Einwanderung

Und es kamen… italienische Fachkräfte

Domenico Tolone hat ein Diplom in Elektronik und Telekommunikation. (Bild: Fabian Duss)

Die Wirtschaftskrise hat manch jungen Italiener nach Luzern gespült. Anders als früher sind die heutigen Immigranten aber keine Hilfsarbeiter, die möglichst viel Geld nach Hause schicken wollen, sondern gut ausgebildete Spezialisten mit beruflichen Ambitionen.

Italien steckt in der Krise. Im Februar betrug die Arbeitslosenquote 11,6 Prozent. Im Mezzogiorno, dem Süden des Landes, lag sie bei 18 Prozent. War 2008 jeder fünfte Jugendliche arbeitslos, hat die Jugendarbeitslosigkeit mittlerweile beinahe die 40-Prozent-Marke erreicht. Im Mezzogiorno hat bereits mehr als die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen keine Arbeit.

Kein Wunder, ergreift manch einer die Flucht. Zum Beispiel der 23-jährige Domenico Tolone aus dem kalabrischen Amaroni. «Es ist enorm schwierig, ja unmöglich, in Kalabrien einen Job zu finden», berichtet er. Seine Freunde seien deshalb alle in die Schweiz, nach England oder Norditalien gezogen. «Wie vor 50 Jahren, als halb Kalabrien ausgewandert ist.»

«Du nimmst, was es gibt»

Der grossgewachsene Mann hat ein Diplom in Elektronik und Telekommunikation und machte auch eine Ausbildung zum Webdesigner. In ganz Italien suchte er nach Arbeit. «Es gibt schon Jobs, aber die sind äusserst prekär. Einmal wurden mir bloss 400 Euro im Monat offeriert», erklärt er. «Zudem stellen dich die Firmen nicht mehr fest, sondern nur noch temporär an.»

Junge Arbeitssuchende werden zudem oft für drei oder sechs Monate als Gratis-Praktikanten verpflichtet, weiss Tolone. «Manche machen das mit, weil sie sich im Anschluss eine Karriere und einen guten Lohn erhoffen. Nach Ablauf des Praktikums werden sie aber entlassen und die Firma sucht sich jemand anders.» Der junge Kalabrese sagt, es sei auch sehr schwierig geworden, auf dem gelernten Beruf zu arbeiten. «Vergiss das! Du nimmst, was es gibt.»

Nun ist Tolone in Luzern gelandet. Es ist der klassische Weg: Zunächst kam er bei seinem Onkel unter. Ein anderer Verwandter vermittelte ihm einen Job als Schaltanlagenmonteur.

Neue italienische Immigration ist spürbar

Bei Fabia, der Luzerner Fachstelle für die Beratung und Integration von Ausländerinnen und Ausländern, spürt man die Zunahme südeuropäischer Arbeitsmigranten. «Es sind eher jüngere Männer mit guter Ausbildung. Oft haben sie bereits Bekannte oder Verwandte hier», berichtet Stellenleiterin Verena Wicki.

Die Zunahme italienischer Arbeitsmigranten lässt sich zwar statistisch nur teilweise belegen. Luzerns italienische Wohnbevölkerung ist konstant. In der Schweiz wächst der italienische Bevölkerungsanteil seit 2009 wieder.

Dem Leiter der kantonalen Industrie- und Gewerbeaufsicht, Peter Schwander, ist indes eine überproportionale Zunahme von Meldungen aus Italien in den letzten fünf Jahren aufgefallen. EU-Bürger benötigen für Arbeitseinsätze unter drei Monaten zwar keine Bewilligung, müssen sich aber bei den Behörden melden. Die Anzahl Meldungen italienischer Arbeitnehmer hat sich von 126 im Jahr 2008 auf mittlerweile 744 versechsfacht.

Uni-Absolventen wollen auswandern

Genaue Gründe für die massive Zunahme kennt Schwander nicht, die Daten lassen sich auch nicht einzelnen Wirtschaftszweigen zuordnen. Schwander sagt aber, man habe im Baunebengewerbe auf Grossbaustellen sowie im Spezialmaschinenbau eine Zunahme von Italienern beobachtet.

Auch Giulio Rossi, Präsident des Luzernischen Komitees für Auslanditalienerinnen und Auslanditaliener («Comitato degli Italiani all’estero»), bestätigt den Trend. Er sei neulich in seiner Heimatstadt Bergamo gewesen. Nach einem Fernsehauftritt hätten ihm mehrere Personen ihre Lebensläufe zugeschickt. «Das ist mir zuvor noch nie passiert», sagt Rossi. Die Auswanderungswilligen seien allesamt Universitätsabsolventen.

Gefragte Fachleute

Das war früher nicht so. Ab den Nachkriegsjahren kamen meist unqualifizierte Italienerinnen und Italiener in die Schweiz, wo sie Niedriglohnjobs verrichteten. «Diese Jobs sind grösstenteils ins Ausland abgewandert», stellt Verena Wicki von Fabia fest. Daher sei der Bildungsanspruch an heutige Migranten viel höher.

Zwei dieser jungen Fachleute sind Mario Pierobon (27) aus Santa Lucia di Piave im Veneto und Carmelo Dimotta (31) aus Matera in der süditalienischen Region Basilicata. Pierobon ist Flugsicherheitsspezialist, Dimotta Telekommunikationsingenieur. Beide sind bei international ausgerichteten Firmen gelandet. Weder Dimotta noch Pierobon haben Verwandte hier, ihr Leben ist stark auf die berufliche Karriere ausgerichtet.

Der Mangel als Chance

Carmelo Dimotta kam bereits 2009 in die Schweiz. Die schlechte Lage auf dem Arbeitsmarkt und das Bedürfnis, im Ausland Erfahrung zu sammeln, bewegten ihn zur Emigration. In Italien gäbe es wenige offene Stellen auf seinem Beruf und diese seien allesamt befristet. «Darauf einzugehen wäre ein Risiko. Festanstellungen gibt es keine.»

Nun arbeitet er als Projektleiter für Fahrgastinformationssysteme in Hergiswil. Am Arbeitsplatz wird Englisch gesprochen. «Das ist gut für meine Erfahrung und ich bilde mich auch weiter», sagt Dimotta. Eine gute Ausbildung sei der Schlüssel zur erfolgreichen Auswanderung, bestätigt auch er. In der Schweiz herrsche ein Mangel an Fachkräften.

Bei Mario Pierobon ist es nicht nur die schlechte Wirtschaftslage in Italien, sondern vor allem auch die berufliche Perspektive, die ihn ins Ausland trieb. Bevor er in die Schweiz kam, arbeitete er ein Jahr lang im kanadischen Montreal.

Im italienischen Flugzeugsektor spiele sein Fachgebiet eine marginale Rolle, daher finde seine Zukunft sowieso eher im Ausland statt, erklärt Pierobon. Trotz der etwas besseren Arbeitslage in Norditalien seien die meisten seiner ehemaligen Kommilitonen ins Ausland gezogen, manche sogar nach China. «Dort sind zwar die Löhne tiefer als in Italien, die Lebenshaltungskosten aber einiges geringer», sagt Pierobon in perfektem Englisch.

Deutsch – und Englisch

Pierobon entschuldigt sich dafür, noch kaum Deutsch zu sprechen. Pierobon kam vergangenen Sommer nach Luzern und wohnt in Littau. Er habe aus beruflichen Gründen zu wenig Zeit, um Deutsch zu lernen. «Allerdings mangelt es mir dadurch etwas an sozialen Kontakten. Es ist mein Fehler: Ich sollte Deutsch lernen und mich besser integrieren», gibt er zu.

Carmelo Dimotta hingegen hat sich schon in Italien etwas Deutsch beigebracht. Er bedauert, dass Schweizer meist auf Schweizerdeutsch beharren, statt ihm gegenüber auf Hochdeutsch zu wechseln. Trotz seiner Offenheit und seines guten Deutschs falle es ihm schwer, Schweizer Freunde zu finden, beklagt er.

Beim 23-jährigen Kalabresen Domenico Tolone wird am Arbeitsplatz vorwiegend Schweizerdeutsch gesprochen, bei der Verständigung sind ihm zwei kalabresische Mitarbeiter behilflich, zudem kommt ihm sein gutes Englisch zugute. «Seit einigen Monaten lerne ich in der Migros-Klubschule Deutsch. Langsam verstehe ich meine Mitarbeiter», berichtet er. Er wolle sich fachlich weiterbilden, das Eintrittsticket dafür sei die Beherrschung der Sprache.

Unterstützung ist nötig

Dank der Hilfe seines Onkels hat Tolone in kurzer Zeit eine Wohnung in Luzern gefunden. «Mein Onkel ist Wirt und hat eine Garantie für mich abgegeben. Alleine wäre es wohl nicht ganz so einfach gegangen», schätzt er.

Carmelo Dimotta hat hier keine Verwandten. Seine Wohnungssuche verlief trotz der Hilfe seines Arbeitgebers harzig. «Die ersten paar Wohnungen kriegte ich trotz anfänglicher mündlicher Zusagen nicht. Den Besitzern missfiel, dass ich Ausländer bin», erzählt Dimotta. Es reichte nicht, dass ihn die Sekretärin seiner Firma begleitete und er einen Arbeitsvertrag vorwies.

Erinnerungen werden wach

Rosaria Pasquariello kommt das bekannt vor. Die 57-jährige Doppelbürgerin erinnert sich an die Probleme ihrer Eltern in den 60er-Jahren. «Ihnen wurde mehrmals die Türe vor der Nase zugeschlagen.» Pasquariello, die als Redaktorin arbeitet, kam als Saisonnier-Kind in die Schweiz. Sie ist in der «Schwarzenbach-Zeit» aufgewachsen, was sie stark geprägt hat.

James Schwarzenbachs «Überfremdungs-Initiative» wurde 1970 in der Schweiz zwar knapp abgelehnt, fand in den Zentralschweizer Kantonen aber eine Mehrheit. Insbesondere Süditalienerinnen und Süditaliener wurden im Vorfeld «zur Gefahr für die schweizerische Kultur» hochstilisiert, den Betroffenen wehte ein offen rassistischer Wind entgegen. «Wenn ich mit der Mutter in der Stadt zum Einkaufen war, wurden wir oft komisch angeschaut und lange nicht bedient», erinnert sich die Krienserin.

Alles einfacher als früher

Heute hätten es italienische Immigranten viel einfacher, sagt Pasquariello. «Sie profitieren von der Vorarbeit früherer italienischer Einwanderer.» Das bestätigt auch der Vertreter des Auslanditaliener-Komitees, Giulio Rossi: «Die Vorurteile von früher, etwa dass Italiener stehlen und gleich das Messer zücken, sind längst verschwunden.»

«Diesen Februar habe ich die Goldene Hochzeit mit Frau Helvetia gefeiert», sagt Rossi lachend. Als er 1963 in die Schweiz kam, plante er bloss zwei Jahre hier zu bleiben. Bei den drei jungen italienischen Gesprächspartnern ist das anders: Sie haben sich von Anfang an auf einen langen Aufenthalt in der Schweiz eingestellt. Domenico Tolone etwa sagt, er gehe erst nach Italien zurück, wenn sich die Situation dort verbessere – «also kaum in absehbarer Zeit».

Carmelo Dimotta pflichtet ihm bei. Nur so beiläufig schaue er ab und zu auf den italienischen Stellenmarkt. Für eine Rückkehr in seine Heimat müsste sich sehr viel ändern: «Nicht nur die politische Situation, sondern konkrete Arbeitsbedingungen: Verträge, Löhne, Sicherheiten und Karrieremöglichkeiten.»

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