt hatte; er schrieb aber auch schweizkritische Essays. Und am 2. November erhielt er den Georg-Büchner-Preis, «die höchste literarische Ehre, die im deutschen Sprachraum zu erlangen ist», wie die «NZZ» schreibt.

Erfolgreiches Teamwork: Livio Andreina und Autor Lukas Bärfuss. (Bild: zvg)

Livio Andreina liebt die Teamarbeit mit Lukas Bärfuss: «Ich spüre grosse Motivation – aber das Ganze ist auch eine grosse Herausforderung.» Denn grösser geht es wahrlich kaum hierzulande: 1 Stück, 36 Aufführungen, 350 Schauspieler, 2’200 Plätze, 4'800’000 Franken Budget. «Und alles Laien!» 

Bei Aufführungen mit Laiendarstellern ist Andreina Fachmann, in seiner Karriere ist ihm die Arbeit mit Nichtprofis stets ein zentrales Anliegen gewesen. Grund: «Da komme ich sehr nahe an das Wesen des Theaters heran, nämlich an die Auseinandersetzung mit dem Authentischen.»

30 Jahre «Werkstatt für Theater» in Luzern

In 30 Jahren hat die «Werkstatt für Theater» in Luzern, die er mit seiner Frau Anna Maria Glaudemans (61) leitet, über hundert Produktionen verantwortet oder begleitet. Die gebürtige Holländerin und Livio Andreina sind seit 1989 denn auch nicht mehr aus der Luzerner Theaterszene wegzudenken. 

Livio Andreina mit seiner Frau Anna Maria Glaudemans. (Bild: zvg/Georg Anderhub)

Und das leise harmonierende Paar – sie macht die Ausstattung, er besorgt die Regie – hat einen Ruf, der weit über die Region hinausgeht: Der 48-jährige Lukas Bärfuss erklärte im Vorfeld, dass das «eine grosse Sache» sei, für die er «grosse Freude» verspüre. Aber auch ein klein bisschen Angst und er werde mit Demut an diese Aufgabe herangehen. 

Bärfuss’ Bedingung: Regie von Andreina

Voraussetzung für Bärfuss’ Zusage war allerdings, dass «die Regie durch den Luzerner Livio Andreina besetzt wird». Bärfuss wollte in diesem bewährten Team arbeiten, das schon zweimal Früchte trug: Die beiden inszenierten 2006 zusammen mit der Theatergruppe des Einsiedler Kulturvereins Chärnehus den Dreiakter «D Sänger und s Meitschi», eine Tragikomödie, mit der das Ensemble anschliessend schweizweit auf Tournee ging. Und in Zusammenarbeit mit Daniel Fueter haben die beiden «Zimmerstund» realisiert, eine Alpen-Kammeroper zur Befindlichkeit des Schweizerseins.

Das gilt auch fürs Welttheater. Ob tragisch oder komisch – aktuell soll es sein: Der einstige Eisenleger und Tabakbauer Lukas Bärfuss ist ein politischer, zeit- und gesellschaftskritischer Autor. Doch auch ein Kulturpessimist: In einem Interview über die Schweiz konstatierte er in seiner Heimat unlängst «Isolation und Mutlosigkeit».

Aber als Kulturpessimist will er sich diesmal in Einsiedeln nicht verwirklichen. In seinem Stück geht es vielmehr um Aufbruch, um das Feiern, letztlich um die Frage, die immer bleibt und die sich die Menschen in allen Zeiten gestellt haben: Was ist das gute, das richtige Leben? Wo findet sich das Glück?

«Dieses alte Gleichnis von Calderon funktioniert heute so nicht mehr.» 

Livio Andreina, Theatermann

Und sein Pendant Andreina liebt es, Bärfuss’ Ideen auch zeitkritisch zu inszenieren. Er erinnert sich: «Mit Lukas Bärfuss stand ich anfangs auf dem immensen Platz vor dem Kloster und wir hatten beide das Gefühl: Wir wollen gerne an das Welttheater von Calderon anknüpfen – doch dieses alte Gleichnis funktioniert heute so nicht mehr.» 

Denn das Mysterienspiel des Madrilenen Calderon (1600–1681) stammt von 1655 und handelt vom Gesetz der Gnade. Im Zentrum steht die Allegorie, das «Andere»: Auf der einen Seite Gott, auf der anderen die Armen, die Reichen und der König, damit können Zuschauer heute doch nichts mehr anfangen. Heute muss der Einzelne alles selbst erledigen. «Wie könnten wir daraus etwas Heutiges machen?», fragte sich deshalb das kreative Duo Andreina/Bärfuss. 

Dabei kam den beiden immer wieder die alles dominierende Herausforderung in den Sinn: Wofür wäre ich bereit zu sterben? Ja, wofür wäre Livio Andreina bereit zu sterben? Er denkt nicht lange nach: «Für die Kinder.» Punkt. 

«Für meine Göttikinder würde ich sterben, letztlich also für die Menschenwürde.»

Aber Andreina hat doch gar keine Kinder! Der Mann lacht und sagt: «Stimmt, aber für meine Göttikinder würde ich sterben, letztlich also für die Menschenwürde.» Und dann schüttelt er den Kopf, nimmt bedächtig einen weiteren Schluck Espresso. Er denkt nach, stutzt, sagt dann: «Ja, was wollen wir mit dem Stück?» 

Stück von den letzten Fragen

Sie wollen sich mit den Fragen des Menschen beschäftigen und das mit den Zuschauern teilen. Andreina erklärt: «Das Welttheater handelt von den ersten und von den letzten Fragen.» Von jenen Fragen: Wie lebst du im Angesicht deiner eigenen Sterblichkeit? Was ist in deinem Leben wichtig? Was bist du bereit zu opfern? Was ist ein gutes Leben?

An was glaubst du? Was willst du deinen Kindern weitergeben? Was machst du mit deiner Freiheit? Wer sind die anderen für dich, wie willst du mit ihnen leben? Also das Allzumenschliche schlechthin.

Das Stück nimmt sehr direkt Bezug auf Calderóns Vorlage, auf dessen Figuren und die Legende – und verändert sie in einem Punkt entscheidend. Das Welttheater von 2020 beschreibt den Lebenslauf eines einzigen Menschen, einer jungen Frau, die sich schuldig gemacht hat und nach Erlösung sucht. «Sie wandert durch die Jahrhunderte und nimmt verschiedene Rollen an.

Die Arbeit erschöpft sie, die Politik macht sie korrupt, sie flüchtet vergeblich in die Religion, verliert sich im Exzess und in der Ekstase.» Dabei verwandelt sich die junge Frau, wird älter und steht plötzlich als Greisin da. Ein ganzes Leben vollzieht sich, die Weltgeschichte ersteht in Bildern.

Vorfreudig, mit einem Leuchten in den Augen: Livio Andreina. (Bild: hae)

Livio Andreina sagt mit einem Leuchten in den Augen: «Als Regisseur nehme ich den ganzen Entstehungsprozess dieser Inszenierung immer mehr als eine soziale Bewegung wahr. Festgemacht an den Fragen, die uns unsere Schauspieler stellen, wenn wir unsere Gedanken zum Stück erläutern.» 

Der Anspruch ist riesig. Doch dahinter steht ein starkes Team. Wie sagte er doch: «Man kann nichts Grösseres machen in der Schweiz.»

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Trudy Zwyssig
    Trudy Zwyssig, 11.11.2019, 23:11 Uhr

    Den Ausdruck » kleiner Luzerner Theatermann » finde ich schnöslig in Ihrem Artikel. Das ist einfach nicht lustig oder «geistreich». Den Text finde ich ansonsten gut geschrieben.

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