Porträt eines Freigeistes

Der Bewohner von «Biotopia»

Kolja Farjon in seinem Esszimmer. Dahinter seine Bibliothek und schliesslich das Schlafzimmer. (Bild: tob)

George Braconnier sei sein zweiter Name, sagt Kolja Farjon, «George der Wilderer». Wild sind seine Haare und zumindest ungewöhlich sein Wohnort «Biotopia» mitten in einem Zuger Wohnquartier. Aber aussergewöhnlich ist vieles an Kolja Farjon. Dem Wissenschaftler, der die Schmetterlinge zählt.   

Kolja Farjon braucht nicht viel zum Leben. «Bodenhaltung, freier Auslauf und eine Ecke zum ‹scharren›, genau wie die Hühner.» Fehlt davon etwas, werde er allerdings schnell «depressiv». Vor vier Jahren hat sich Kolja Farjon hier im Zuger Riedmattquartier angesiedelt. Zuvor lebte er zehn Jahre lang auf dem Areal der Zuger Jugendherberge. Eine Wohnung mit eigenen Möbeln hat er nie besessen, sondern immer in Wohnwagen oder Zelten gewohnt. «Eine Mietwohnung ist für mich ein Gefängnis. Ich brauche meine Freiheit und den Auslauf.» Heute lebt der 65-Jährige in einem Postauto. «Biotopia» nennt er diesen Ort gleich neben der Lorze und dem Oberstufenschulhaus. 

«Vieles hier ist ausgestorben»

Jetzt sitzt Kolja Farjon vor diesem Postauto mit Baujahr 1968, dreht sich eine Zigarette, wickelt sich in seine Stoffjacke und streicht sich die langen, grauen Haare aus dem Gesicht. Hier kennt er jeden Baum, jede Pflanzen- und Tierart. Der studierte Biologe und Archäologe macht regelmässig Inventur. Er zählt die Bäume am Flussufer oder die Schmetterlinge seiner Umgebung. Beobachtet die vorbeiziehenden Adler und listet alles feinsäuberlich auf. «Ich habe ja nichts anderes zu tun.» Seit 12 Jahren bezieht er eine IV-Rente. Arbeiten als Archäologe kann er nicht mehr. Irgendwann machte seine Bandscheibe die körperlich-belastenden Ausgrabungsarbeiten bei Nässe und Kälte nicht mehr mit. 


«Putzen, putzen, putzen»

Die sich in seiner Umgebung präsentierende Artenarmut beschäftigt den Biologen momentan allerdings weit mehr als sein Rücken. Er erzählt ruhig, dennoch bestimmt. «Das Biotop hier wäre geeignet für doppelt so viele Arten, wie momentan darin zu finden sind. Aber vieles ist ausgestorben.» Die Eidechsen verschwunden, gefressen von den Hauskatzen. Vor drei Jahren gab es über dreissig Schmetterlingsarten, dieses Jahr zählte Kolja Farjon noch vier. Richtig erklären kann er sich das nicht. Einen Einfluss habe bestimmt das schlechte Wetter. Der Unterschied sei dennoch enorm. Überall in der Schweiz vermindere sich die Artenvielfalt. «Die Schweizer sind zu fleissig, sie putzen und putzen und lassen keinen Grashalm stehen.»    

46 Jahre alt, 12 Meter lang und noch immer fahrtüchtig. Das gelbe Haus mit Rädern von Kolja Farjon.

46 Jahre alt, 12 Meter lang und noch immer fahrtüchtig. Das gelbe Haus mit Rädern von Kolja Farjon.

(Bild: tob)

     

Geboren und aufgewachsen ist Kolja Farjon in den Niederlanden. Sein russischer Vorname, benannt nach einer Romanfigur Dostojewskis, und sein französischer Nachname verweisen allerdings nicht auf diese Herkunft. In Amsterdam und Utrecht hat er Biologie und Archäologie studiert. Mit 18 Jahren verliess er die Heimat und wanderte nach Frankreich aus, anschliessend ging es in die Schweiz. «Ich dachte damals, in der Schweiz sei das Klima besser. Diese Annahme hat sich aber als falsch erwiesen.» Aus dem Wallis kam ein gutes Stellenangebot als archäologischer Ausgrabungsleiter. «Ich spreche akzentfrei französisch und mag guten Wein, das passte perfekt.» Es folgten Ausgrabungen in Genf, Neuenburg und Freiburg. 1984 landete er schliesslich in der Zentralschweiz.

Biologe für die Stadt Zug

«Beruflich», sagt er. «Sonst wäre ich nicht hier. Für frankophone Menschen hat man in der Zentralschweiz wenig zu bieten, zudem ist das Klima nicht optimal. Aber die Menschen sind ok.» Lange hat er für die Zuger Stadtbehörden als Biologe gerabeitet. Hat Baumbestände inventarisiert und lokale Weiher saniert. Meist unentgeltlich.


Im Zuger Riedmattquartier kennt man ihn deshalb, Kolja Farjon, den Anarchisten. So bezeichnet er sich selber. Die Leute bleiben für ein Gespräch stehen, oder bringen ihm ihre kaputten Fahrräder, die er in seiner Werkstatt im Postauto umsonst repariert. Die Werkstatt befindet sich gleich hinter dem Fahrersitz. Ihr gegenüber stehen zwei Kühlschränke, die Kochplatten und der Essbereich. Es gibt fliessendes Wasser, eine Gasheizung und Strom. «Wichtig ist die grosse Küche, das grosse Bett, die Werkstatt und nicht zu vergessen, meine Bibliothek.» Er habe mehr als 12’000 Bücher gelesen. Von Fachliteratur, über Romane und Krimis. Die Liste ist lang. Veröffentlicht hat er selber nicht viel, einige wissenschaftliche Arbeiten. «Ich lese lieber, als dass ich schreibe.»

Weg vom Kindergefängnis

Kolja Farjon stammt aus einer bildungsnahen Familie, «gebildete Proletarier», wie er sagt. Auch seine zwei Brüder und die Schwester tragen Vornamen von Romanfiguren Dostojewskis. Der Kontakt mit ihnen beschränkt sich auf gelegentliche E-Mails. Seit 40 Jahren hat man sich nicht mehr getroffen. «Ich habe sie doch 18 Jahre lang gesehen, mir reicht das.»

Neben dem Bedürfnis nach Freiheit verbindet Kolja Farjon seine Lebensart auch mit einer «Rache an meine zehnjährige Schulzeit». Kindergefängnis habe er es genannt. «Ich wollte so schnell wie möglich weg von der Schule. Das Leben ist Lehrmeister genug.» Die halbe Welt hat er mittlerweile bereist. Hat monatelang in Australien gearbeitet, zuletzt in Sri Lanka. Wie lange er noch an der Lorze bleibt, lässt Kolja Farjon offen. «Vielleicht gehe ich mal wieder in die Ukraine. Dort fühl ich mich auch wohl.» In den Winter- und Herbstmonaten vielleicht auch nach Südfrankreich. In Biotopia ist es ihm langsam zu kalt. Und noch ist es ja Sommer in Zug.     

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Jerome Oswald
    Jerome Oswald, 25.08.2014, 18:45 Uhr

    Ein Expat der anderen Sorte, hochinteressant. Ich habe mich auch schon gefragt, was es mit diesem alten Postauto auf sich hat. schön, dass auch mal ein mann ausserhalb der norm – vor allem im gepützelten zug, zu wort kommt udn nicht immer nur politiker.

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